Ökonomische Prognosen – Voodoo oder Wissenschaft? – Teil 1

by Karl-Heinz Thielmann on 8. Januar 2014

Der Ausdruck „Prognose“ basiert auf dem griechischen πρóγνωσις (prognosis ‚Vorwissen‘ oder ‚Voraus-Kenntnis‘) und bedeutet auf Deutsch Vorhersage oder Voraussage. Sie ist eine Aussage über Ereignisse, Zustände oder Entwicklungen in der Zukunft. Von anderen Aussagen über die Zukunft wie z. B. einer Prophezeiung unterscheidet sich die Prognose durch ihre Wissenschaftsorientierung.

Wirtschaftsprognosen werden entweder von Ökonomen vorgenommen und beziehen sich auf Makrogrößen wie das Bruttoinlandsprodukt, die Inflation oder das Bevölkerungswachstum. Oder Finanzanalysten geben Vorhersagen über Unternehmensentwicklungen ab, die in Umsatz- und Gewinnschätzungen zum Ausdruck kommen. Prognosen können sich aber auch auf die Entwicklung von Marktpreisen beziehen wie z. B. Kursziele von Aktien, Indizes, Währungen oder Zinsen. Diese sind grundsätzlich sehr problematisch, weil sie nicht nur die Vorwegnahme wirtschaftlicher Ereignisse erfordern, sondern auch die Vorhersage der Reaktion von Markteilnehmern hierauf bedingen.

„Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“ lautet ein beliebtes Zitat, das vom dänischen Physiker Niels Bohr stammen soll (es wird allerdings auch Mark Twain, Winston Churchill oder Kurt Tucholsky zugeschrieben). Es drückt aus, dass es eigentlich unmöglich ist, die Zukunft vorherzusagen, eben weil sie unbestimmt ist und wir das Neue noch nicht kennen können. Daher besteht vielfach eine grundlegende Skepsis gegenüber Prognosen. Diese wird gerade bei ökonomischen Vorhersagen dadurch bestärkt, dass sich viele im Nachhinein als völlig falsch herausstellen.

Dennoch sind Prognosen als Grundlage jeder Kapitalanlage unverzichtbar. Nur wenn zukünftige Ertragsmöglichkeiten und Risiken realistisch eingeschätzt werden können, ist es möglich, die Attraktivität eines Investments zu bewerten. Jede Kapitalanlage ist eine Wette auf die Zukunft und impliziert damit ebenfalls eine Vorhersage, selbst wenn sie nicht explizit ausgedrückt wird. Deswegen ist eine der jüngsten Moden am Kapitalmarkt, sogenannte „prognosefreie“ Ansätze für Anlageentscheidungen zu verwenden, blanker Etikettenschwindel. Das Ignorieren der Notwendigkeit von Vorhersagen hilft nicht, die hiermit vorhandenen Probleme zu lösen, ganz im Gegenteil.

Scheinbar unmöglich, aber unverzichtbar. So kann man die grundlegende Problematik bei Prognosen zusammenfassen. Doch ist dieses Bild zutreffend? Wenn viele Fehler gemacht werden, heißt dies zunächst einmal nicht, dass Vorhersagen grundsätzlich unmöglich sind, sondern nur, dass sie möglicherweise dilettantisch durchgeführt oder falsch eingesetzt werden.

Insbesondere schwierig ist es in der Praxis, echte Prognosen von Prophezeiungen zu unterscheiden, die nur wissenschaftlich „verpackt“ sind. Aus der Art und Weise, wie Prognosen präsentiert werden, kann man zunächst noch nicht schließen, wie sie zustande kamen: Sind sie wirklich wissenschaftlich vorgenommen worden? Oder handelt es sich nur eine vorgebliche Wissenschaftlichkeit, die wie Voodoo-Zauber eine reine Inszenierung ist, um zu überdecken, dass sie keine Substanz haben?

Nicht nur in der Ökonomie werden regelmäßig Prognosen abgegeben. Allerdings sind Vorhersagen in anderen Bereichen inzwischen viel treffsicherer. Insbesondere in der Meinungsforschung oder Meteorologie sind erheblich genauere Vorhersagen üblich. Meiner Ansicht nach haben die Ökonomen und Analysten im Vergleich mit anderen Gruppen von Prognostikern vor allem aufgrund von zwei Gründen besondere Probleme, zutreffende Vorhersagen zu machen:

1) Es gibt spezifische methodische Schwierigkeiten, die folgende Ursachen haben:
a) die Qualität der eingehenden Annahmen und Daten;
b) inwieweit ein möglicher Schätzfehler in die Prognose einbezogen wird;
c) der Zeithorizont, auf den sich die Prognose bezieht.

