Die Überschrift klingt etwas off-topic für dieses Blog, ist sie aber nicht. In einer ausführlichen und längst nicht abgeschlossenen Beitragsreihe befasse ich mich mit der modernen Evolutionstheorie in der Variante der Multilevel-Selektion. Sie bietet nach meiner Einschätzung eine höhere Erklärungskraft für ökonomisches und soziales Verhalten als ökonomische Modelle. Das Modell der Multilevel-Selektion betrachtet nicht nur das Individuum, sondern ebenfalls die Gruppen, in denen sich Individuen bewegen. Das Modell der “Multilevel-Selektion” besagt u.a., dass es zu unserem “Programm” als Menschen gehört, zu Gruppen gehören zu wollen.
An dieses Modell jedenfalls musste ich denken, als ich am vergangenen Wochenende in der aktuellen Ausgabe von “Gehirn und Geist” den Beitrag über die Radikalisierung von Jugendlichen las. Die Autorin Dounia Bouzar fragt sich, wie Jugendliche ihren Realitätssinn soweit verlieren können, dass sie ihr Leben für eine fanatische Bewegung riskieren?
Die Rekrutierer radikaler Gruppen orientieren sich an dem Bedürfnis der Menschen, sozialen Gruppen angehören zu wollen. Werden z.B. junge Menschen aus welchen Gründen auch immer von ihren Bezugsgruppen in Familie und Gesellschaft abgelehnt, werden sie anfällig für andere Gruppen, die auf die Sehnsüchte nach Zugehörigkeit eingehen. Die Isolierung bestimmter Menschen erleichtert ihre Rekrutierung, die Bouzar in folgender Abbildung zusammenfasst:
Quelle: “Gehirn und Geist” Ausgabe 3/2016, S. 29
Vor diesem Hintergrund ist sehr interessant zu lesen, mit welchen individuellen Strategien und über welche Kanäle Jugendliche angesprochen werden. Dounia Bouzar zählt dazu einige Beispiele auf. Immer geht es dabei auch darum, die Zugehörigkeit zu einer neuen Gruppe zu verankern. Abschließend erfolgt die “Entmenschlichung” in der Form, dass “alle, die dem »Weg der Erneuerung« nicht folgen, nicht mehr als menschliche Wesen angesehen. Daher existieren soziale Beziehungen nur noch innerhalb der Gruppe.”
Diese Strategien zur Gewaltrechtfertigung beschreibt übrigens auch Steven Pinker in seinem unbedingt lesenswerten Buch “Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit”.
In Anlehnung an diese Analyse skizziert Bouzar dann eine Strategie, der Entrekrutierung. Hier steht ebenfalls die emotionale Einbindung zur Familien und anderen Bezugspersonen im Vordergrund. Auch diese Strategie steht m.E. im Einklang mit der Multilevel-Selektion.
Edward O. Wilson, der bekannte Evolutionsbiologe, schreibt nach jahrelanger Forschung Forschung in seinem Spätwerk “Der Sinn des menschlichen Lebens”, “dass die Multilevel-Selektion, und dabei zu großen Teilen die Gruppenselektion, eine bestimmende Kraft bei der Ausformung fortgeschrittenen Sozialverhaltens war – einschließlich bei der des Menschen.” Wenn man die Erkenntnisse von Dounia Bouzar und übrigens vielen anderen Spezialisten ernst nimmt, dann folgt daraus übrigens, dass es wenig hilft radikale Gruppen nur zu verbieten oder zu bekämpfen. Den Samen für die Anfälligkeit junger (und sicher auch älterer) Menschen für radikale Gruppen (völlig egal, ob es sich dabei um politische oder terroristische Gruppen handelt) legen wir selbst in unserer Gesellschaft. Wenn wir Menschen in welcher Form und aus welchen Gruppen auch immer ausschließen, dann suchen sie sich andere Bezugsgruppen, zu denen der Zugang leichter ist. Das ist, wenn man der Evolutionsbiologie glaubt, Teil unseres biologischen Programms.
Dounia Bouzar bezieht sich übrigens in ihrem Beitrag nicht explizit auf die Multilevel-Selektion-Theorie und die sie stützenden neurobiologischen Erkenntnisse. Nach meiner Auffassung ist dies dennoch eines von sehr vielen Beispielen an denen man zeigen kann, welchen Einfluss die Gruppenbindung bzw. der Mangel an Gruppenbindung auf menschliches Verhalten haben kann. Das ist übrigens ein sehr wesentlicher Grund dafür, dass ich die Multilevel-Selektion-Theorie für so relevant halte und sie über meine Beitragsreihe verstehen will.
Wer sich für die Multilevel-Selektion interessiert: Bisher erschienen in dieser Reihe “Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie” 1. Prolog 2. Wilsons Buch “Die soziale Eroberung der Erde” 4. Fehlinterpretation der Formel “Survival of the fittest” 5. Gruppenselektion und Multilevel-Selektion |
Es gibt übrigens viele weiter Anwendungsfälle, auch für die betriebswirtschaftlichen Praxis, auf die ich in der Beitragsreihe genauso eingehen werde wie auf die neurobiologische Fundierung.
Comments on this entry are closed.
{ 4 trackbacks }