Die Große Risikoverwirrung Teil 2: Die Konfusion in der Theorie: Risiko oder Unsicherheit?

by Karl-Heinz Thielmann on 7. August 2013

Co-Autor: Prof. Dr. Ekaterina Svetlova

Was ist eigentlich Risiko? Schon allein diese einfache Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Das Wort leitet sich von dem frühitalienischen „risicare“ ab, was „wagen“ bedeutet hat. In der heute gebräuchlichen Verwendung stellt man jedoch nicht mehr auf das Wagnis an sich und auch auf mögliche Gewinne hieraus ab. Der heutige Risikobegriff bezieht sich hingegen darauf, was beim Eingehen des Wagnisses schief gehen kann, auf die potenziellen Verluste.

Eng mit dem Risikobegriff ist aber nicht nur die Frage verbunden, ob sich die Möglichkeit eines Verlustes ergibt, sondern insbesondere damit, inwieweit sich eine Wahrscheinlichkeit dieser Möglichkeit in irgendeiner Form einschätzen lässt. Die Beschäftigung mit dieser Frage ist eng mit der Entwicklung der modernen Mathematik und Statistik verknüpft. Insbesondere von Interesse war dabei für die frühen Forscher, Aussagen über mögliche Resultate von Glücksspielen zumachen.

Als Vater der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Risiko gilt der Franziskaner Luca Pacioli mit seinem 1494 erschienenem Buch „Summa de arithmetica, geometria, proportioni et proportionalità“, in dem das erste Mal eine systematische Auseinandersetzung mit der Verteilung von Glücksspielergebnissen erfolgte.

1689 formulierte Jakob Bernoulli erstmals „Gesetz der großen Zahlen“ und damit quasi die grundlegende Aussage der modernen Statistik: Er propagierte, dass sich die relative Häufigkeit eines Zufallsergebnisses in der Regel der Wahrscheinlichkeit dieses Zufallsergebnisses annähert, wenn das zugrunde liegende Zufallsexperiment immer wieder unter denselben Voraussetzungen durchgeführt wird. Wenn genügend Versuche durchgeführt werden, häufen sich die Ergebnisse irgendwann um einen Mittelwert, den Erwartungswert. Eine Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Ereignis eintritt, lässt sich dann bestimmen, und damit auch das Risiko.

1921 veröffentlichte Frank Knight sein Buch „Risk, Uncertainty and Profit“, in dem er eine für das Risikoverständnis wichtige Unterscheidung vornahm: diejenige zwischen Risiko und Unsicherheit.

Nach Knight ist Risiko dadurch definiert, dass sich bei ihm dem Eintritt eines Ereignisses eine Wahrscheinlichkeit zuordnen lässt. Bei Unsicherheit hingegen ist völlig unklar, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist. Sie ist deshalb mathematisch nicht fassbar und auch nicht mit einer Zahl zu beschreiben.

John Maynard Keynes stellte 1937 am Beispiel einer Untersuchung von Kupferpreisen und Zinssätzen fest, dass es keine wissenschaftliche Grundlage gibt, auf der sich mathematische Wahrscheinlichkeiten für ökonomische Ereignisse berechnen lassen. Daraus resultierte bei ihm eine konsequente Ablehnung des Gesetzes der großen Zahlen für volkswirtschaftliche Zusammenhänge.

Keynes Gedanken bildeten auch die Grundlage für spätere Überlegungen, die Knightsche Unsicherheit noch weiter aufzuspalten in:

• Ungewissheit: Dies ist eine Situation, in der man zwar weiß, was passieren kann, aber den möglichen Ereignissen keine Wahrscheinlichkeiten zuordnen kann.

• Radikale Unsicherheit: Dies ist eine Situation, in der man nicht nur die Wahrscheinlichkeiten nicht kennt, sondern nicht einmal weiß, was überhaupt passieren kann.

