Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie (09): Wird sich Multilevel-Selektion gegen ökonomische Neoklassik etablieren?

by Dirk Elsner on 30. März 2016

Ich habe hier in bisher 8 Beiträgen meine bisherigen Gedanken zu der modernen Weiterentwicklung von Darwins Evolutionstheorie verarbeitet, weil ich derzeit lerne, dass dieses Modell bessere Erklärungen für das menschliche Verhalten liefert und für Ökonomen sogar in seiner Spezialform den “homo oeconomicus” enthält.

Bisher erschienen in dieser Reihe “Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie”

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Der Weg zu einem neuen ökonomischen Modell muss noch freigeräumt werden

Wird die Dominanz des ökonomischen Narratives gebrochen?

Am Ende des letzten Beitrags wies ich auf das “The Evolution Institute” hin. Ein interdisziplinäres Team von Psychologen, Biologen und mittlerweile auch Ökonomen haben sich hier unter der Leitung des in dieser Reihe schon oft zitierten David Sloan Wilson zusammengeschlossen, um auf Basis evolutionsbiologischer Erkenntnisse ein genaueres Modell zu erhalten, wie Unternehmen und Volkswirtschaften handeln. Soweit ich es überblicke, existiert hier noch keine lehrbuchartige Gesamtdarstellung, die man im Sinne von Thomas Kuhn für die Etablierung eines neuen Paradigmas erwarten würde.

Eng mit dem Evolution Institute hängt der Blog “Evonomics” zusammen. Auf ihn habe ich ebenfalls mehrfach hingewiesen. In den letzten Monaten ist hier eine Reihe sehr bemerkenswerter Beiträge erschienen. "Evonomics" steht für die nächste Evolution der Ökonomie, erläutert David Sloan Wilson. Für ihn ist das die Fundierung der Ökonomie durch Evolution- und Komplexitätswissenschaft.[1]

Die Dominanz des ökonomischen Narratives hält sich nach Auffassung von Wilson auch deswegen so gut, weil sie großes einheitliches theoretisches Rahmenwerk bietet. Allerdings hält er die Annahmen dieses Modells für absurd. Das ist manchmal schwer zu erkennen, weil die Ökonomie absurde Annahmen über die menschliche Natur und wirtschaftliche Systeme hinter einer dicken Mauer mathematischen Formalismus versteckt, die die meisten Menschen nicht durchdringen können.[2]

Wilson vergleicht das Festhalten am ökonomischen Mainstream mit der Beharrlichkeit von religiösen Eiferern. Die sind bekanntlich immun gegen Erfahrung, wissenschaftliche Beweise, Logik und gesundem Menschenverstand. Sie halten die in ihren Köpfen gepflanzte Geschichten für so fesselnd, dass sie ihre Vorstellung unabhängig von den Konsequenzen vorantreiben.[3]

Es reiche nach Wilson jedoch nicht aus, eine Geschichte basierend auf der Absurdität ihrer Annahmen abzulehnen. Es muss eine neue Geschichte mit besseren Annahmen her, um akzeptiert zu werden. Sie basiert auf einer Kombination von Evolutionstheorie und Komplexitätstheorie[4] und bietet ein besseres einheitliches Rahmenwerk, um die menschliche Natur und Wirtschaftssysteme erklären zu können[5].

Ich bin überzeugt, dass das im Entstehen befindliche Framework verschiedenste Natur- und Sozialwissenschaften ein gemeinsames Dach bietet. Es bietet auch eine methodologische Basis für praxisnahen Teilgebiete der Ökonomie (z.B. Marketing, Personalwirtschaft, Innovationsmanagement und viele mehr), die sich nicht in das traditionelle ökonomische Modell einfügen. Und sicher passen auch die Erkenntnisse der Behavioral Economics in diesen Rahmen.

Ob es wirklich zu einem Paradigmenwechsel in der Ökonomie kommt, sei einmal dahingestellt. Auch innerhalb der Biologie wird noch intensiv um die Deutungshoheit gefochten, wie die Literatur, auf die ich später noch verweise, zeigt. Für mich ist dabei übrigens nicht die Frage entscheidend, ob die moderne Evolutionstheorie in der Multilevel-Variante alles erklären kann. Das kann sie vermutlich ebenfalls nicht. Mir reicht es, wenn sie viele Phänomene in der Wirtschaftspraxis bessere erklären kann, als traditionelle ökonomische Modelle nebst seinen Weiterentwicklungen, wie der von mir sehr geschätzten Neuen Institutionenökonomik.[6] Ich kann das mit meinen Ressourcen natürlich nicht beweisen. Aber auch die ökonomische Theorie wurde ja nicht bewiesen, sondern wird immer häufiger wiederlegt.

