Co-Autor: Prof. Dr. Ekaterina Svetlova
Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Verwirrung sowohl von private oder auch von professionellen Anlegern haben Risikomaße gespielt, auf die sie sich verlassen hatten, die dann aber entstehende Verlustpotenziale nicht oder falsch angezeigt haben. Insbesondere die Popularität von scheinbar mathematisch präzisen Risikokennzahlen schuf eine Scheinsicherheit, die in der Vergangenheit zu vielen Fehlentscheidungen bei Investitionen führte.
Die Verfahren der Risikomessung haben insbesondere mit der Entwicklung der Modern Portfolio Theory einen deutlichen Aufschwung genommen. Besonders populär wurde ihr Risiko-Verständnis in Hinblick auf Abweichungen von einer Zielrendite. Da die Modern Portfolio Theory in ihren Modellen unterstellte, dass Renditen in Form einer Gausschen Glockenkurve normal verteilt sind, ist dann Risiko ganz einfach abzuleiten: Bei statistischen Verteilungen gibt es das Streuungsmaß der Varianz. Die Quadratwurzel hiervon wird als die Standardabweichung bezeichnet, die auch Volatilität genannt wird. Hiermit bekommt man ein einheitliches Maß, um das Ausmaß der Abweichungen vom Mittelwert der Renditen zu messen.
Und so gibt es, wenn die Renditen einer Finanzanlage normal verteilt sind, mit der Volatilität ein aussagekräftiges Risikomaß. Je stärker die Kurse schwanken, um so höher ist sie. Sie sagt allerdings nichts über das Risiko eines Wertverlustes aus, was dann später mit dem Value at Risk korrigiert werden sollte. Auch wenn die Renditen nicht normal verteilt sind, kann die Volatilität sehr irreführend sein.
Mit dem sogenannten Capital-Asset-Pricing-Model (CAPM) wurde die Modern Portfolio Theory in Hinblick auf den Portfoliogedanken weiterentwickelt und das sogenannte β als Risikomaß eingeführt. Hierbei handelt es sich um die relativen Kursschwankungen eines Wertpapiers zum Gesamtmarkt, meist gemessen durch einen repräsentativen Gesamtindex.
Eine Aktie mit einem β > 1 schwankt stärker als der Gesamtmarkt, ist demnach riskanter. Ein β =1 bedeutet Schwankungen im Rahmen des Gesamtmarktes, ein β <1 unterdurchschnittliche Schwankungen und damit vermindertes Risiko.
Auf Basis der Modern Portfolio Theory wurden noch eine Reihe von weiteren mathematischen Kennziffern entwickelt, um die mit Kapitalanlagen verbundenen Risiken darzustellen. Sehr populär ist beispielsweise die sogenannte Sharpe Ratio geworden, die Rendite und Risiko einer Kapitalanlage miteinander in Verbindung setzt. Sie berechnet sich relativ einfach dadurch, dass man die Überschussrendite einer Kapitalanlage (Rendite minus risikofreier Zins) durch die Volatilität teilt.
Aber Kennzahlen wie Volatilität, β oder Sharpe Ratio haben ihre Tücken. Wie schon im vergangenen Abschnitt dargestellt, lassen sie sich für verschiedene Kapitalanlagen überhaupt nicht bestimmen. Darüber hinaus können sie sich selbst für ein Anlageinstrument teilweise ganz erheblich unterscheiden, je nachdem, für welchen Zeitraum man sie berechnet. Insbesondere bei Fonds sind diese Kennzahlen problematisch, wie sich am Beispiel des 1998 zusammengebrochenen Hedge Fonds LTCM zeigen lässt: Er hatte bis kurz vor seinem Kollaps eine extrem niedrige Volatilität und damit auch eine sehr gute Sharpe Ratio.