2) Die Entstehung ökonomischer Prognosen in ihrem sozialen Kontext führt zu systematischen Verzerrungen und zu ihrer Instrumentalisierung. Erklärungen hierfür sind:
a) dass der Prognostiker voreingenommen ist;
b) Prognosen werden für bestimmte Zielgruppen und zu spezifischen Zwecken gemacht;
c) das Ergebnis wird durch die Prognose selbst beeinflusst.

Im heutigen Beitrag werden die methodischen Probleme genauer erläutert. In der Fortsetzung in zwei Tagen wird auf den sozialen Kontext der Prognosen eingegangen sowie ein Fazit gezogen, ob ökonomische Prognosen mehr mit einer Voodoo Show oder mit Wissenschaft zu tun haben.

Die merkwürdigen Methoden der ökonomischen Prognosen

a) „Garbage in, Garbage out“

Wenn Prognosen auf der Basis von Datenanalysen ermittelt werden, ist die Qualität der eingehenden Daten ein entscheidendes Problem. Selbst das ausgefeilteste Prognosemodel nützt nichts, wenn die Qualität der eingehenden Informationen ungenügend ist. Mit „Garbage in, Garbage out“ (Müll rein, Müll raus) umschreiben Statistiker gerne dieses Phänomen.

Die Datenqualität ist bei Wirtschaftsprognosen insbesondere im Fall von Makroprognosen – also Voraussagen über Sozialprodukt, Arbeitslosigkeit, Außenhandelsstatistik und Inflation – ein großes Problem. Bei manchen Größen liegen zuverlässige Daten erst Monate nach ihrer Erhebung vor. Erste Schätzungen mussten insbesondere in Situationen, in denen sich der ökonomische Trend gedreht hatte, nachträglich oftmals dramatisch revidiert werden. Anfang 2008 befand sich z. B. die US-Wirtschaft bereits in einem deutlichen Abschwung, wie revidierte Daten später zeigten. Dem waren sich die meisten Ökonomen zu diesem Zeitpunkt aber nicht bewusst und stützten ihre Vorhersagen auf falsche Ausgangsinformationen. Sie kamen somit zu viel zu optimistischen Prognosen.

Die Korrektheit der Ausgangsdaten ist nicht nur für Makroökonomen, sondern auch für Unternehmensanalysten eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit. Allerdings ist für Analysten weniger die Aktualität als die Objektivität der Daten problematisch. Denn sie sind bei ihren Ertragsschätzungen sehr auf Angaben des Managements des analysierten Unternehmens angewiesen. Diese sind jedoch immer aufgrund der Interessenlage der Firma manipuliert. Probleme ergeben sich insbesondere dann, wenn bei Analysten unrealistische Wachstumserwartungen geweckt werden, die zu überoptimistischen Prognosen führen.

Doch nicht nur die Qualität der Daten, ebenfalls ihre Menge kann ein Problem werden. Zu wenige Daten ermöglichen keine signifikante Aussage. Sind zu viele Daten vorhanden, gibt es ein anderes Problem: das sog. Rauschen. Hierbei handelt es sich um Daten, die keinerlei Relevanz haben und für eine aussagekräftige Analyse aussortiert werden müssen. Dies ist keineswegs einfach.

Ein besonderes Problem hierbei ist die sogenannte Scheinkorrelation: Statistisch lässt sich ein Zusammenhang zwischen verschiedenen Größen feststellen, der rein zufällig ist und keinen sachlogischen Zusammenhang hat. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist der sog. „Super-Bowl-Indikator“: Er besagt, dass wenn ein Team aus der National Football Conference (NFC) das Finale „Super-Bowl“ gewinnt, die US-Aktien in diesem Jahr steigen. Wenn hingegen ein Team der American Football Conference (AFC) siegt, sollen die Kurse fallen. Zwischen 1967 und 1997 hat dieser Indikator tatsächlich mit über 90% Trefferquote die zukünftigen Börsenentwicklungen vorausgesagt. Seitdem ist aber kein eindeutiger Zusammenhang mehr feststellbar. Selten jedoch ist die fehlende logische Verknüpfung so einfach zu erkennen wie bei Börsenkursen und Football-Ergebnissen. Insbesondere im Zeitalter von „Big Data“ machen sich Statistiker viel zu wenig Gedanken darüber, ob die von ihnen analysierten Zeitreichen auch sachlogisch zusammenpassen. Prognosefehler sind so vorprogrammiert.

b) Die Sache mit dem Schätzfehler

Bei statistisch ermittelten Prognosen außerhalb der Ökonomie ist es üblich, mit einer Vorhersage ebenfalls Angaben über den möglichen Schätzfehler zu machen, z. B. in Form der Angabe einer Wahrscheinlichkeit, mit der diese Vorhersage eintritt. Bei Wirtschaftsprognosen wird i. d. R. darauf verzichtet. Dabei wäre dies eine hilfreiche Zusatzinformation, die dem Empfänger der Prognose ihre Einordnung erleichtern würde.