Annäherung aus Sicht der Spieltheorie

Der österreichisch-US-amerikanischer Mathematiker und Biologe Martin Nowak näherte sich der Multilevel-Selektion aus einer anderen Richtung. Mit verschiedenen Kollegen simulierte er unter den Annahmen dieses Modells die Entwicklung von Populationen:

“Wir entwickelten folgendes vereinfachtes Szenario, … verpackt in der Sprache von Kooperation und Defektion: Wenn Individuen mit anderen in derselben Gruppe interagieren, zahlt sich dies für sie aus. Die Individuen können sich proportional zur Auszahlung fortpflanzen, weshalb diejenigen, die von Kooperation profitieren, erfolgreicher sind als die, denen Defektion widerfährt. Und deren Nachkommen kommen zur Gruppe hinzu. Deswegen wachsen kooperative Gruppen schneller.”[7]

Unter diesen und weiteren Annahmen kommt er zu dem Ergebnis:

“Lässt man dieses Modell auf dem Computer laufen, so zeigt sich, dass Gruppen mit überlebensfähigeren Individuen die kritische Größe schneller erreichen und sich schneller aufspalten. Das Überzeugende an diesem Modell ist, dass es zu einer Auslese unter Gruppen führt, obwohl sich nur Individuen fortpflanzen. Die auf der höheren Ebene angesiedelte Gruppenselektion entsteht durch Fortpflanzung auf der unteren Ebene des Individuums.

Bemerkenswerterweise können die beiden Ebenen der Selektion auch gegenläufig wirken, wenn man sie mit Blick auf Kooperation und Defektion betrachtet. Defektoren können innerhalb einer Gruppe auf dem Vormarsch sein, während Gruppen aus Kooperatoren Gruppen aus Defektoren verdrängen. Obwohl eigenes kooperatives Verhalten Individuen zuweilen schadet (wenn sie von Betrügern und Trittbrettfahrern ausgenutzt werden), erwiesen sich in unseren Beobachtungen diejenigen Gruppen, in denen Kooperation entsteht, tendenziell als beständiger als solche, in denen ausschließlich egoistisches Verhalten herrscht.

Spielt man mit den Zahlen unseres Modells, kristallisiert sich zwingend ein

schlichtes Ergebnis heraus. Gruppenselektion ermöglicht Evolution von Kooperation, vorausgesetzt, dass eine Bedingung stets gilt: Das Verhältnis vom Nutzen zu den Kosten ist größer als der Wert eins plus das Verhältnis der Gruppengröße zur Gruppenanzahl. Gruppenselektion funktioniert also gut bei vielen kleinen Gruppen und weniger gut bei wenigen großen, schwerfälligen Gruppen.”[8]

Mittlerweile hat sich unter Biologen die Erkenntnis durchgesetzt[9], “dass die natürliche Auslese auf Individuen wie auch auf Gruppen einwirken kann. Nowak kann dies anhand der klaren Ergebnisse, die sich aus einem mathematischen Verständnis der Evolution ergeben, zeigen. Danach sei leicht zu ersehen, dass die natürliche Auslese auf Individuen wie auch auf Gruppen einwirken kann. Es ist sogar möglich, dass die Selektion auf Gruppen von Gruppen einwirkt. Der einfachste Fall, in dem Selektion gleichzeitig auf Individuen und Gruppen einwirkt, ist als Auslese auf zwei Ebenen vorstellbar. Da die natürliche Selektion auch auf Gruppen von Gruppen und sogar auf zahlreichen höheren Ebenen wirken kann, wird dieses Phänomen inzwischen häufig als «Multilevel-Selektion» bezeichnet?”[10]

Nach Auffassung von Nowak spricht inzwischen ein breites Spektrum an experimentellen und theoretischen Belegen dafür, dass diese Art der Auslese ein kennzeichnender und grundlegender Prozess ist, der die gesamte Evolution durchwirkt. Weiter schreibt Nowak:

