Wilsons Kritik der Ökonomie Teil 2: Durch den Modelltest gefallen

by Dirk Elsner on 26. Mai 2014

Im ersten Teil dieser Reihe über die Kritik des Naturwissenschaftlers Edward O. Wilson an der Ökonomie habe ich u.a. über den Lob Wilsons an der neoklassischen Modellkonstruktion wegen ihrer mathematischen Exaktheit geschrieben. Allerdings schneidet die Ökonomie bei einem Test, den Wilson für die Eignung von Modellen vorschlägt, schlecht ab.

Gute Modelle müssen vier Eigenschaften erfüllen muss[1]:

  1. Parsimonie: Das Sparsamkeits-Prinzip: Hier erklärt Wilson, dass ein Modell um so besser ist, je weniger Hypothesen und Axiome zur Erklärung eines Phänomens herangezogen werden müssen
  2. Allgemeingültigkeit: Je mehr Phänomene in der Realität ein Modell erklären kann, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es stimmt.
  3. Kongruenz: Zu diesem Kriterium zählt Wilson disziplinäre Einheiten und Prozesse, die mit dem verifizierten Wissen anderer Disziplinen über­einstimmen. Dies habe sich in Theorie und Praxis schon immer allen nichtkongruenten Einheiten und Prozessen als überlegen erwiesen.
  4. Voraussagbarkeit

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Die Ökonomie wird zum Beispiel von “exo­genen Schocks” gebeutelt, “von all den unerklärlichen historischen Vorgängen und Umweltveränderungen, die die Werte der Parameter auf- und abschnellen lassen. Allein dadurch wird die Genauigkeit von ökonomischen Voraussagen stark begrenzt. Außer ganz allge­mein oder in statistischen Zusammenhängen sind ökonomische Mo­delle weder in der Lage, eine Hausse oder Baisse an den Börsenmärk­ten noch die von Kriegen oder technischen Innovationen hervorge­rufenen und Jahrzehnte dauernden Zyklen vorauszusagen. Sie kön­nen uns nicht sagen, ob Steuersenkungen oder ein Abbau des Haus­haltsdefizits effektiver sind, um das Pro-Kopf-Einkommen zu er­höhen, oder wie sich ein Wirtschaftswachstum auf die Einkommens­verteilung auswirkt.”[2]

Wilson sagt übrigens nicht, dass allein auf Basis des Kriteriums fehlerhafter Prognosen die ökonomischen Modelle nichts taugen. Aus sein Forschungsschwerpunkt die Evolutionsbiologie kann nämlich ebenfalls keine Vorhersagen über die künftige Evolution der Arten machen. Aber im Gegensatz zur Ökonomie versucht sie dies auch gar nicht. Sie beschränkt sich darauf, die Evolution zu erklären. Das halte ich für einen wesentlichen Unterschied zu dem Anspruch vieler Ökonomen, die ökonomisches Verhalten vorhersagen wollen. Außerdem scheint sich die moderne Evolutionsbiologie der Rolle des Zufalls bewusst zu sein[3]. Ökonomen dagegen wollen den Zufall beherrschen, in dem sie ihn in Wahrscheinlichkeitsaussagen und Risikoverteilungen pressen.

Fehlende naturwissenschaftliche Grundlagen

Wilsons zentrale Kritik an der Ökonomie setzt aber an anderer Stelle an: Er schreibt (Hervorhebungen durch mich):

“Nun steht die theoretische Ökonomie jedoch noch vor einer an­deren, ebenso fundamentalen Schwierigkeit. Im Gegensatz zur Po­pulationsgenetik und Umweltforschung fehlt ihr nämlich die solide Grundlage von bestimmten Einheiten und Prozessen, und sie hat noch nicht einmal ernsthaft versucht, sich mit den Naturwissen­schaften zu vernetzen. Alle Theoretiker wissen, daß die Grundmuster ökonomischer Prozesse ihren Ursprung auf die eine oder andere Weise in den mannigfaltigen Entscheidungen haben, welche von Menschen getroffen werden, ob als Individuen oder als Angehörige von Unternehmen oder staatlichen Behörden. Die ausgefeiltesten wirtschaftstheoretischen Modelle versuchen nun, dieses mikroökonomische Verhalten in weiter gefaßte Maßstäbe und Muster zu übersetzen, die man dann allgemein als “die Wirtschaft” definiert. Die Übersetzung von Einzelverhalten in Gesamtverhalten ist das größte analytische Problem der Ökonomie und der übrigen Sozialwissen­schaften. Denn sie berücksichtigen dabei kaum je die konkreten For­men und Ursachen von individuellem Verhalten. Statt dessen legen die Konstrukteure ihren Modellen volkspsychologisches Wissen zu­grunde, das auf mehr oder weniger gesundem Menschenverstand und Intuition beruht, deren Grenzen bekanntlich längst weit über­schritten wurden.”[4]

Keine konzeptionelle Revolution nötig

Dabei findet Wilson nicht einmal, dass eine grundlegende konzeptionelle Revolution nötig wäre:

“Die am weitesten fortgeschrittenen Modelle, die sich mit dem Mikro-Makro-Übersetzungsproblem befassen, sind auf der richtigen Spur. Allerdings haben sich die Theoretiker selbst ein unnötiges Handicap geschaffen, indem sie ihre Theorie vor der Biologie und Psychologie und ihren wissenschaftlichen Methoden Deskription, Experiment und statistische Analyse verschlossen haben. Meines Er­achtens nach taten sie das nur, um Verwicklungen mit der ungeheu­ren Komplexität dieser Basiswissenschaften zu vermeiden.

