Unvermeidbare Krisen und ignorierte Zyklen – Teil 1:

by Karl-Heinz Thielmann on 4. Februar 2016

Die globalen Finanzmärkte sind seit letztem Sommer wieder im Krisenmodus. Von einer kurzen Zwischenerholung im Herbst abgesehen, purzelten die Kurse wieder. Dies gilt insbesondere für alle Finanzkontrakte oder Aktien, die entweder mit Rohstoffen, Rohstoffländern oder mit China zu tun haben. Terroranschläge und die weitverbreitete Unfähigkeit der führenden Politiker dieser Welt, selbst bei drängenden Problemen konstruktive und weitschauende Entscheidungen zu treffen, wirkten zudem alles andere als stimmungsverbessernd.

Nach der US-Immobilienkrise ab 2007, der resultierenden globalen Finanzkrise ab 2008 und der anschließenden Eurokrise ab 2010 fallen die nächsten Dominosteine im globalen Wirtschaftssystem: Die einstmaligen Wachstumsgaranten in den Schwellenländern wie China oder Brasilien machen schlapp. Insbesondere als konjunkturabhängig geltende Rohstoffpreise fallen wie ein Stein. Sind die aktuellen Kapitalmarktturbulenzen der Auftakt zu einer lang anhaltenden Phase weltwirtschaftlicher Stagnation?

Zumindest die Krisenpropheten, die einen Niedergang der Weltwirtschaft voraussagen, haben wieder Hochkonjunktur. Mit der Vorhersage einer „deflationären Krise“ und der Empfehlung „verkaufe alles außer Qualitäts-Staatsanleihen“ schaffte es Andrew Roberts, der ansonsten wenig beachtete Chef-Ökonom der RBS, tagelang von der globalen Finanzpresse diskutiert zu werden. Albert Edwards von Societe Generale sagt schon seit über 20 Jahren den allgemeinen Niedergang vorher. Dauerbären wie er hoffen inständig, dass jetzt endlich der Moment gekommen ist, an dem ihre Negativ-Prognosen eintreffen.Aktienbörsen und globale Wirtschaft sollen sich in einem Teufelskreis aus destruktiven Wechselwirkungen in den Abgrund reißen, bis sich der S&P 500 erst wieder unter 666 stabilisieren kann. Und selbst bislang optimistische Strategen wie Mislav Matejka bei JP Morgan Chase empfehlen inzwischen, angesichts nachlassender Gewinndynamik Aktien in jede Kurserholung abzubauen. „Sell on strength“ anstatt „Buy on Dips” sei jetzt die richtige Strategie.

Von Krise zu Krise: Kontinuität der Desaster im globalen Finanzsystem

Wir stolpern schon seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von einer schweren Krise in die nächste: So gab es die 1. Ölkrise 1974 und die 2. Ölkrise 1979. In den 80er Jahren hatten wir die lateinamerikanische Schuldenkrise, die US-amerikanische Savings- and Loanskrise sowie den großen Börsencrash von 1987. Die 90er starteten mit der Pfundkrise, dem Fast-Zerbrechen des Europäischen Währungssystems sowie Strukturkrisen in Skandinavien und Südeuropa. Japan versuchte Anfang der 90er, den Ausbruch einer Krise zu verhindern und befand sich seitdem in 25 Jahren Dauerstagnation. 1998 kam es zum Staatsbankrott Russlands sowie zum Wirtschaftskollaps in den „Tigerstaaten“ Südostasiens. 2001 führten die Terroranschläge vom 11. September, Bilanzskandale sowie die geplatzte Internetblase zum nächsten Katastrophenszenario, verbunden mit einem starken Börseneinbruch.

