Agenda für eine neue Finanzmarktarchitektur – Teil 1: Genese der Finanzkrise

by Gastbeitrag on 20. Dezember 2008

Von Dorothea Schäfer, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung

Seit dem Sommer 2007 sind die Akteure auf den Finanzmärkten mit einer selbstverursachten Krise konfrontiert. Um eine Wiederholung in Zukunft zu vermeiden, haben die G20-Staaten am 15. November 2008 auf dem Finanzgipfel in Washington beschlossen, „alle Finanzmärkte, Finanzprodukte und Finanzmarktteilnehmer einer Regulierung oder angemessenen Überwachung“ zu unterwerfen. Lückenlosigkeit als Prinzip liefert freilich noch keine inhaltliche Orientierung bei der Neugestaltung der Finanzmarktarchitektur.

Das DIW Berlin präsentiert in Form einer Agenda neun Anforderungen an eine Reform der Finanzmarktregulierung. Die Punkte 1 bis 3 stellen die Verhinderung von Koordinationsversagen und das Setzen richtiger Anreize in den Mittelpunkt; die Punkte 4 bis 6 umreißen Möglichkeiten und Grenzen der zukünftigen Rolle des Staates; die Punkte 7 und 8 fokussieren auf die Aufsicht. Punkt 9 schließlich fordert eine stärkere Gewichtung der Eigenkapitalfinanzierung und die Einsicht in die grundsätzlich systemschonende Wirkung von bonitätsbedingten Finanzierungsbeschränkungen.

Genese der Finanzkrise

Die aktuelle Finanzkrise geht auf tiefgreifende Verwerfungen auf dem US-Häusermarkt und im US-amerikanischen Finanzmarkt zurück. Während des Booms auf dem privaten Immobilienmarkt, zu dem auch die sehr lockere Geldpolitik der US-Notenbank beigetragen hat, waren auch einer großen Zahl von Hausbesitzern zweifelhafter Bonität Hypothekendarlehen gewährt worden (Subprime-Segment).  Lockangebote mit anfänglich sehr geringen aber später sprunghaft steigenden Zins- und Tilgungszahlungen waren üblich. Der Kreditrahmen des Schuldners wuchs meist automatisch mit dem Wertzuwachs der Immobilie. Eine andauernde Beleihung eines Hauses zu 100 Prozent war daher in den USA nichts Ungewöhnliches. Mit der schrittweisen Zinserhöhung der Notenbank von einem Prozent (Mitte 2004) auf 5,25 Prozent (Mitte 2007) stiegen die meist variablen, an die Leitzinsentwicklung gekoppelten Hypothekenzinsen stark.

Abb. 1

Abbildung 1

Die Hypothekenkredite wurden teilweise zu Paketen zusammengelegt, tranchiert, mit einem Rating versehen und schließlich als hypothekenbesicherte Wertpapiere (Mortgage backed Securities) unterschiedlicher Bonität weltweit verkauft (Abbildung 1, links). ((1))   Sogenannte Senior-Tranchen (AAA bis A) besitzen die besten Noten. Die Ausfallwahrscheinlichkeit dieser Tranchen liegt laut Benotung der Rating-Agentur Fitch zwischen 0,061 Prozent und 0,304 Prozent. Mezzanine Tranchen können zwischen knapp einem Prozent (BBB) und gut neun Prozent (B) Ausfallwahrscheinlichkeit liegen. Die höchste Ausfallwahrscheinlichkeit liegt bei der Equity-Tranche, die ohne Rating bleibt.

Besonderen Zündstoff bekamen Verbriefungen dadurch, dass Wertpapierkäufer die höher rentierlichen mezzaninen Tranchen mittels einer Zweckgesellschaft zu einer neuen forderungsbesicherten Struktur, sogenannten CDOs (Collateral Debt Obligations), zusammenfassten und die einzelnen CDO-Tranchen dann von den Ratingagenturen erneut Noten aus dem gesamten Bonitätsspektrum bekamen. Dabei nahm die Super-Senior-Tranche mit einer geschätzten Ausfallwahrscheinlichkeit von weniger als 0,061 Prozent 50 bis 60 Prozent des Volumens ein (Abbildung 1, rechts) ((2)). Mittlerweile gelten bei manchen mezzaninen CDOs aus dem Hypothekenbereich alle Tranchen inklusive der Super-Senior-Tranche als hoch spekulativ.

Durch weitere Replikationen durch die Käufer von CDOs entstanden wahre Verbriefungsketten. Die Ausfälle werden auf jeder Stufe zunächst über die Equity-Tranche aufgefangen, die eigentlich überwiegend beim Erzeuger des Paketes verbleiben sollte (horizontaler Selbstbehalt). Offensichtlich gelang es jedoch oft, auch diesen spekulativen Teil an besonders risiko- und renditehungrige Investoren wie Hedgefonds zu veräußern. ((3)).

