Wilsons Kritik der Ökonomie Teil 3: Ein Weg zur Vereinigung

by Dirk Elsner on 22. September 2014

In den ersten beiden Teilen (Einführung hier, Teil 2 hier) dieser Reihe ging es um die Kritik, die Edward O. Wilson in seinem Buch “Die Einheit des Wissens” an den Sozialwissenschaften und insbesondere der Ökonomie formulierte. In diesem letzten Teil fasse ich den konstruktiven Teil seiner Kritik zusammen. Er zeigte den Ökonomen nämlich schon damals Wege auf, über die heute noch diskutiert wird:

“Das Ziel von psychologisch orientierten Ökonomen wie Becker, Jack Hirshleifer, Thomas Schelling, Amartya Sen, George Stigler und anderen ist die Stärkung der Mikroökonomie, in der Hoffnung, ge­nauere Voraussagen über das makroökonomische Verhalten treffen zu können. Das ist natürlich ein bewundernswertes Unterfangen, doch um auf diesem Weg voranzukommen, müßten sie die Grenze zwischen Sozial- und Naturwissenschaften überschreiten und mit den Biologen und Psychologen auf der anderen Seite Handel treiben.”[1]

 

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Ungleiche Brüder wieder vereint: Daryl und Merle Dixon

 

Was ist Nützlichkeit?

Bevor man jedoch die Psychologie und Biologie in ökonomische Theorien einfließen lassen möchte, sollte man nach Auffassung von Wilson erst einmal die einzelnen Kon­zepte von Nützlichkeit mikroskopisch unter die Lupe nehmen und fragen, warum Menschen letztlich auf bestimmte Weise han­deln und unter welchen Umständen sie das tun.[2]

Erst wenn diese Auf­gabe erfüllt sei, können die Fragen nach der Mikro-Makro-Problematik, nach den Prozessen, die die Summe aller individuellen Entscheidun­gen in soziale Verhaltensmuster übersetzen, folgen. Weiter schreibt er:

Daran schließt sich, eingebettet in eine noch erweiterte Skala von Raum und Zeit, das Pro­blem der Koevolution an, also die Frage nach den Mitteln, die die biologische Evolution einsetzt, um Kultur zu beeinflussen, und um­gekehrt. Jede mögliche Erklärung, welche die Bereiche der menschlichen Natur, des Übergangs von Mikro zu Makro und der genetisch­kulturellen Koevolution betrifft, erfordert einen Brückenschlag von den Sozialwissenschaften über die Psychologie zur Hirnforschung und Genetik.”[3]

Die aus biologischen und psychologischen Studien gewonnenen Fakten ermöglichen bestimmte Generalisierungen in Bezug auf Nützlichkeit bestimmter Kategorien, die Wilson beispielhaft auflistet und damit den Ökonomen gleich ein Forschungsprogramm empfiehlt. So ist etwa rationale Berechnung häufig selbstlos:

“Aus komplexen und noch immer kaum verstandenen Gründen gehören Patriotismus und Altruismus zu den einflußreichsten Gefühlen. Und es ist nach wie vor ein überraschender Fakt, daß viele Menschen vom einen Moment zum anderen bereit sind, ihr Leben zu riskieren, um das eines Fremden zu retten.” Entscheidungen sind außerdem nicht nur vom Individuum sondern auch von Gruppen abhängig, soviel ist klar. “Weit weni­ger klar ist jedoch, weshalb die Einflußnahme einer sozial eben­bürtigen Gruppe von Verhaltenskategorie zu Verhaltenskategorie derart unterschiedlich ist.”[4]

Für wichtig halte ich außerdem, dass Entscheidungsprozesse in all ihren Kategorien von sogenannten epigeneti­schen Regeln[5] beeinflusst werden. Darauf werde ich eingehen, wenn ich hier im weiteren Verlauf des Jahres über Wilsons “Die soziale Eroberung der Erde” schreibe.

Neue Fundierung des Nutzenprinzips

Vor Jahren hatte ich verzweifelt versucht, das “Nutzenprinzip” der Ökonomie zu verstehen. Ökonomen verwenden das Nutzenprinzip sowie Nutzentheorien meist in formalwissenschaftlich-normativer Hinsicht: Ein bestimmtes Ziel (die Nutzenmaximierung) solle realisiert werden. Die ökonomische Nutzentheorie ist eine stark abstrahierte Variante aus dem Bereich im Gesamtbereich der Sozialwissenschaften. Das Nutzengesetz lautet in seiner allgemeinsten Form:

Von zwei Alternativen wird im Rahmen gegebener Beschränkungen stets diejenige gewählt, die den größten (subjektiven) Nutzenwert hat.[6]

Rationales Handeln ist kein Ziel, sondern ein Mittel zur Zielerreichung[7]. Die Rationalität einer Person und ihres Handelns hängt von ihren persönlichen Motiven und ihrer jeweiligen Entscheidung ab. Die Rationalität hängt nicht davon ab, ob eine Handlung geglückt ist oder nicht[8].