“Das Konzept der Gruppenselektion enthält keine Annahmen darüber, ob sich Individuen kooperativ oder egoistisch verhalten, ganz zu schweigen davon, ob Gene an sich wirklich eigennützig sind. Es besagt lediglich, dass ein intensiver Konkurrenzkampf zwischen Gruppen die Entstehung von Mechanismen begünstigt, durch welche die Trennlinie zwischen dem Wohl der Gruppe und dem des Individuums verschwimmt, wenn diese die Lebenstauglichkeit oder Anpassung auf der Ebene der Gruppe verbessern.”[11]

Das klingt schon fast nach Beschreibung unserer Wirtschaftsordnung. Und auch die weiteren Ausführungen Nowaks könnten aus einem ökonomischen Lehrbuch stammen:

“Damit Gruppenselektion stattfindet, bedarf es des Konkurrenzkampfes zwischen Gruppen sowie eines gewissen Maßes an Zusammenhalt innerhalb der jeweiligen Gruppe. Gruppen sind, je nachdem, wie hoch der Anteil der Altruisten unter ihnen ist, an ihre Umgebung unterschiedlich gut angepasst. Wenn sich 80 Prozent altruistisch verhalten, behauptet sich die Gruppe besser als eine, unter denen nur 20 Prozent Altruisten leben. Während die Selektion innerhalb der Gruppe egoistisches Verhalten fördert, behaupten sich Gruppen mit zahlreichen Altruisten nach außen erfolgreicher. In welchem Maß die Gruppenselektion wirkt, hängt natürlich von wichtigen Umständen wie der Migration und dem Zusammenhalt innerhalb der Gruppe ab. Unter diesem Vorbehalt kann die natürliche Auslese tatsächlich auf mehreren Ebenen wirken, von der Ebene der Gene über die der Gruppen aus verwandten Individuen bis hin zu Arten und wohl auch darüber hinaus.”[12]

“Ähnlich wie bei der Schachtelung der russischen Matrjoschka-Figuren hat man es hier mit Gruppen innerhalb von Gruppen innerhalb von Gruppen zu tun. Wie erwähnt, bezeichnen viele (mich eingeschlossen) die Gruppenselektion deshalb auch als Multilevel-Selektion. Konzentriert man sich nur auf die individuelle Selektion, übersieht man das umfassendere Bild und die wichtigen Evolutionsprozesse, die auf übergeordneten Ebenen wirken. Diese laufen innerhalb von Arten und vielleicht sogar innerhalb ganzer Ökosysteme ab und tragen mit dazu bei, unsere biologische Umwelt zu formen und auszugestalten. Meine Forschungsarbeit mit Arne Traulsen liefert die theoretische Grundlage, um zu erklären, dass man zu einer beliebigen Anzahl von Selektionsebenen gelangen kann.”[13]

Nowak ist beeindruckt von der Multilevel-Selektion, weil sie auf der Ebene der DNS und der Gene, aber auch auf kultureller Ebene wirkt. Multilevel-Selektion kann als ein weiterer Mechanismus verstanden werden, der für die Evolution der Kooperation verantwortlich ist. Die Multilevel-Selektion kann bedingungslose Kooperatoren unterstützen, die sich ohne eine komplizierte Strategie durchs Leben schlagen.[14]

Anhaltende Debatte zur Multilevel-Selektion

Wie bereits mehrfach angedeutet, streiten Wissenschaftler weiterhin über den Paradigmenwechsel in der Biologie. Ich kann diese hochkarätige Debatte hier nicht nachzeichnen, denn hier debattieren Evolutionsbiologen in einer fachwissenschaftlichen Detailtiefe, vor der ich zu großen Respekt habe[15]. Wer in diese einsteigen möchte, der erhält hier einige Lesehinweise auch auf Kritiker.

darauf reagierend

Weitere Literatur zur Vertiefung

Ist die Multilevel-Selektion nun etabliert?

Es wäre vermessen zu behaupten, das Modell der Multilevel-Selektion habe sich bereits etabliert. Die Literatur oben zeigt, dass allein unter Biologen noch heftige Debatten über die Akzeptanz dieses Modell geführt werden. In den Kommentaren zu den Teilen 4 und 6 meiner Beitragsreihe hat der bekannte Systemanalytiker Peter Mersch deutliche Kritik an der Multilevel Selektion geäußert. Mersch vertritt in Die egoistische Information, 4. Aufl. 2015. ein anderes evolutionsbiologisches Modell.

