Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie (05): Gruppenselektion und Multilevel-Selektion

by Dirk Elsner on 7. Dezember 2015

Den Titel dieser Reihe mögen manche so interpretieren, dass die Evolutionstheorie die Ökonomie ablösen solle. Das ist nicht meine Absicht, denn Evolutionsbiologen befassen sich bisher bestenfalls am Rande mit ökonomischen Fragestellungen. Gut möglich, dass sich das aber bald ändert. Unter dem Vordenker David Sloan Wilson haben sich mehrere Wissenschaftler zu einer neuen Denkrichtung zusammengetan, die sie “Evonomics”[1] nennen und evolutionsbiologische Erkenntnisse auf ökonomische Fragestellungen anwenden.

Bisher erschienen in dieser Reihe “Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie

  1. Prolog
  2. Wilsons Buch “Die soziale Eroberung der Erde”
  3. Exkurs Evolutionsforschung
  4. Fehlinterpretation der Formel “Survival of the fittest”

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Vom Dinosaurier zum Vogel benötigte die Evolution 50 Millionen Jahre[2]

David Sloan Wilson ist, wie sein Namensvetter Edward O. Wilson, Professor für Biologie und weitet die Erkenntnisse der in dieser Reihe im Fokus stehenden Multilevel-Selektion auf Anwendungsbereiche außerhalb der Biologie aus. Im unbedingt empfehlenswerten Blog “Evonomics” befassen sich David S. Wilson und viele andere mit verschiedensten Facetten der Anwendung der Evolutionstheorie auf ökonomische Themen.

Und das finde ich sehr fruchtbar, denn die Evolutionstheorie hilft viele Verhaltensweisen, die Ökonomen als Anomalien bezeichnen[3], richtig einzuordnen. Dabei wird das Verhalten des Homo Oeconomicus übrigens nicht ausgeschlossen. Ich halte den “rationalen Modellagenten” der Ökonomen sogar für integriert in das Modell[4], aber eben nicht als das einzig “richtige” Verhalten.

Daneben teile ich die Auffassung des anderen Wilson, nämlich von Edward O. Wilson, dessen Gedanken und Bücher mich überhaupt erst zu dieser Reihe erst inspiriert haben. Er schreibt in seinem aktuellen Buch:

“Um das heutige Menschsein zu begreifen, müssen wir auf die biologische Evolution unserer Art und die Umstände ihrer prähistorischen Entwicklung zurückgehen. Die Aufgabe, die Menschheit zu verstehen, ist zu bedeutsam und zu einschüchternd, um sie ganz den Geisteswissenschaften zu überlassen. Deren zahlreiche Disziplinen von Philosophie bis Jura, von Geschichte bis bildende Kunst, haben die Besonderheiten der menschlichen Natur in zahllosen Variationen wieder und wieder beschrieben, und das mit unstreitigem Genie und bis ins letzte Detail. Nicht erklärt aber haben sie, warum wir gerade unsere Natur haben und keine andere von den vielen vorstellbaren Naturen. In diesem Sinn haben die Geisteswissenschaften noch kein volles Verständnis für den Sinn unserer Existenz erbracht und werden es auch nie erbringen.”[5]

Ich bin daher sehr dafür, dass Ökonomen in ihren Verhaltensmodellen die Realitäten anerkennen sollten, die Evolutionsbiologen beschreiben. E. O. Wilson fordert die biologische und kulturelle Gesamtevolution als nahtlose Einheit zu erforschen. Wie viele andere Wissenschaftler interpretiert er die Geschichte des Menschen nicht als Umsetzung eines übernatürlichen Plans, dessen Urheber wir Gehorsam schulden. Er plädiert dafür zu überlegen, welchen Beitrag die Naturwissenschaften zu den Geisteswissenschaften leisten können und umgekehrt, damit sie gemeinsam solide begründete Antwort suchen können.[6]

Nach den ersten vier Teilen wird es damit endlich Zeit, sich dem Modell der Multilevel-Selektion zu nähern. Dieses Modell ist der ursprüngliche Auslöser für diese Reihe. Eigentlich müsste man an dieser Stelle die unter Biologen in den letzten Jahrzehnten intensiv ausgefochtene Debatte über verschiedene Selektionskonzepte nachzeichnen. Das kann ich hier nicht leisten, denn allein die populärwissenschaftliche Literatur dazu ist erdrückend.[7]

Selektionsebenen der Evolution

Die Evolutionsbiologie sucht nach dem “Großmeister der fortgeschrittenen sozialen

Evolution, also der Kombination von Kräften und Umweltbedingungen, die den Trägern hoher sozialer Intelligenz ein höheres Lebensalter und erfolgreichere

Fortpflanzung ermöglichten.”[8] Über die genauen Antriebskräfte gibt es verschiedene Modelle. Einigkeit besteht unter Biologen offenbar darin, dass die Selektion[9] auf mehreren Ebenen wirkt, nämlich

  1. auf der Ebene der Gene[10] (Genselektion),
  2. beim Individuum, also am ganzen Organismus (Individualselektion) und
  3. auf Gruppen bzw. Populationen (Gruppenselektion).