Kursverlauf LTCM im Vergleich mit Dow Jones 30 und Zinsen US-Staatsanleihen (Quelle: Jay Henry, Wikipedia)
Allerdings lassen gerade Volatilität oder β manchmal zumindest Aussagen über relative Risikoab-stufungen zu: So sind manche Gruppen von einzelnen Wertpapieren relativ zuverlässig volatiler als andere, auch wenn sich die absoluten Größen jeweils ändern. Auch können sie durchaus für eine nachträgliche Risikoanalyse aussagekräftig sein, selbst wenn ihr prognostischer Einsatz durch die Instabilität fragwürdig ist.
Mit Value at Risk (VaR) hat ein Risikomaß in den letzten Jahren an Popularität gewonnen, das angibt, welchen Wert der Verlust einer bestimmten Risikoposition (z. B. eines Portfolios von Wertpapieren) mit einer gegebenen Wahrscheinlichkeit innerhalb eines gegebenen Zeithorizonts nicht überschreitet. Mit ihm wird das Risiko eines Portfolios in einer entscheidungsrelevanten Kennzahl zusammengefasst. Damit schien VaR eine Komplexitätsreduktion des Risikothemas zu ermöglichen. Gerade Manager oder Treuhänder, die nicht täglich an den Kapitalmärkten aktiv waren, glaubten hiermit ein Instrument an der Hand zu haben, mit dem Risiken aus Kapitalanlagen schnell überschaut werden konnten.
Während allerdings Konzepte wie die Volatilität und die Sharpe Ratio meist für mathematisch vorgebildete Nutzer noch einigermaßen verständlich sind, geben bei Value at Risk selbst viele Experten hinter vorgehaltener Hand zu, dass sie nicht wirklich wissen, wie es berechnet wird.
Zudem lassen sich bei Value at Risk auch die Ergebnisse durch Veränderungen der Annahmen erheblich beeinflussen. Kritische Kommentatoren haben deshalb schon des Öfteren den Verdacht geäußert, dass die Popularität des VaR-Modells vor allem auf seiner Biegsamkeit basiert. Ein geschickter Mathematiker kann mit ihm ein Ergebnis ausrechnen, das er schon von vornherein will.
Trotz der schweren Verständlichkeit der Berechnung und einer fragwürdigen mathematischen Methodik wurde und wird VaR unverdrossen angewandt. Die Probleme waren zwar schon von Anfang an einigen mathematisch versierten Spezialisten aufgefallen, sie wurden jedoch als Querulanten eingestuft und ignoriert. Erst als mit der Finanzkrise einige Mängel offensichtlich wurden, wurde allgemein über Verbesserungen von VaR nachgedacht. Inzwischen finden die modifizierten Varianten Conditional Value at Risk (CVaR, wird auch oft als Expected Shortfall (ES) bzw. Expected Tail Loss (ETL) bezeichnet) und Modified Value at Risk (MVaR) zunehmend Verbreitung.
Diese Verbesserungen stellen vor allem auf die sogenannten Fat Tail Risiken ab, deren Bedeutung Nassim N. Taleb in seinem berühmten Buch „Der schwarze Schwan“ eingehend erörtert hat: Es gibt Schadensereignisse, die zwar sehr selten eintreten, aber wenn sie eintreten, katastrophale Konsequenzen haben: Terroranschläge, Kernkraftwerksunfälle, Meteoriteneinschläge oder auch Großbankpleiten. Tatsächlich scheint der Conditional Value at Risk bisher die einzige Risikokennzahl zu sein, die solchen Ereignissen Rechnung trägt. Das grundsätzliche Problem, dass Situationen der Ungewissheit und insbesondere der radikalen Unsicherheit von einem solchen Risikomaß nicht beschrieben werden können, bleibt aber bestehen. Insofern scheint das nächste Desaster vorprogrammiert: Die Verbesserungen in der Berechnungsweise könnten wieder dazu verleiten, jetzt den CVaR für Situationen radikaler Unsicherheit zu verwenden und damit den Fehler zu wiederholen, durch Zweckentfremdung des Ansatzes scheinbar mathematisch exakte Zahlen für nicht messbare Sachverhalte zu produzieren.