Es kann aber vorerst dahingestellt bleiben, ob das Modell der Multilevel-Selektion oder eine andere Variante sich durchsetzen werden. Eine Theorie bleibt ohnehin nur ein grobes Abbild der Realität. Bisher hat sich stets gezeigt, dass jede noch so ausgefeilte Theorie eines Tages durch ein besseres Modell abgelöst wird. Ich lasse derzeit in vielen Gedankenspielen für Erklärungen in der Wirtschaftspraxis das ökonomische Modell gegen die MST antreten[16]. Die MST gewinnt hier stets. Das ist nicht überraschend, denn nach meiner Auffassung ist das neoklassische Verhaltensmodell als ein Spezialfall in der der MST enthalten. Bis sich das Modell in den ökonomischen Wissenschaften durchsetzt, wird es wohl noch etwas dauern[17]. Ich würde mir aber wünschen, dass es neben dem mittlerweile umfangreichen Schrifttum in den USA auch Forscher in Deutschland gibt, die sich tiefer mit der Materie befassen. Im Zuge meiner Recherchen habe ich mich auch mit den neurobiologischen Grundlagen befasst. Auch dieses Gebiet ist Neuland für mich, dem ich mich im nächsten Beitrag vorsichtig nähern möchte.


[1] Das erinnert zwar an die "Evolutionsökonomik ", aber die beiden Begriffe haben eine unterschiedliche Geschichte. Die Evolutionsökonomik kam in den 1980er Jahren mit Bücher wie Nelson und Winter’sAn Evolutionary Theory of Economic Change auf. "Evonomics" wurde von Michael Shermer geprägt in dem 2007 erschienen Artikel im Scientific American, in dem er beschreibt, wie die kulturelle Entwicklung im modernen Leben der biologischen Evolution gleicht. Vgl. David S. Wilson, From Political Gridlock to Scientific Progress. The Promise of Evonomics, on Evonomics, November 2016, Evonomics.com. Michael Shermer Evonomics, Evolution and economics are both examples of a larger mysterious phenomenon, Scientific American, January 1, 2008.

[2] David S. Wilson, The Dominant Economic Narrative Destroys Your Business and the Economy, on Evonomics am 23.3.2016.

[3] David S. Wilson, The Dominant Economic Narrative Destroys Your Business and the Economy, on Evonomics am 23.3.2016.

[4] David Sloand Wilson, The Dominant Economic Narrative Destroys Your Business and the Economy, on Evonomics am 23.3.2016.

[5] David S. Wilson, Earth to Economics: Welcome to Science 101, on Evonomics am 20.3.2015.

[6] Siehe dazu Dirk Elsner, Grundlagen meiner ökonomischen Denke, o. Datum, Blick Log.

[7] Martin A. Nowak, Roger Highfield, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, Pos. 1710 ff.

[8] Martin A. Nowak, Roger Highfield, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, Pos. 1718 f.

[9] In dem Arbeitspapier “Evolution of conditional cooperation under multilevel selection” haben Huanren Zhang und Matjaž Perc unter dem Konzept der Multilevel-Selektion die Wirkungen verschiedene Strategien innerhalb und zwischen verschiedenen Gruppen untersucht.

[10] Martin A. Nowak, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, 2013, Pos. 1620 ff. Siehe außerdem Pos. 1689 ff. zur Mathematik der Gruppenselektion.

[11] Martin A. Nowak, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, 2013, Pos. 1810 ff.

[12] Martin A. Nowak, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, 2013, Pos. 1816 ff.

[13] Martin A. Nowak, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, 2013, Pos. 1810 ff.

[14] Martin A. Nowak, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, 2013, Pos. 1828 ff.

[15] Derzeit kann ich diese Debatte noch nicht sinnvoll zusammenfassen. Vielleicht gelingt mir das, wenn ich im Laufe der Zeit mehr über die Zusammenhänge gelernt habe.

[16] Ich werde das in späteren Beiträgen zeigen und hin und wieder in eigenständigen Beiträgen in meinem Blog, wie z.B. hier Radikalisierung Jugendlicher: Wenn Gruppenbindung verlorengeht am 13.2.2016.