Sie ver­folgten einfach die Strategie, die Mikro-Makro-Problematik mit so wenigen Annahmen wie nur möglich auf Mikroebene zu lösen. Mit anderen Worten, sie haben es mit der Parsimonie zu weit getrieben. Hinzu kommt, daß ökonomische Theorien immer darauf zielen, Modelle für den größtmöglichen Anwendungsbereich zu schaffen. Und dabei wird oft derart extrem abstrahiert, daß kaum mehr als Übungen in angewandter Mathematik herauskommen. Hier haben sie es mit der Allgemeingültigkeit zu weit getrieben. Das Ergebnis ist ein Theorienkomplex, der in sich konsistent, aber auch nicht mehr als das ist. Obwohl sich die Ökonomie meiner Meinung nach in die richtige Richtung bewegt und damit den Weg gewiesen hat, dem auch die Sozialtheorie klugerweise folgen sollte, ist sie also noch immer mehr oder weniger irrelevant.”[5]

Annahme Homo Oeconomicus schränkt Modelle ein

In der weiteren Folge arbeitet er sich dann vor zum Prinzip der rationalen Entscheidung und kritisiert die Annahme, dass der Mensch seine Befriedigung durch überlegtes Handeln maximiert. Auf diesem Konzept basierende ökonomische Modelle beschränken sich auf die Nützlichkeit von limitierten Eigeninteressen.[6] Er bezeichnet viele mit ökonomischen Modellen vereinfachend skizzierte Verhaltensweisen als “Volkspsychologie”, die ebenso auf gesundem Menschenverstand basieren.

Wilson kritisiert, dass die die vor­herrschende Erklärungsmethode auf der rationa­len Entscheidungstheorie basiert, die von der Ökonomie gebildet und dann von den politischen Wissenschaften und anderen Disziplinen über­nommen wurde. Eine ihrer Hauptthesen besagt, “daß der Mensch allem voran rational handle. Zuerst prüfe er alle einschlägigen Fakto­ren und gewichte die Konsequenzen aller möglichen Entscheidun­gen, und bevor er dann eine endgültige Entscheidung trifft, führe er noch eine Kosten-Nutzen-Analyse durch – Investition, Risiko, emo­tionaler und materieller Gewinn. Bevorzugt werde am Ende immer die Option, die Nützlichkeit maximiere.”[7]

Das ist aus Sicht von Wilson keine adäquate Wiedergabe der menschlichen Denkungsart:

“Das menschliche Gehirn ist keine besonders schnelle Rechenmaschine, aber die meisten Entscheidungen müssen ziemlich schnell getroffen werden, und das auch noch unter komplexen Be­dingungen und mit unvollständigen Informationen.

Also wäre doch die wichtigste Frage für die rationale Entscheidungstheorie: Wieviel Information ist genug? Mit anderen Worten, an welchem Punkt hört der Mensch auf nachzudenken und faßt seine Entschlüsse? Eine sim­ple Abbruchstrategie ist beispielsweise »Satisfizierung«. Der aus dem Schottischen stammende Begriff ist zusammengefügt aus den Wör­tern satisfying (zufriedenstellend) und sufficing (ausreichend) und heißt soviel wie »eine akzeptable Entscheidung treffen«. In die Psy­chologie eingeführt hat diese Entscheidungstheorie 1957 Herbert Simon, ein Ökonom der Carnegie Mellon University. Satisfizierung bedeutet, die erstbeste zufriedenstellende Entscheidungsmöglichkeit unter all denjenigen zu ergreifen, die vorstellbar und kurzfristig machbar sind. Im Gegensatz dazu steht die überlegte optimale Ent­scheidung, nach der man so lange sucht, bis man sie gefunden hat. Ein junger Mann, der unbedingt heiraten möchte, wird vermutlich eher nach dem Satisfizierungsprinzip vorgehen und der attraktivsten, in seinem Umfeld zur Verfügung stehenden Kandidatin einen An­trag machen, als langwierig nach jener Idealpartnerin zu suchen, die sich hundertprozentig mit seiner spezifischen Vorstellung deckt.”[8]

Wilson hat seine Kritik sehr verständlich erläutert. Und er verdammt die Ökonomie nicht in Bausch und Bogen. Im Gegenteil: er zeigt Wege auf, wie sich die Ökonomie weiterentwickeln könnte. Darum geht es im dritten Teil dieser Reihe.


[1] Ich kann und möchte für dien Beitrag nicht die wissenschaftstheoretischen Grundlagen dieses Modelltests bewerten. Die Details zum “Test” sind nachzulesen bei Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 1998, Taschenbuchausgabe 2000, S. 265 ff. nebst Beispiel aus den Naturwissenschaften.

[2] Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 1998, Taschenbuchausgabe 2000, S. 269.

[3] Vgl. dazu Gerhard Vollmer, Wissenschaftstheorie und Biologie, auf Spektrum.de, 1999.

[4] Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 1998, Taschenbuchausgabe 2000, S. 269 f.

[5] Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 1998, Taschenbuchausgabe 2000, S. 270.

[6] Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 1998, Taschenbuchausgabe 2000, S. 271.

[7] Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 1998, Taschenbuchausgabe 2000, S. 275 f.

[8] Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, 1998, Taschenbuchausgabe 2000, S. 275 f.

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