Die Fähigkeit zu überleben und der reproduktive Erfolg (Fitness) hängt also von verschiedenen Faktoren ab. Selektionsvorgänge auf der Stufe von Populationen werden diskutiert, um die Evolution von gewissen Verhaltensmerkmalen (z. B. Altruismus, Kooperation) und den Zusammenhalt sozialer Gruppen zu erklären.[11]

Ein Einstiegspunkt in die Differenzierung auf mehrere Ebenen liegt darin, dass viele Biologen Probleme damit hatten, Gemeinsinn und Selbstlosigkeit mit der Evolution zu erklären. Hartmut Wewetzer fasst das einmal für die ZEIT zusammen:

“Wie kann die natürliche Auslese ausgerechnet soziales Verhalten, den Zusammenhalt in der Gruppe fördern? Der Streit darüber, ob es neben "egoistischen" auch "altruistische" Gene gibt, ist erneut entbrannt. Während der Harvard-Biologe Martin Nowak bereits von der Kooperation als dritter Säule der Evolution spricht – neben der natürlichen Auslese und der Mutation, also dem Entstehen neuer genetischer Varianten –, lästert der Evolutionstheoretiker Richard Dawkins über den "Gruppenwahn."

Gruppenselektion am Beispiel Fußball

Um das oben gesagte etwas verständlicher ins Bild zu setzen wählt Axel Lange den Vergleich mit dem Fußball:

“Vereinfacht und bildlich gesprochen läuft es doch darauf hinaus: Kann die

Fußballmannschaft mit dem besten Stürmer gegen eine andere Mannschaft mit einem weniger guten Stürmer, aber einem starken Teamgeist verlieren? Darum geht es bei Gruppenselektion. Beides ist möglich. Der Topstürmer kann seiner Mannschaft zum Sieg verhelfen, dann hat sich biologisch die Individualebene durchgesetzt und hat den Mannschaftsgeist unterlaufen oder besiegt, ganz wie man es bezeichnen will. Oder aber die gegnerische Mannschaft gewinnt trotz ihrer Stürmerdefizite, eben mit ihrem besseren Mannschaftsgeist.

Wir haben es bei der Fußballmannschaft also mit zwei Levels zu tun: Mit der individuellen Ebene des Stürmers und mit der Mannschaftsebene. Beide Ebenen spielen gleichzeitig mit bei der Frage, wer gewinnt und wer am Ende der Saison in der Liga bleibt bzw. biologisch gesprochen, bei der Frage, wer die bessere Fitness hat. Dass Selektion auf verschiedenen Ebenen existiert, vom Gen über die Zelle über Organe über den Organismus bis zu kleinen oder großen Gruppen, das heute abzulehnen, bedarf schon großer Anstrengung.”[12]

Varianten der Gruppenselektion

Für die Selektion von Gruppen wurden in den letzten Jahren verschiedenste Varianten diskutiert.

“Insbesondere zur Erklärung der Kooperation wurde schon sehr früh die Selektion auf Gruppenebene ins Spiel gebracht (Gruppenselektion). In dieser Sicht wurden Gruppen wie Individuen betrachtet, die sich vermehren. Gruppen mit Merkmalen, die besser an die Umwelt angepasst sind und unter Umständen besser kooperieren, vermehren sich schneller und setzen sich gegen andere Gruppen durch. Auf diese Weise ließen sich Gruppenphänomene erklären, die sich scheinbar den Grundsätzen individual-selektionistischer oder gen-egoistischer Modelle widersetzen.