Die Position von Keynes, dass in die Zukunft gerichtete Entscheidungen grundsätzlich mit Unsicherheit behaftet sind, war aber für viele andere Ökonomen unbefriedigend, insbesondere wenn sie das Paradigma rationaler Entscheidungsfindung unterstellten: Für rationale Investitionsentscheidungen muss eine Abschätzung von Verlustpotenzialen möglich sein. Wenn man sich mit der Position radikaler Unsicherheit zufriedengibt, scheint grundsätzlich keine Aussage über irgendetwas mehr möglich.

Insofern ist verständlich, dass Ökonomen und Statistiker trotzdem nach ökonomischen Risikomaßen und Regeln im Umgang mit Unsicherheit und Risiko gesucht haben. Aber auch der Vergleich mit den Naturwissenschaften spornte die Ökonomen an. Die Gesetzmäßigkeiten bei vielen Naturereignissen führen zu relativ gleichmäßigen Wahrscheinlichkeitsverteilungen und damit auch zu klaren Risikoaussagen. Im Gegensatz dazu fühlten sich gerade Ökonomen mit ihren unpräzisen Aussagen fast wie Pseudowissenschaftler. Und gerade im Umgang mit Risiko und Unsicherheit wurde die Unschärfe der Ökonomie besonders deutlich.

Anfang der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts entwickelten sich daher zwei neue Herangehensweisen an das Thema Risiko: Das allgemein ökonomische Konzept der subjektiven Wahrscheinlichkeiten und das finanzmarktbezogene Konzept der Modern Portfolio Theory.

1954 hatte Leonard J. Savage das Konzept der Entscheidungsfindung unter Risiko eingeführt, das auf „subjektiven Wahrscheinlichkeiten“ basiert ist. Er unterstellte, dass ökonomische Entscheidungen immer auf Wahrscheinlichkeitsannahmen beruhen. Wenn keine objektiven Zahlen vorlägen, kann man subjektive annehmen, auch wenn es relativ fragwürdig sein mag, wie man zu den Zahlenwerten im Einzelnen kommt.

Einen anderen Weg schlug Markowitz ein, als er mit einem 1952 erschienenen Aufsatz die moderne Portfoliotheorie begründete. Mit ihr stellte er folgende folgenschwere Behauptungen auf:

• Das Risiko von Wertpapieren kann durch Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Renditen beschrieben werden.
• Risiko steht in einem quantifizierbaren Zusammenhang mit Ertrag.
• Die Risiko-Gesamtbetrachtung von mehreren Wertpapieren erfordert eine andere Herangehensweise als diejenige von einzelnen Wertpapieren.
• Insbesondere die Interdependenzen zwischen den Risiken der einzelnen Wertpapiere spielen eine große Rolle bei der Portfoliokonstruktion. Durch Kombination von Wertpapieren mit unabhängigen Risiken kann man das Gesamtrisiko sehr stark mindern.

Vor allem die letzten beiden Aussagen wurden zum relativ unbestrittenen Mantra der Konstruktion von Portfolios und bilden die theoretische Grundlage der sogenannten Risikostreuung bzw. Diversifikation.

Die zweite Aussage wird oft in der Weise verstanden, dass mit steigendem Risiko auch die erwartete Rendite steigen sollte. Dies hat sich jedoch in dieser einfachen Form als zu simpel erwiesen. Gerade im Bereich hoher Risiken hat sich oft herausgestellt, dass steigende Risiken tendenziell eher mit sinkenden Erträgen verknüpft sind.

1973 wurde die sog. Black Scholes Formel zur Optionspreisbewertung vorgestellt. Sie war insofern revolutionär, weil sie es ermöglichte, Risiken aus Preisschwankungen von Wertpapieren nicht nur zu messen, sondern auch mit einem Preis, also mit einem Marktwert zu versehen. Dies schafft die Voraussetzungen, um Risiken auf einem Markt handeln zu können. Zwar wurden auch schon vor Black Scholes Risiken in Form von Futures und Optionen gehandelt. Mit Futures kann man sich aber nur absichern, wenn man gleichzeitig die Kurschance aufgibt. Optionen waren vorher unpopulär, weil keiner wusste, wie sie wirklich zu bewerten waren. Die Black Scholes Formel schien jetzt eine objektive Bewertungsmöglichkeit zu schaffen.