Der Begriff „Nutzen“ ist in der modernen Ökonomik offen und keineswegs nur monetär zu verstehen. Für viele Untersuchungen braucht man Spezifizierungen, die je nach Persönlichkeit, Beruf, Alter, Kultur, Erfahrungen, Plänen und Erwartungen stark differieren können. Was Individuen als Nutzen ansehen, ist oft von ihrer sozialen Umwelt oder von ihrer Sozialisierung oder auch von den Erwartungen anderer bestimmt. So kann z.B. auch das Wohlergehen anderer Menschen Bestandteil des Nutzens eines Individuums sein, wenn er sich z.B. altruistisch verhält.[9]

Materielle Grundlage des menschlichen Lebens sind nach Auffassung von Ökonomen ökonomische Güter, die in einem mehrstufigen Prozess letztlich aufgrund der Nutzung der natürlichen Umwelt produziert werden. Menschen haben Bedürfnisse, von denen ein Teil durch den Erwerb ökonomischer Güter und deren Verbrauch und Gebrauch befriedigt werden kann.[10]

Hier kann man nun wieder mit Wilson fortsetzen:

“Ein umfassendes Verständnis von Nützlichkeit ist von der Biologie und Psychologie zu erwarten, weil sie menschliches Verhalten zuerst einmal auf seine einzelnen Elemente reduzieren und anschließend hierarchisch aufwärtsstrebend synthetisieren. Es wird sich nicht aus den Sozialwissenschaften ergeben, da ihre Prämissen üblicherweise auf hierarchisch abwärtsstrebenden Schlußfolgerungen und auf In­tuition basieren. Nur von der Biologie und Psychologie werden Ökonomen und andere Sozialwissenschaftler die nötigen Prämissen erhalten, um Modelle von besserer Voraussagekraft entwickeln zu können – geradeso wie die Biologie von den Prämissen der Physik und Chemie aufgewertet werden konnte.”[11]

Hier teile ich übrigens die Auffassung von Wilson nur eingeschränkt. Ich glaube zwar, dass sich die Erklärungskraft ökonomischer Modelle verbessern ließe mit Hilfe psychobiologischer Ansätze. Ich habe aber große Zweifel, dass sich dadurch wesentlich die Vorhersagekraft verbessern ließe.

Wilson weist übrigens in dem Abschnitt zu den Sozialwissenschaften auch auf die Arbeit der Behavioural Economics hin und die Fortschritte, die etwa Daniel Kahneman und Amos Tversky gemacht haben, benennt aber auch hier Schwächen.

“Technische Probleme” für Ökonomen

Wilson gesteht den Ökonomen übrigens die Massivität der technischen Probleme, vor denen vor allem die Sozialtheoretiker stehen, zu. Er schreibt:

“Einige Wissenschaftsphilosophen haben be­reits resigniert die Hände gehoben und erklärt, daß die Grenzgebiete zwischen den Natur- und Sozialwissenschaften einfach zu komplex seien, als daß sie mit unseren heutigen geistigen Mitteln durchschrit­ten werden könnten, und es sei durchaus möglich, daß sie für immer außerhalb unserer Reichweite lägen. Doch damit stellen sie bereits die Vorstellung einer Vernetzung von der Biologie bis zur Kultur in Frage. Sie verweisen einfach auf die Nichtlinearität aller entwick­lungsfähigen Gleichungen, auf die zweit- und drittrangigen Interak­tionen von Faktoren, auf die Stochastik und all die anderen Monster, die im Meer der großen Strudel lauern – und dann seufzen sie: Hoff­nungslos, hoffnungslos! Aber genau das erwarten wir ja von den Philo­sophen. Schließlich ist es ihre klassische Aufgabe, die Grenzen der Wissenschaft im großen Zusammenhang zu definieren und zu er­klären; und innerhalb dieses Zusammenhangs sind alle rationalen Prozesse am besten – wie sollte es anders sein – bei den Philosophen aufgehoben. Einzuräumen, daß Wissenschaft keine intellektuellen Grenzen hat, wäre geradezu unziemlich und unprofessionell für sie. Allerdings sind ihre Zweifel Wasser auf die Mühlen der – immer we­nigeren – Sozialtheoretiker, die die Grenzen zu ihren Herrschaftsge­bieten geschlossen halten und sich bei ihrem Studium der Kultur nicht von den Träumen der Biologie stören lassen wollen.