Eine weitere problematische Schlüsselkennzahl bei der Modern Portfolio Theory ist der sog. Korrelationskoeffizient. Er drückt aus, inwieweit die Kursverläufe unterschiedlicher Anlageformen miteinander zusammenhängen. Je niedriger dieser Korrelationskoeffizient ist, um so höher ist die Risikominderung, die man durch Streuung der Anlagen erzielen kann.
Allerdings setzt die eine bewusste Verminderung der Risiken durch breite Streuung voraus, dass die bekannten Korrelationskoeffizienten einigermaßen stabil sind. Genau diese Eigenschaft haben sie aber vielfach nicht. Sie können sich im Zeitablauf sehr stark ändern und sogar ins Gegenteil verkehren.
So hat Jeremy Siegel in seinem Buch „Stocks for the Long Run“ gezeigt, dass es in den vergangenen Jahrzehnten in den USA sowohl Perioden gegeben hat, in den Aktien und Renten positiv korreliert waren, negativ korreliert waren oder sich überhaupt keine signifikante Korrelation berechnen ließ. Ob und wie stark die Korrelation war, hing entscheidend vom jeweiligen makroökonomischen Umfeld ab.
In den vergangenen Jahren ist bei institutionellen Investoren populär geworden, Portfolios einen Anteil von 5%-10% an Rohstoffen beizumischen. Hauptargument hierfür war die geringe Korrelation zwischen Rohstoffindizes und Aktienindizes. Allerdings lässt sich auch für Rohstoffe und US-Aktien zeigen, dass die Korrelationskoeffizienten in den letzten 50 Jahren in verschiedenen Zeiträumen zwischen -0,68 und 0,91 geschwankt haben.
Die einzige Schlussfolgerung, die sich ziehen lässt, ist, dass die Korrelation zwischen den großen Anlageklassen Aktien, Renten oder Rohstoffen vor allem von ökonomischen oder strukturellen Umständen abhängen, die sich jedoch stark ändern können. Ohne eingehende Analyse der fundamentalen Bestimmungsgründe von Korrelationen scheint der Rückgriff auf sie extrem naiv. Dennoch ist gerade dies gängige Praxis bei vielen großen Anlagemanagern.
Die Reihe: „Die große Risikoverwirrung“ basiert auf einer Artiklelserie, die in „Mit ruhiger Hand“ zwischen Mai und Juli 2013 erschienen ist. Sie wurde für „blicklog“ noch einmal überarbeitet. Die Orginaltexte stehen in einer Sonderausgabe als Download zur Verfügung. Zu diesem Thema haben beide Autoren auch in der Reihe „Karlsdialoge“ ein Gespräch mit Patrick Breitenbach geführt, das als Podcast zum Download zur Verfügung steht.
Die vorherige Folge mit dem Thema: “Die Konfusion in der Theorie: Risiko oder Unsicherheit?” erschien am 7.8.2013 in blickog.com.
Quellen:
Zu LTCM vgl. “When Genuis failed” von Roger Lowenstein, Random House New York, 2000. Zum Thema Value at Risk vgl. Pablo Tirana (2010): “VaR: The number that killed us” (http://www.futuresmag.com/2010/12/01/var-the-number-that-killed-us); Beate Reszat (2012): “Value at Risk – the construct” (http://reszatonline.wordpress.com/2012/05/26/value-at-risk-the-construct/) sowie Rainer Baule und Christian Tallau: “Expected Shortfall statt Value-at-Risk”, RISIKO MANAGER 24/2012. Zum Thema Extremrisiken und ihre Konsequenzen an den Finanzmärkten vgl. Nassim Taleb: Der schwarze Schwan, 4. dt. Auflage München 2012.
Zu Korrelationskoeffizienten vgl.: Jeremy J. Siegel: „stocks for the Long Run“, Mc Graw Hill, New York, 4. Aufl. 2008; sowie: The Business Cycle and the Correlation between Stocks and Commodities” von Geetesh Bhardwaj and Adam Dunsby, SummerHaven Investment Management, (http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2005788).
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