Wir ärgern uns über die Bürokratie und fordern sie doch

by Dirk Elsner on 26. Juli 2013

Zwei Mal innerhalb von drei Wochen war ich durch ungewöhnliche bürokratische Gründe von Verspätungen betroffen. Auf einem Flug von London Heathrow nach Hamburg mussten wir die Maschine wechseln, weil in dem Flugzeug das 2. Exemplar eines bestimmten Handbuchs fehlte und in Hamm (Westfalen) durfte ein ICE nach dem Ankoppeln nicht starten, weil dem Logführer ein bestimmter schriftlicher Befehl fehlte. In beiden Fälle gab es keine technischen Gründe für die Verzögerungen.

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Flug BA966 am vergangenen Samstag (Quelle: Flight Aware)

Beim Flug BA966 saßen wir mit allen Passagieren pünktlich im Airbus 319. Wie üblich ging die Mannschaft im Cockpit eine Checkliste durch, mit der die Flugtauglichkeit und sicherheit geprüft wird. Das ist beruhigend. Jedenfalls verzögerte sich der Start immer weiter bis der Pilot heraus kam und uns darüber informierte, dass er nicht starten könne, weil das zweite Exemplar eines bestimmten Handbuchs fehle. Er zeigt uns das vorhandene Exemplar des Handbuchs und sagte uns in bemerkenswerter Offenheit, dass nach den Vorschriften davon zwei an Bord vorhanden sein müssten, andernfalls dürfe er mit diesem Flugzeug nicht starten. Und so kam es dann auch. Weil kein zweites Exemplar auffindbar war oder aufgetrieben werden konnte, durften wir alle in eine neue Maschine umsteigen. Am Ende waren wir zwei Stunden später in Hamburg.

Ich kenne mich nicht aus in der Luftfahrt, vermute aber, dass Vorschriften und Checklisten in der Luftfahrt nach jedem Vorfall überprüft und ggf. erweitert werden. So ist es letztlich mit der Bürokratie in jedem Wirtschaftszweig. Wenn es in der Luftfahrt so zu geht wie im Finanzwesen, dann werden Checklisten, Audits und andere Prüfungen ständig erweitert und nur ganz selten verkürzt.

Und oft genug machen wir uns das Wirtschaftsleben selbst schwer durch die ständige Erweiterung der Vorschriften und Prüfungszyklen.  Allerdings sind wir nicht schuldlos daran. Nach jedem Vorfall, jedem Skandal, jedem persönlichen Missbrauch fordert die Öffentlichkeit und mit ihr die Politik eine Untersuchung und eine Verschärfung der Vorschriften. Und natürlich müssen die Verantwortlichen gefunden und bestraft werden.

Zum politischen Ritual großer Skandale gehört die Anpassung der Rechtsvorschriften. Und üblicherweise werden diese verschärft. Das führt etwa zum Beispiel dazu, dass man als Unternehmen, wenn man eine Veranstaltung für und mit Kunden plant, nicht zunächst eine Eventagentur beauftragt, sondern erst einmal seinen Anwalt, weil man bei der Einladung von Kunden für und zu größeren Veranstaltungen viel falsche machen kann (siehe dazu denn Leitfaden Hospitality und Strafrecht). Der Arbeitskreis Corporate Compliance hat einen 45-seitigen Kodex herausgegeben zur Abgrenzung von legaler Kundenpflege und Korruption. Mit solchen Leidfäden und Kodizes wollen Unternehmen und Geschäftsleitung vermeiden, irgendetwas falsch zu machen und dafür persönlich belangt zu werden.

Wenn man heute in Banken neue Produkte oder Prozesse einführen möchte, dann kommt es in erster Linie nicht darauf an, ob sie für das Unternehmen und die Kunden nützlich sind, sondern ob sie “compliant” sind. Auch in meiner Ausbildungszeit gehörte es zum Standard, nur Produkte und Leistungen im Einklang mit den gesetzlichen Vorschriften anzubieten. Nur das war früher deutlich einfacher, weil die Vorschriften übersichtlich und schnell vermittelbar waren. Das hat sich geändert. Diverse Finanzkrisen und –skandale später haben sich die gesetzlichen Vorgaben für Finanzgeschäfte vervielfacht. Heute haben viele Unternehmen und Banken neben einer Rechtsabteilung und einer Revision eine Compliance-Abteilung, die über die Einhaltung der Vorschriften wacht.

Und was machen wir? Wir wundern und ärgern uns über die Bürokratie. Wir wundern uns darüber, dass immer weniger Menschen ein Unternehmen gründen wollen und vermuten mangelnden Mut dahinter. Angesichts der Vorschriftenflut ist es ein Wunder, dass überhaupt Menschen ein Unternehmen gründen, denn bei zigtausend Rechtsvorschriften stehen für ein Unternehmen Verantwortliche ständig mit einem Bein im Knast oder setzen sich Sanktionen oder zivilrechtlichen Forderungen aus.  Versuche von Regierungen, die Bürokratie einzudämmen versanden dagegen meist im politischen Nirwana (so auch die der Merkel-Administration).

Aber so viel wir uns auch in der eigenen Wirtschaftspraxis ärgern über die Bürokratie. Spätestens mit dem nächsten Skandal, dem nächsten Unglück werden wir Zeuge der Forderung nach neuen und vor allem strengen Vorschriften, damit “so etwas nicht noch einmal passieren kann”.


Hintergrund: Studien zum Bürokratieabau

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