[17] Diejenigen, die die Mathematik in dem neuen Ansatz vermissen, kann ich beruhigen, denn auch in der biologischen Literatur habe ich viel Mathematik gesehen, deren Darstellung ich mir hier allerdings sparen muss. Siehe aber zum Beispiel Andy Gardner, The genetical theory of multilevel selection, in Journal of Evolutionary Biology, Vol. 28 (2015), S. 305 – 319.

Peter Mersch April 3, 2016 um 23:43 Uhr

Dass wir neue, realistischere ökonomische Modelle benötigen, sehe ich auch so. Inwieweit ausgerechnet die Evolutionsbiologie (und hier insbesondere die Multilevel-Selektion, MLS) helfen kann, leuchtet mir noch immer nicht ein. Es fängt schon damit an, dass die beteiligten Theoretiker (z. B. Nowak in den Zitaten [11]-[13] und alle verlinkten Kritikbeiträge zur MLS und die „darauf reagierend“en Beiträge) im Grunde allesamt dem methodologischen Individualismus zugerechnet werden können (demnach sind stets nur Lebewesen Akteure, niemals aber Gruppen aus Lebewesen). Die MLS kann deshalb nichts mit Superorganismen anfangen (Pinker aber offenkundig ebenfalls nicht). Die Begründung für die Verbreitung von Altruismusgenen läuft im Rahmen der MLS so: Gruppen mit Altruisten sind fitter als Gruppen ohne Altruisten. Hierdurch kann der Anteil der genetischen Altruisten in der Gesamtpopulation zunehmen, obwohl er in den Gruppen mit Altruisten sinkt. Dies kann jedoch über mehrere Generationen (d.h. evolutionär) hinweg nur funktionieren, wenn eine regelmäßige Gruppenneubildung stattfindet (eine regelmäßige Vermischung von Gruppen). Die Gruppen können folglich keine Superorganismen sein, die eigene Kompetenzen und Identitäten besitzen. Man dürfte sich deshalb schwer damit tun, Insektensozialstaaten und Unternehmen als Superorganismen mit eigenständigen Kompetenzen zu verstehen. An dieser Schwierigkeit ist bislang auch die Population Ecology of Organizations Theory gescheitert. Aufgrund der Darwinschen Limitationen wurde stets angenommen, dass auch Organisationen nur durch fortwährende Elimination und Neugründung evolvieren können.
Ich hatte bei einem wissenschaftlichen Kongress mal die Frage gestellt, ob sich die Teilnehmer vorstellen können, dass Unternehmen eigenständige Akteure sind. Mehr als 90% antworteten: Nein. Ihrer Meinung nach würden nur die Menschen in den Unternehmen agieren. Schon die deutsche Gesetzgebung sieht das aber anders. Aktiengesellschaften z. B. sind juristische Personen. Sie können Menschen verklagen. Ich habe die gleiche Frage später unter Abteilungsleitern der Finanzindustrie (Deutsche Bank, Deutsche Börse, Dresdner Bank etc.) gestellt. Hier waren mehr als 90% der Befragten der Meinung, dass Unternehmen eigenständige Akteure sind. Einige antworteten sogar: „Wie kann man nur so blöd fragen? Das sei doch selbstverständlich!“ Offenbar bestimmt das Sein also das Bewusstsein.
Die zweite Meinung (Unternehmen sind Akteure) fällt wissenschaftstheoretisch unter den Begriff „methodologischer Kollektivismus“. Die Systemische Evolutionstheorie folgt diesem Paradigma. Für sie sind Bienensozialstaaten und Unternehmen Akteure, die eigenständige Kompetenzen besitzen (in den obigen Texten wird oft etwas unklar von kulturellen Gruppenmerkmalen statt von Kompetenzen gesprochen).
Das Besondere an den Superorganismen als Akteure ist: Sie sind potenziell unsterblich. Sie reproduzieren ihre Kompetenzen nicht per Selbstvervielfältigung (Replikation). Ganz entsprechend ist bereits der Begriff der Selektion auf sie kaum mehr anwendbar. Nehmen wir einmal ein praktisches Beispiel aus der Finanzindustrie. A und B seien zwei Banken, die beide ihre eigenen Internetauftritte besitzen. Irgendwann integriert die Bank A eine neue Kundenfunktion von potenziell großem Kundennutzen in ihren Webauftritt. Man könnte sagen: Bank A besitzt damit ein neues kulturelles Merkmal. Dann wird aber Bank B schon bald versuchen, eine ähnliche (und vielleicht noch bessere) Funktion in ihren eigenen Internetauftritt zu integrieren. Was wird hier selektiert? Die Banken? A und B bestehen aber beide im gesamten Zeitraum. Ein Kundenwechsel hat noch nicht stattgefunden. Allerdings befürchtet B, dass es dazu kommen könnte, wenn A die neue Funktion hat, B aber nicht. Hat eine Selektion bei der Funktion stattgefunden? Darwinistisch kann man das so nicht sagen. Auch wurde sie nicht einfach kopiert, sondern auf der Internettechnologie der Bank B in deren Internetauftritt integriert.