1987 setzte ein Crash an der Wall Street bei mehreren Investmentbanken die Entwicklung eines Risikomaßes in Gang, das sich dann innerhalb weniger Jahre in der ganzen Finanzbranche als Standardmaß der Risikobewertung durchsetzen sollte: der sogenannte „Value-at-Risk“ (VaR). Mit ihm wird angegeben, welchen Wert der Verlust einer bestimmten Risikoposition mit einer gegebenen Wahrscheinlichkeit innerhalb eines gegebenen Zeithorizonts nicht überschreitet. Der VaR dient nur der Messung potenzieller Verluste und schien damit besonders geeignet, die Auswirkungen von Extremereignissen, wie z. B. einem Börsencrash abzubilden.

Dies führte in den Folgejahren dazu, dass sich VaR vor allem auch bei Finanzaufsichtsbehörden großer Beliebtheit erfreute und zur Risikomessung akzeptiert, eingesetzt und teilweise sogar vorgeschrieben wurde.

Modern Portfolio Theory, Black Scholes und Value at Risk haben eines gemeinsam: Sie versuchen das in Zahlen zu fassen, was laut Keynes nicht in Zahlen zu fassen ist. Letztlich wird damit aber mit dem Umweg über Wahrscheinlichkeitsverteilungen das Gesetz der großen Zahl wiedereingeführt, das aber für komplexe Zusammenhänge nicht gelten kann, wenn man der Logik von Keynes folgt. Inwieweit dies zu Missverständnissen und Problemen führt, wird in dem nächsten Beitrag genauer beschrieben.

Weiterhin ist festzuhalten, dass mit diesen Risikomaßen vor allem die Auswirkungen von Kursschwankungen bewertet werden, alle anderen Risiken aber nicht. So werden Liquiditäts-, Inflations- oder längerfristige Ausfallrisiken ignoriert. Weiterhin sind die Kursschwankungen von Kapitalanlagen relativ stark davon abhängig, wie der Markt für sie organisiert ist. So bietet die Modern Portfolio Theory nur ein Risikomaß für Anlagen in liquiden Märkten wie Börsen. Nicht liquide Anlagen können nicht im Kurs schwanken, weil schlicht und einfach kein regelmäßiger Preis ermittelt wird. Auch schwanken nur selten gehandelte Wertpapiere weniger stark als oft gehandelte. Aber deswegen sind sie nicht weniger riskant, ganz im Gegenteil.

Daher ist wichtig festzuhalten, dass sich nur Teilrisiken von relativ transparenten und viel gehandelten Anlageformen wie Aktien und Renten mit Kennzahlen wie Volatilität oder Value at Risk beschreiben lassen; die Risiken von anderen intransparenten und illiquiden Anlageformen wie Immobilien oder Private Equity aber überhaupt nicht. Dies hat bei einigen Investoren zu einer merkwürdigen Verzerrung und Verengung in der Wahrnehmung von Risiken geführt: So werden relativ liquide Anlagen, deren Risiken zumindest teilweise mit Kennzahlen messbar sind, oftmals als risikoreicher empfunden als andere intransparente Anlagen, deren Risiken sich nicht mit scheinbar präzisen Kennzahlen beschreiben lassen.

Die Reihe: „Die große Risikoverwirrung“ basiert auf einer Artiklelserie, die in „Mit ruhiger Hand“ zwischen Mai und Juli 2013 erschienen ist. Sie wurde für „blicklog“ noch einmal überarbeitet. Die Orginaltexte stehen in einer Sonderausgabe als Download zur Verfügung.

Die vorherige Folge mit dem Thema: „Was ist eigentlich Risiko?“ erschien am 31.7.2013 in blickog.com.

Quellen: Das Standardwerk zur Entwicklung des Risikobegriffs ist Peter L. Bernstein: „Against the Gods“, Wiley, New York 1996. Zu Savage vgl. “RISK, AMBIGUITY, AND THE SAVAGE AXIOMS” von David Ellsberg, The Quarterly Journal of Economics (1961) 75 (4): 643-669 (http://qje.oxfordjournals.org/content/75/4/643.full.pdf+html).

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