Dies sind zumindest die Krisen, an die ich mich noch erinnern kann (und vermutlich viele der Leser). Man kann die Historie aber auch viel früher anfangen: bei der Weltwirtschaftskrise infolge des Börsencrashs 1929. Oder mit der Gründerzeitkrise 1873, deren Folgen fast 20 Jahre lang die Wirtschaft in Ländern wie Großbritannien, Frankreich, USA oder Österreich-Ungarn stark belastete. In den USA platze 1857 die große Eisenbahnblase, in 1837 kollabierte die Textilindustrie, womit jeweils die führenden Wachstumsindustrien der Zeit zwischenzeitlich zertrümmert wurden. 1825 gab es die erste Schwellenländer-Schuldenkrise, in deren Folge mehr als 10% aller britischen Banken Pleite gingen. 1720 platzten fast zeitgleich die Spekulationsblase in der South Sea Company in London sowie das nur durch Schwindelforderungen abgesicherte Papiergeldsystem des John Law in Frankreich.

Nicht nur Krisen haben eine lange Tradition. Manchmal wurden sie durch „Bail Outs“ verhindert, aber jeweils nur zu hohen Kosten für die Allgemeinheit. Das erste Mal geschah dies 1792. Damals hatte die neue Zentralbank der USA, die „First Bank of the United States“, durch hemmungslose Kreditvergabe eine Spekulationswelle ausgelöst. Als sie die Geldschöpfung einschränkte, stand das auf billigem Kredit beruhende gesamte Finanzsystem der aufstrebenden Nation vor dem Kollaps.

Finanzminister Alexander Hamilton nutzte öffentliche Gelder, um bankrotte Banken zu sanieren und die Kurse von stark gefallenen Wertpapieren zu stützen. Damit verhinderte er zwar eine größere realwirtschaftliche Krise, schaffte jedoch den Präzedenzfall für zukünftige Bankenrettungen: Die Folgen rücksichtsloser Selbstbereicherung wurden vom Staat und damit der Allgemeinheit übernommen, um das Ausbrechen einer tief greifenden Wirtschaftskrise zu verhindern. Und indem staatliche Interventionen die Folgen privater Fahrlässigkeit übernehmen, schaffen sie mit dem Versuch, Stabilität zu schaffen, gleichzeitig Fehlanreize für rücksichtsloses Verhalten.

Krisenfreiheit ist ein illusorisches Konzept

Die Aufzählung aus dem vorigen Absatz ließe sich noch erweitern um viele ausgebrochene und einige auf Kosten der Allgemeinheit verhinderte Krisen. Quintessenz ist, dass praktisch keine längere Phase der kapitalistischen Wirtschaftsgeschichte frei von Krisen bzw. teuren Rettungsaktionen war.

Besonders schlimme Krisen folgten regelmäßig auf Perioden, in denen man glaubte, entweder durch den Einsatz neuer Technologien, zuverlässige ordnungspolitische Rahmenbedingungen oder intelligente makroökonomische Maßnahmen den Wachstumsweg der Wirtschaft stabilisiert zu haben. Der gravierendste Ausdruck dieser „Krisenfreiheits-Illusion“ in jüngster Vergangenheit war die Phase der sogenannten „Great Moderation“, die zur Finanzkrise führte.

Bereits in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts waren die USA auf den Weg eines relativ stabilen und inflationsarmen Wachstums eingeschwenkt, der mit Beginn des 21. Jahrhunderts auch für Europa und einige Schwellenländern zu gelten schien. Ursächlich hierfür wurde einerseits eine Wirtschaftspolitik gemacht, die auf Deregulierung und eine Stärkung des internationalen Handels setzte. Dies erleichterte ökonomische Anpassungen. Weil die Blockierung von Strukturwandel in den 70er Jahren als Haupt-Krisenverursacher identifiziert worden war, wurde dieser Risiko-Faktor so effektiv eingedämmt. Weiterhin stand eine Geldpolitik im Vordergrund, die konkrete Inflationsziele anstrebte (wie z. B. eine moderate Geldentwertung von ca. 2% p.a.), um einerseits die inflationären Folgen von gesundem Wirtschaftswachstum auf ein Mindestmaß zu begrenzen, andererseits Investoren für ihre Inflationserwartungen eine klare Perspektive zu vermitteln.