Für die Systemische Evolutionstheorie sind die beiden Banken Superorganismen und damit „Kompetenzverlust vermeidende Systeme“. Sie verhalten sich informationsegoistisch bzw.: Sie sind bestrebt, eine absolute/komparative Schwächung ihrer Kompetenzen zu vermeiden. Es ist dieses Verhalten, was die obigen Ergebnisse hervorbringt, und zwar ggf. schon bevor sich auf dem Markt überhaupt irgendetwas tut. Die Akteure agieren ggf. präventiv. Bei der Technologieentwicklung ist das der Standard: Man entwickelt neue Produkte ggf. Jahre im Voraus, bevor man also die Produkte der Konkurrenz überhaupt kennt.

Die Systemische Evolutionstheorie besitzt demnach ein integriertes Verhaltensmodell, das u. a. in direkter Konkurrenz zum Verhaltensmodell des Homo oeconomicus steht. Demgegenüber kann ich bei der MLS nicht erkennen, wie ihr Verhaltensmodell aussieht (hat sie überhaupt ein klar definiertes Verhaltensmodell?). Das Verhaltensmodell der Systemischen Evolutionstheorie hat in vielen Punkten Übereinstimmungen mit den Modellen der Verhaltensökonomie. Z. B. wurde dort nachgewiesen, dass Menschen eine Verlustaversion besitzen. Sie geben potenziellen Verlusten eine höhere Bedeutung als potenziellen Gewinnen. Das von der Systemischen Evolutionstheorie angenommene Grundverhalten (aller Lebewesen und sonstigen Evolutionsakteure) der absoluten und komparativen Kompetenzverlustvermeidung prognostiziert exakt ein solches Verhalten.

Sehr weit akzeptiert wird in der Evolutionsbiologie die Theorie der egoistischen Gene (worauf die Verwandtenselektion beruht). Sie besitzt ebenfalls ein Verhaltensmodell, nämlich dass sich Lebewesen gen-egoistisch verhalten. Für Dawkins ist das Besondere an Genen, dass sie Replikatoren sind. Ergo verallgemeinerte er die Theorie der egoistischen Gene zu einer Theorie der egoistischen Replikatoren. Ein Ausdruck davon ist die sogenannte Memetik mit den egoistischen Kulturreplikatoren „Meme“. Man hätte aber auch sagen können, dass Gene Informationsträger sind und die Theorie der egoistischen Gen-Informationen zu einer generellen Theorie der egoistischen Informationen verallgemeinern können. Genau darauf weist der Physiker/Chemiker Peter Atkins hin.

In der 5. Auflage von „Die egoistische Information“ ( http://www.mersch.com/molmain/main.php?docid=350 ) führe ich einen entsprechenden Egoismus auf den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik in einer informationstheoretischen Formulierung (gemäß Arieh Ben Naim) zurück. Der Beweis ist ebenfalls im Buch enthalten. Anders als es Erwin Schrödinger in „Was ist Leben?“ noch behauptet hatte, wären Lebewesen also nicht primär darum bemüht, ihren unwahrscheinlichen Zustand von niedriger Entropie aufrechtzuerhalten, sondern die niedrige Entropie ihres hypothetischen Modells der Umwelt. Im Darwinschen Sinne könnte man die niedrige Entropie des hypothetischen Modells der Umwelt auch als „Anpassung“ definieren. Damit ist die Beziehung zur Evolutionstheorie hergestellt, die bei Schrödinger noch vollständig fehlte. Lebewesen sind demnach allesamt hypothetische Realisten.