Die Idee der Gruppenselektion wurde etliche Jahrzehnte von der Selektion auf Gen-Niveau verdrängt. In den letzten Jahren findet jedoch eine ertragreiche wissenschaftliche Kontroverse statt, die versucht die Gruppenselektion gen-egoistisch zu erklären, als eigenständiges Selektionsniveau zu rehabilitieren oder auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen”[13]

Das Prinzip der Gruppenselektion wurde heftig diskutiert. Hartmut Wewetzer rechnete den populären VerhaltensforscherKonrad Lorenz zu den bekanntesten Verfechtern, denn Lorenz propagierte die Idee der Arterhaltung. Danach handeln Tiere gegenüber Artgenossen altruistisch, um das Überleben der Art nicht zu gefährden.[14]

In seinem Werk “Die Abstammung des Menschen” wies Darwin daraufhin, dass Individuen zum Wohl ihrer Gruppe agieren. Auf diese Art und Weise kann sich die Gruppe auf Kosten des Einzelnen erfolgreich durchsetzen.[15]

Kooperatives Verhalten könnte die natürliche Auslese so fördern, dass es das Fortpflanzungspotenzial der Gruppe als Ganzes erhöht, fasst Martin Nowak Darwins Erkenntnisse zusammen. Er schreibt aber auch, dass viele moderne Biologen nur Hohn und Spott für die Annahme fanden, dass Gruppen von Organismen, die ein gemeinsamer wohltätiger Zug auszeichnet, gegenüber anderen einen Überlebensvorteil haben könnten. Weiter schreibt Nowak:

“Vor noch nicht allzu langer Zeit geißelten zahlreiche Evolutionsbiologen die «Gruppenselektion», wie sie später hieß, geradezu als Ketzerei. Das Konzept wurde zurückgewiesen, zerpflückt und unter den Teppich gekehrt. Seine Kritiker vertraten den Standpunkt, der «Gruppenselektionsirrtum» gehe aus «amateurhaften Fehldeutungen von Darwins Lehre» hervor. Diese unterliefen sogar «Berufsbiologen, die es besser wissen müssten». Solche dogmatischen Ansichten weichen heute allerdings auf.”[16]

An anderer Stelle schreibt Nowak

“Die meisten Evolutionstheoretiker pochten darauf, dass sämtliche Anpassungen aus dem individuellen Eigeninteresse heraus zu erklären seien. Nach ihrer Argumentation breiteten sich am Ende diejenigen Gene aus, die das Überleben des Individuums am besten sicherten und an die nächste Generation weiterreichten, sei es durch gewiefte Kooperation oder durch unbeirrbaren Eigennutz. Nach dieser Sicht setzten sich Erbanlagen nur dann durch, wenn sie ihren jeweiligen Trägern nützen. Damit war die Sache erledigt. Ein Jahrhundert nachdem Darwin seine aufkeimenden Gedanken zum Thema Umrissen hatte, war der Begriff  «Gruppenselektion» tabu geworden.”[17]

Verwandtenselektion

Die alte Theorie der Gruppenselektion nach Vero Wynne-Edwards wird heute meist abgelehnt. Strittig ist ebenso das Modell der Verwandtenselektion (kin selection), die von John Maynard Smith und William D. Hamilton entwickelt wurde. “Richard Dawkins hat dieses Konzept durch seine Theorie vom „egoistischen Gen“ erweitert und popularisiert. Auf Robert Trivers geht das Konzept des reziproken Altruismus zurück.”[18] Edward O. Wilson erklärt die Verwandtenselektion so:

“Ihr zufolge bevorzugen Individuen Verwandte (außer eigenen Nachkommen) und erleichtern damit die Entwicklung von Altruismus unter Mitgliedern derselben Gruppe. Komplexes Sozialverhalten kann sich herausbilden, wenn für jedes Mitglied der gesamten Gruppe der Nutzen des Altruismus (nämlich eine größere Anzahl von gemeinsamen Genen, die an die nächste Generation weitergegeben werden) die Kosten, die das Individuum dafür aufbringen muss, übersteigt. Die mit dem Altruismus verbundene Auswirkung auf Lebensdauer und Fortpflanzungserfolg eines Individuums bezeichnet man als «Gesamtfitness» (auch «inklusive Fitness»); die Erklärung der Evolution anhand dieses Phänomens wird als Theorie der Gesamtfitness bezeichnet.”[19]

Edward O. Wilson beschreibt in seinem Spätwerk “Der Sinn des menschlichen Lebens” im Kapitel “Die Antriebskraft der sozialen Evolution” wie es das Paradigma der Verwandtenselektion und ihre Erweiterung, die Gesamtfitness, zunächst bis zum Dogma brachte und sich dann nach Wilsons Auffassung als grundlegend falsch erwies.[20] Das ist spannend zu lesen und sicher unter Evolutionsbiologen weiter umstritten. Ich möchte das aber hier nicht nachzeichnen.[21]

 

Ich schrieb eingangs, dass ich mich in diesem Beitrag dem Modell der Multilevel-Selektion hier nur annähere. Im nächsten Teil wird es dann endlich konkret.