Als Erfolg dieser Politik der „Great Moderation“ wurde allgemein angesehen, dass sich regionale Krisen wie in Europa 1992 oder Asien 1998 bzw. Finanzmarktschocks wie der Crash 1987 kaum auf die Weltwirt­schaft auswirkten. Um so überraschender kamen dann die schlimmen Konsequenzen der Fi-nanzkrise 2008. Weil der Fokus von Wirtschaftspolitikern und Notenbankern jahrzehntelang bei makroökonomischer Stabilisierung lag, hatten sie fatalerweise zwei Aspekte völlig aus den Augen verloren: 1) den starken Anstieg der Verschuldung auf Niveaus, die für viele Staaten, Unternehmen oder Immobilienbesitzer nur unter der Annahme tragbar waren, dass sich die „Great Moderation“ mit ihren stabilen Wachstumsraten ewig fortsetzt. 2) hatte das Schönfärben von Risikokennzahlen und Bilanzpositionen durch Betrug bzw. kreative Buchführung bisher ungeahnte Ausmaße angenommen.

Übermäßige Verschuldung und Bilanzfälschung hatten bei der großen Wirtschaftskrise in den 70er Jahren keine größere Rolle gespielt. Damals waren eskalierende Inflationsraten, Rohstoffknappheit und strukturelle Verkrustung die Krisentreiber. Der Börsencrash 1929 und die folgende große Depression hatten hingegen sehr stark mit exzessiver Verschuldung und schönfärberischer Rechnungslegung zu tun. Ihre Konsequenzen, a) konservative Bilanzierungsregeln; b) eine starke Regulierung des Finanzbereichs sowie c) das Trennbankensystem in den USA; wurden in den 1980er Jahren größtenteils wieder rückgängig gemacht, um die Flexibilität der Wirtschaft wieder zu erhöhen.

Ironischerweise verschlimmerten die Maßnahmen zur Verhinderung einer Wiederholung der Weltwirtschaftskrise wie in den 1930ern die Konsequenzen der nächsten – der Ölkrise. Ihre Rücknahme durch Deregulierung des Finanzsystems wiederum begünstigte die Entwicklung der übernächsten großen Krise – der Finanzkrise. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die derzeitige Welle der Regulierung in der Finanzindustrie erneut zu einer Erstarrung führen wird, die nach der nächsten tief greifenden Krise wieder Deregulierung motiviert. Soweit sind wir aber noch lange nicht.

Die Wirtschaft folgt bekannten Zyklen: Warum kommen Krisen trotzdem immer so überraschend?

Krisen sind für die Betroffenen sehr unangenehm. Sie vernichten Arbeitsplätze und Vermögen; weiterhin kosten sie Lebensfreude, selbst wenn sie die materiellen Lebensgrundlagen nicht stark schädigen: Sie verunsichern die Menschen und beeinflussen bei vielen die Psyche negativ. Depressionen und Selbstmorde steigen in Krisenzeiten dramatisch an. Doch warum erscheint es immer noch so unmöglich, Krisen zu vermeiden? Und wenn sie dann doch kommen, warum ist es für Menschen so schwer, diese vorherzusehen bzw. sich auf diese einzustellen?

Die Wirtschaft – wie übrigens auch das Wetter, Klima und viele andere dynamische Systeme – entwickelt sich zyklisch und nicht linear. Sie folgt einem Auf und Ab und keinem gleichmäßigem Wachstumspfad. Dabei kommt es durch politische, soziale und technische Veränderungen immer wieder zu neuen ökonomischen Entwicklungen, die sich verstärken, neutralisieren oder umkehren können. Dies führt zu Aufschwung- und Abschwungphasen, was grundsätzlich bekannt ist.