Ich würde meinen, dass solche Vorstellungen auch Auswirkungen auf die Ökonomie haben können. In meinem Buch führe ich das direkt vor: Da werden ganz konkrete ökonomische Probleme behandelt. Es werden Resultate geliefert, beispielsweise zur Demografie, zur Neuen Institutionenökonomik, zur Population Ecology of Organizations-Theorie. Bei den Problemen des demografischen Wandels und des demografisch-ökonomischen Paradoxons wird u. a. gezeigt, dass sie mit familienpolitischen Maßnahmen in unserer Gesellschaft nicht lösbar sind (was aus den klassischen ökonomischen Modellen der Demografie nicht folgt). Die bisherigen Modelle haben u. a. nicht berücksichtigt, dass Unternehmen Akteure sind, die in der Frage andere Interessen verfolgen, als die Menschen, die sie beschäftigen. Wer die Probleme lösen möchte, muss aber die Interessen der Unternehmen mit berücksichtigen, sonst scheitert er.

Für gravierend halte ich auch einen anderen Punkt: Mehrere Nobelpreisträger unter den Ökonomen haben die Bedeutung und Schwierigkeit des Theorems von Ricardo hervorgehoben (u. a. Samuelson und Krugman). Krugman hat das Theorem mit Darwins natürlicher Selektion verglichen. In meinem Buch zeige ich u.a., dass das Theorem für die kulturelle Evolution von einer ähnlichen Bedeutung ist wie Darwins natürliche Selektion für die Evolution einfacher Lebewesen.

Erwähnt irgendeine dieser der Biologie nahestehenden Personen, die Sie zitieren, das Theorem von Ricardo? Taucht es in deren Büchern auf? Hat man versucht, es mithilfe der MLS herzuleiten? Immerhin stellt es die beste Erklärung dafür dar, warum es in menschlichen Gesellschaften fast zwangsläufig zur Kompetenzteilung und damit zur Spezialisierung und damit zur Entwicklung ausgefuchster kultureller Merkmale kommt.

Schließlich: Wo erfolgt in den von Ihnen zitierten Artikeln und Werken ein Hinweis auf die Respektierung von Verfügungsrechten, was für menschliche Gesellschaften geradezu entscheidend ist?

Im Pinker-Artikel heißt es z. B. an einer Stelle: „People are ’nice‘, both in the everyday sense and the technical sense from game theory, in that they willingly confer a large benefit to a stranger at a small cost to themselves, because that has some probability of initiating a mutually beneficial long-term relationship.“

Ich halte diese Begründung für völlig absurd. In meinem Buch zeige ich u. a., dass bereits die Tatsache, dass Menschen kompetenzverlustvermeidende Systeme sind, die vorhandene Verfügungsrechte von anderen Menschen respektieren (und damit die Tatsache, dass diese ebenfalls kompetenzverlustvermeidende Systeme sind) dazu führt, dass wir uns im Normalfall entschuldigen, wenn wir andere nach dem Weg zum Bahnhof fragen (dass wir also „nett“ zueinander sind).

Leider besteht in Deutschland (und in deutsch) keine Diskussionskultur zu den Themen. Man geht im Allgemeinen davon aus, dass die Themen im angelsächsischen Sprachraum zu unserer vollen Zufriedenheit ausdiskutiert werden, sodass wir die Resultate später nur übernehmen müssen (um sie vielleicht hier und da um ein paar Nuancen zu erweitern).

Marc März 30, 2016 um 12:37 Uhr

Die Absurdidät der Neoklassik ist nicht „hinter einer dicken Mauer mathematischen Formalismus versteckt, die die meisten Menschen nicht durchdringen können.“ Der Fehler befindet sich in der Grenznutzentheorie. Aus einem merkwürdigen Zufall beschreibt sie das Konsumverhalten bei einer Mangelwirtschaft korrekt und funktionierte daher in der vergangenheit auch, aber sie ist schlicht falsch. Bei einer modernen Wirtschaft mit Massenproduktion und gesättigten Märkten produziert die Grenznutzentheorie nur unsinnige Aussagen.

http://www.wiesaussieht.de/2015/03/22/grenzwertiger-nutzen-ein-gastbeitrag-von-marc-schanz/

Daher modelliert die Neoklassik die Nachfrage völlig falsch. Es ist mehr als überfällig, dass bessere ökonomische Paradigmen diesen gravierenden Fehler endlich beheben.

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