Ein Grund hierfür könnte sein, dass man aufgrund der statistischen Probleme wie Qualität, Aktualität und Anzahl der eingehenden Daten keine sinnvolle Angabe zum Schätzfehler machen kann. Dies wiederum lässt den Rückschluss zu, dass die Prognose selbst nur unter fragwürdigen Umständen zustande gekommen ist.

Ein weiterer Grund könnte sein, dass man aufgrund der Größe des Schätzfehlers diesen lieber verheimlicht, um die eigene Glaubwürdigkeit nicht zu gefährden. Dieses Argument dürfte insbesondere bei den „Show-Prognosen“ relevant sein, die auf Seite 11 noch genauer erläutert werden. Bei der Inszenierung des Prognostikers als Experten gilt es als hinderlich, wenn Aussagen zu möglichen Fehlern gemacht werden.

c) Kurz-, mittel- oder langfristig?

Die meisten Wirtschaftsprognosen beziehen sich auf einen Zeitraum der nächsten 1-2 Jahre, sind also mittelfristig ausgerichtet. Dummerweise ist genau dies der am schwierigsten zu prognostizierende Zeitraum. Denn die Wirtschaft folgt komplexen und evolutionären Prozessen.

Hierbei bewegt sie sich in Trends. Kurzfristige Trends sind oft noch relativ einfach prognostizierbar, weil sie zumeist bestehende Entwicklungen fortschreiben oder saisonalen Zyklen folgen. Das Problem bei kurzfristigen Prognosen ist oft mehr die Qualität und Aktualität der Daten, die für die Vorhersage verwendet werden, als die Bestimmung des Trends.

Mittelfristige Trends sind praktisch nicht bestimmbar. Dies hängt damit zusammen, dass es in komplexen Systemen wie der Wirtschaft nach einer gewissen Zeit immer wieder zu überraschenden Entwicklungen kommt, sei es aufgrund von Innovationen, konjunkturellen Faktoren, politischen Ereignissen etc. Dieses Phänomen wird als „Emergenz“ bezeichnet und beschreibt die spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente.

Langfristige ökonomische Entwicklungen hingegen sind wiederum einfacher zu beschreiben, weil sie durch sog. Megatrends bestimmt sind. Sie gehorchen strukturellen Einflussfaktoren wie Demografie, Bildung oder Produktivitätswachstum. Mittelfristige Schwankungen gleichen sich wieder aus und haben daher auf eine Langfristprognose nur sehr geringen Einfluss.

Während Meteorologen es sich inzwischen angewöhnt haben, nur noch Prognosen für einen sehr kurzen Zeitraum zu veröffentlichen, den sie mit ihren Modellen relativ gut vorhersagen können, haben sich Ökonomen und Finanzanalysten sehr stark auf die mittelfristige Vorhersage fixiert, obwohl gerade diese besonders schwierig ist. Zum einen hängt dies natürlich mit der Nachfrage der Öffentlichkeit zusammen, die vor allem mittelfristige Prognosen wünscht. Zum anderen herrscht aber meiner Ansicht nach insbesondere bei vielen Makroökonomen nach wie vor eine großes Unverständnis hinsichtlich der Komplexität wirtschaftlicher Zusammenhänge. Sie überschätzen daher systematisch die Leistungsfähigkeit ihrer Modelle. Wenn es gerade an wirtschaftlichen Wendepunkten zu gravierenden Fehlprognosen kommt, sollte dies an sich keinen verwundern.

Auch für Aktienanalysten kann die Fixierung auf Gewinnschätzungen für die nächsten Geschäftsjahre zum Problem werden. Während sie bei ertragsstetigen Werten wie z. B. aus der Nahrungsmittelindustrie noch einigermaßen möglich sind, können sie bei zyklischen Unternehmen völlig unkalkulierbar sein. Nichtsdestotrotz muss eine Punktprognose für den Gewinn der nächsten Jahre abgegeben werden, weil das Publikum eine solche erwartet. Die Leistung als Analyst wird dann auf der Basis dieser unmöglichen Prognose sogar bewertet.

Hier geht es zu Teil 2.

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