[1] Siehe zum Selbstverständnis und zur begrifflichen Abgrenzung von Evonomics: David S. Wilson, From Political Gridlock to Scientific Progress. The Promise of Evonomics, on Evonomics, November 2015, Evonomics.com.

[2] Alina Schadwinkel, Wie rasant Dinos zu Vögeln schrumpften, Zeit.de am 31.7.2014.

[3] Ökonomen dient der “Homo Oeconomicus” oft als “normatives Referenzmodell”. Abweichungen von ihm werden als “dumm und irrational” gewertet. Siehe dazu Dirk Elsner, Neoklassik und “Homo Oeconomicus” (4): Warum der ökonomische Modellmensch kein Referenzmodell sein kann, auf Blick Log am 9.3.2015

[4] Ich komme darauf in einem späteren Beitrag zurück.

[5] Edward O. Wilson, Der Sinn des menschlichen Lebens, 1. Aufl. 2015, Kindle Edition, Pos. 109.

[6] Edward O. Wilson, Der Sinn des menschlichen Lebens, 1. Aufl. 2015, Kindle Edition, Pos. 117.

[7] Ich würde als Einführung für Menschen, die sich damit bisher nicht befasst haben, erst einmal den Wikipedia-Artikel zur Multilevel-Selektion empfehlen. Hier wird u.a. die Vorgeschichte und die prinzipielle Kritik an ursprünglichen Gruppenselektion grob skizziert.

[8] Edward O. Wilson, Der Sinn des menschlichen Lebens, 1. Aufl. 2015, Kindle Edition, Pos. 186.

[9] Auf die Begriffe Selektion und Fitness bin ich bereits in Teil 3: Exkurs Evolutionsforschung eingegangen.

[10] Hier sei schon einmal darauf hingewiesen, dass es nicht nur um die Gene geht, sondern auch um bestimmte Varianten desselben Gens, Allele genannt sowie um epigenetische Faktoren, über die auch kulturelle Elemente in das Modell integriert werden. Dazu in einem späteren Beitrag mehr.

[11] Vgl. Volker Storch, Ulrich Welsch, Michael Wink, Evolutionsbiologie, 3., überarb. u. aktual. Aufl. 2013, Abschnitt 3.5.4. Zitat um Literaturhinweise gekürzt. Siehe außer zu der Entwicklung und dem Streit über verschiedene Selektionskonzepte Axel Lange, Darwins Erbe im Umbau – Die Säulen der Erweiterten Synthese in der Evolutionstheorie, Würzburg 2012, S. 241 ff.

[12] Axel Lange, Darwins Erbe im Umbau – Die Säulen der Erweiterten Synthese in der Evolutionstheorie, Würzburg 2012, S.249 f.

[13] Bemhart Ruso, Evolution der Kooperation – Multilevel Selektion am Beispiel Biene und Mensch, in: Über das Entstehen und die Endlichkeit physischer Prozesse, biologischer Arten und menschlicher Kulturen, Hartmut Heller (Hrsg.), Münster 2010, S. 40.

[14] Hartmut Wewetzer, Die selbstlosen Gene, ZEIT Online v. 17.09.2009

[15] Martin A. Nowak, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, 2013, Pos. 1625 ff.

[16] Martin A. Nowak, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, 2013, Pos. 1616 ff.

[17] Martin A. Nowak, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, 2013, Pos. 1661 ff.

[18] Volker Storch, Ulrich Welsch, Michael Wink, Evolutionsbiologie, 3., überarb. u. aktual. Aufl. 2013, Abschnitt 3.5.4. Zitat um Literaturhinweise gekürzt. Siehe außer zu der Entwicklung und dem Streit über verschiedene Selektionskonzepte Axel Lange, Darwins Erbe im Umbau – Die Säulen der Erweiterten Synthese in der Evolutionstheorie, Würzburg 2012, S. 241 ff.

[19] Edward O. Wilson, Der Sinn des menschlichen Lebens, 1. Aufl. 2015, Kindle Edition, Pos. 186.

[20] Edward O. Wilson, Der Sinn des menschlichen Lebens, 1. Aufl. 2015, Kindle Edition, Pos. 700 ff.

[21] In einem späteren Beitrag werde ich auf ein paar Beiträge hinweisen, mit denen über den Paradigmenwechsel gerungen wird.

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