Glücklicherweise denken Wissenschaftler nicht so kategorisch wie Philosophen. Wären frühere Generationen dem Unbekannten derart nachdenklich und demütig begegnet, wäre unser Wissen über das Universum im sechzehnten Jahrhundert stehengeblieben. Der philo­sophische Stachel ist nötig, um uns zur Vorsicht zu gemahnen. Doch wir sollten immer das Gegenmittel »Selbstvertrauen« parat haben, damit er keine tödliche Wirkung auf uns ausüben kann. Denn es war genau die gegenteilige Überzeugung – blinder Glaube, wenn man so will -, der Wissenschaft und Technik ins moderne Zeitalter katapul­tiert hat. Und man sollte auch nicht vergessen, daß der Urgedanke der Aufklärung in der Welt der Philosophie, nicht aber in der Welt der Wissenschaft gestorben ist. Was die Sozialwissenschaften anbe­langt, so mögen die pessimistischeren unter den Philosophen natür­lich durchaus recht haben, aber wir tun in jedem Fall besser daran, so vorwärtszustreben, als seien sie im Unrecht. Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. Und je unbezwingbarer die Aufgabe scheint, um so größer wird die Belohnung für diejenigen sein, die es wagen, sich ihrer anzunehmen.”[12]

Ausblick auf Wilsons “Die soziale Eroberung der Erde”

Edward O. Wilson hat mit seinem aktuellen Werk “Die soziale Eroberung der Erde” ein erweitertes biologisches Modell der Evolution des Menschen vorgestellt. Nach seiner Auffassung zerren am Menschen vor allem zwei “widerstreitende Arten von Selektionsdruck: Fürs Überleben in der Stammesgemeinschaft muss er sich fürsorglich, solidarisch, einfühlsam geben, fürs Überleben als Individuum sind Neid, Gier, Egoismus günstiger. Sowohl die Unterstützung als auch die Beschädigung eines Anderen entfalten sich an dieser Trennlinie.”[13]

Meiner Meinung ist dieser Ansatz gut geeignet, das Bild vom individuellen Nutzenmaximierer zu ersetzen bzw. es zu ergänzen. Ich bin derzeit dabei, meine Gedanken dazu in einer weiteren Beitragsreihe zusammenzufassen. Das erweist sich freilich als nicht so einfach, wenn man erst einmal von der Faszination der Evolutionstheorie(n) eingefangen wurde.


[1] Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 1998, Taschenbuchausgabe 2000, S. 272.

[2] Vgl. Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 1998, Taschenbuchausgabe 2000, S. 273.

[3] Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 1998, Taschenbuchausgabe 2000, S. 273.

[4] Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 1998, Taschenbuchausgabe 2000, S. 274.

[5] Epigenetischen Re­geln bestimmen nach Wilson jene ererbten Regelmäßigkeiten unserer geistigen Entwick­lung, welche die kulturelle Evolution in die eine oder an­dere Richtung lenken und somit die Gene mit Kultur verknüpfen. Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 1998, Taschenbuchausgabe 2000, S. 221.

[6] G. Wiswede, Einführung in die Wirtschaftspsychologie, München 1991, S. 31.

[7] B. S. Frey, Ökonomie ist Sozialwissenschaft, München 1990, S. 11.

[8] W. Vossenkuhl, Ökonomische Rationalität und moralischer Nutzen, in Wirtschaft und Ethik, Reclam, Stuttgart 1992, S. 187.

[9] K. Homann u. A. Suchanek, Ökonomik, Tübingen 2000, S. 30.

[10] A. Stobbe, Volkswirtschaftslehre II, Mikroökonomik, Berlin, Heidelberg, New York 1983, S. 3.

[11] Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 1998, Taschenbuchausgabe 2000, S. 275.

[12] Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 1998, Taschenbuchausgabe 2000, S. 279 f.

[13] Reinhardt-Bork im Interview mit der ÄrzteZeitung: Das Schöne und das Gefährliche an der Gruppendynamik, veröffentlicht am 11.07.2014.

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