Die Käufer von CDOs waren zum Teil rechtlich selbständige Zweckgesellschaften außerhalb der Bilanz der Mutterbank, die sich kurzfristig refinanzierten. Die Aktiva der Zweckgesellschaft, üblicherweise Senior-Tranchen, dienten als Sicherheit. Die Langfristigkeit dieser Investition erforderte ein kontinuierliches Roll-over der Kurzfristkredite beziehungsweise der Wertpapieremissionen auf dem Interbankenmarkt.

Einbruch der Immobilienpreise

Abbildung 2

Abbildung 2

Um die Jahreswende 2005/2006 begannen die Preise für private Häuser in den USA auf breiter Front zu fallen (Abbildung 2). In den Folgemonaten stiegen die Kreditausfälle im niedrigen Bonitätsbereich kontinuierlich an. Akut wurde die Krise im Juli 2007 als die Investmentbank Bear Stearns zwei ihrer Hedgefonds, die in mezzanine CDOs investiert hatten, schließen musste. Kurz danach stufte Standard & Poors erstmals hypothekenbesicherte Wertpapiere aus dem Boomjahr 2006 herab. ((4)) Weitere Herabstufungen, die einer Entwertung gleich kamen, folgten. Die Entwertung ihrer Sicherheiten schnitt zahlreiche Zweckgesellschaften von der Liquiditätsversorgung über den Interbankenmarkt ab. Das Mutterhaus musste den  Refinanzierungsbedarf decken, sollten die Zweckgesellschaften nicht untergehen. Das überforderte zahlreiche Banken. In Deutschland traf dies Ende Juli 2007 als erstes die Industrie-Kreditbank und im August die Landesbank Sachsens, die bei ihren jeweiligen Eigentümern und letztlich beim Land oder Bund um zusätzliche Kreditlinien und Eigenkapitalhilfen nachsuchen mussten.

Gestiegener Liquiditätsbedarf und Austrocknung des Interbankenmarktes

In der Folge wurden Hedgefonds, die den Kauf der Tranchen über Bankkredite, Leerverkäufe oder Geschäfte mit Rückkaufvereinbarung finanziert hatten, von ihren Maklern zur Stellung erhöhter Einschüsse und Sicherheiten gezwungen. Zusätzlich trieb die Anteilsrückgabe von Investoren den Liquiditätsbedarf der Fonds in die Höhe. Soweit Märkte vorhanden waren wurden Vermögenswerte wie Aktien zu Geld gemacht. Dabei zeigte sich sehr schnell, dass nicht standardisierte strukturierte Produkte unverkäuflich waren. Dementsprechend tendierte ihr Marktwert gegen Null (Abbildung 3 und 4).

Abbildung 3

Der Eigenbedarf der Banken an Liquidität, die Unsicherheit über die staatliche Rettungsbereitschaft, der steigende Abschreibungsbedarf aufgrund andauernder Herabstufung der Papiere im Handelsbuch, aber auch die fallenden Vermögenspreise und das abnehmende Vertrauen in die Akteure insgesamt würgten den Interbankenmarkt allmählich ab. ((5)) Die Tendenz zum vorsorglichen Horten von Liquidität und die Furcht vor Ausfall trieben die Risikoprämien nicht nur für längerfristige Ausleihungen nach oben.

Abbildung 4

Abbildung 4

Um den Kollaps des Systems zu verhindern, begannen die Zentralbanken, die Geschäftsbanken
weltweit mit Liquidität zu versorgen. Kurzzeitig schien es, als würden sich die Märkte beruhigen. So lag der DAX zur Jahreswende 2007/2008 noch einmal über 8000 Punkte. Meist um die Quartalswende, wenn Dreimonatskredite ausliefen, signalisierten allerdings verstärkte Interventionen der Notenbanken das Andauern der Liquiditätsnöte im Bankensektor. Im Gefolge des Notverkaufs der zusammengebrochenen Investmentbank Bear Stearns an JP Morgan am 16. März 2008 stieg die Risikoprämie für längerfristige
Ausleihungen erneut, auch wenn krisenverschärfende systemische Folgen zunächst ausblieben.
Der anhaltende Bedarf an flüssigen Geldmitteln drückte nun weltweit und nachhaltig die Kurse an den Aktienmärkten. Besonders betroffen vom Abwärtssog waren naturgemäß die Bankwerte (Abbildung 5).