Allerdings vergessen wir modernen Menschen im Alltag regelmäßig, dass zyklische Verläufe im Leben die Regel und nicht die Ausnahme sind. Dies wird insbesondere in Zusammenhang mit zwei Verhaltensmustern zum Problem: adaptive Erwartungsbildung sowie dem Gegenwarts-Bias.

Adaptive Erwartungen sind Vorstellungen über die Zukunft, die aus Vergangenheitswerten gebildet werden. Sie sind Ergebnis eines Lernverhaltens, bei dem frühere Erwartungen mit der Realität verglichen und aufgrund gemachter Erfahrungen entsprechend angepasst werden. Dies wäre an sich nicht besonders problematisch, wenn wir tatsächlich alle Erfahrungen der Vergangenheit gleich einbringen würden. Doch dies tun wir nicht.

Denn dummerweise unterliegen wir Menschen dem verhaltenspsychologischen Muster des Gegenwarts-Bias (der manchmal ebenfalls als „Availibility Bias“ oder als „Gegenwarts-Eitelkeit“ bezeichnet wird): Wir überschätzen stark die Bedeutung von Informationen, Ereignissen und Zuständen in der Gegenwart. Erfahrungen aus der ferneren Vergangenheit hingegen verdrängen wir.

Weiterhin neigen wir dazu, aktuelle Erfahrungen zu verallgemeinern, d. h. momentane Umstände auf unser ganzes Leben zu projizieren. Dies führt dazu, dass wir in guten Zeiten davon ausgehen, dass alles immer gut bleiben wird; was dann wiederum bei vielen zu Selbstüberschätzung und einer fahrlässigen Vernachlässigung von Gefahren führt. Umgekehrt sind in Krisenzeiten Menschen übermäßig verunsichert und überschätzen Risiken.

Speziell in längeren Aufschwungphasen – wie gegen Ende der Great Moderation – werden Gegenwarts-Bias und adaptive Erwartungen zum signifikanten Problem. Denn dann wird allgemein vergessen, dass die momentane Stabilität nur ein vorübergehendes Phänomen ist, und auch wieder schlechte Zeiten kommen können. Unvorsichtigkeit, Selbstüberschätzung und geistige Trägheit machen sich breit. In solchen Phasen treffen viele Menschen im Vertrauen auf eine verlässliche positive Zukunft gerne Investitionsentscheidungen oder tätigen Immobilienkäufe, die eigentlich viel zu riskant sind bzw. ihre finanziellen Rahmenbedingungen überschreiten. Wenn der Zyklus dann wieder ins Negative dreht, wirkt dies für viele wie ein Schock.

Es ist deshalb kein Zufall, dass die Great Moderation geradewegs in einer der schlimmsten Immobilienkrisen der USA endete, die wiederum zur globalen Finanzkrise führte. Weil eine stabilisierende Wirtschaftspolitik wie bei der Great Moderation verbunden mit dem Gegenwarts-Bias nach langen Aufschwungphasen massiv das fahrlässige Eingehen von Risiken förderte, wurde eine nachfolgende schwere Krise unvermeidlich.

Je größer die Illusion dauerhafter Stabilität ist, umso schlimmer wird das Aufwachen in der Krise. Wie stark diese ausfällt und wie lange sie dauert, hängt jedoch sehr stark davon ab, wie der Zyklus geartet ist, dessen Bestandteil sie ist.

Bei den aktuellen Krisen erleben wir dies wieder einmal sehr deutlich. Denn momentan sind gleich zwei ökonomische Phantasmen geplatzt, allerdings mit sehr unterschiedlichen Konsequenzen:

1)      Die Illusion einer friktionsfreien wirtschaftlichen Aufholjagd der großen Schwellenländer

2)      Die Illusion des „Rohstoff-Superzyklus“

Hierzu morgen mehr …

 

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