Abbildung 5

Abbildung 5

Eine neue Dimension

Am 7. September 2008 verstaatlichte die amerikanische Regierung Fannie Mae und Freddy Mac wegen akuter Liquiditätsprobleme. Das Geschäftsmodell dieser beiden börsennotierten Großhandelsbanken mit impliziter Staatsgarantie bestand im Ankauf von Hypothekenkrediten und der Refinanzierung durch Ausgabe von strukturierten Wertpapieren. ((6)) Die Verstaatlichung katapultierte die Krise in eine neue Dimension. Investmentbanken sahen sich hohen Liquiditätsabflüssen ausgesetzt. Durch spekulative Leerverkäufe geriet ihr Aktienkurs stark unter Druck. ((7)) Beides zwang die Investmentbank Lehman Brothers als erstes in die Knie. Die amerikanische Regierung verweigerte Lehman und seinen überwiegend ausländischen Gläubigern eine Auffanglösung. Die Bank musste am 15. September Gläubigerschutz beantragen.

Abbildung 6Die Insolvenz signalisierte weltweit allen Banken wie berechtigt die Angst vor Ausfall im gegenseitigen
Leihgeschäft war. Der Interbankenmarkt kam vollkommen zum Erliegen. Die Zentralbanken, eigentlich „lender of last ressort“, avancierten teilweise zur „ersten Finanzierungsadresse“. ((8)) Der Kreis notenbankfähiger Sicherheiten wurde stark ausgeweitet. Dennoch gelang keine nachhaltige Stabilisierung. Die Einlagen der Geschäftsbanken bei der EZB wuchsen nach der Lehmann-Insolvenz trotz negativer Zinsdifferenz explosionsartig (Abbildung 6). Die Funktionsfähigkeit des Systems hing vor allem an der Verfügbarkeit notenbankfähiger Sicherheiten bei den Geschäftsbanken.

Abbildung 7

Abbildung 7

Staatliche Rettungsmaßnahmen

Der Vertrauensschwund zwang die Regierungen zu groß angelegten Rettungsaktionen. Die amerikanische Volksvertretung verabschiedete am 3. Oktober einen 700 Milliarden US-Dollar Rettungsplan. Irland breitete als erstes Land in Europa einen Rettungsschirm über seine einheimischen Banken aus. Am 5. Oktober verkündete die deutsche Bundesregierung die Garantie aller Spareinlagen. Knapp zwei Wochen später, am
17. Oktober wurde das fast 500 Milliarden Euro schwere Rettungspaket für den Bankensektor, bestehend aus Bürgschaften, Beteiligungen und Aufkäufen von illiquiden Wertpapieren verabschiedet. Die britische Regierung startete eine Zwangskapitalisierung der wichtigsten eigenen Banken. ((9))

Weitere nationale Rettungsschirme folgten. Die EU verständigte sich sowohl intern als auch mit den USA auf ein abgestimmtes Krisenmanagement. Erste Anzeichen einer Entspannung auf dem Interbankenmarkt sind zwar vorhanden. Dennoch hält die Flucht aus risikobehafteten Vermögensanlagen an. So mussten Hedgefonds im dritten Quartal 2008 einen historisch einmaligen Rückgang beim verwalteten Vermögen von fast 700 Milliarden US-Dollar hinnehmen (Abbildung 7). ((10))

Fortsetzung in Teil (2)

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Anmerkungen

((1)) Allgemein werden mit Krediten unterlegte verbriefte Wertpapiere Asset Backed Securities genannt.

((2)) Eidgenössische Bankenkommission: Subprime-Krise: Untersuchung der EBK zu den Ursachen der Wertberichtigungen der UBS AG. September 2008.

((3)) Brunnermeier, M. K.: Deciphering the Liquidity and Credit Crunch 2007–08. www.princeton.edu/~markus/research/papers/liquidity_credit_crunch.pdf. In den USA haben selbst Pensionsfonds in diese hochriskanten und deshalb sehr ertragreichen Equity-Tranchen investiert: The Poison in Your Pension by David Evans. Bloomberg Markets, July 2007, www.bloomberg.com/news/marketsmag/pensions.pdf. Vgl. auch Bank of England: Financial Stability Report. Oktober 2008, www.bankofengland.co.uk/publications/fsr/2008/fsrfull0810.pdf.

((4)) Rudolph, B.: Lehren aus den Ursachen und dem Verlauf der internationalen Finanzkrise. Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung 60, 2008, 713–741.

((5)) Forderungen im Handelsbuch sind verbrieft und müssen nach den International Financial Reporting Standards (IFRS) zum Marktwert bilanziert werden. Ab- und Zuschreibungen gehen in die Gewinn- und
Verlustrechnung ein. Forderungen im Anlagebuch kann hingegen ein Anschaffungspreis beigelegt werden. Um den Abschreibungsbedarf zu begrenzen, hat das EU-Parlament den europäischen Banken
vor kurzem gestattet, verbriefte Wertpapiere in das Anlagebuch zu verschieben, www.iasb.org/NR/rdonlyres/BE8B72FB-B7B8-49D9-95-A3-CE2BDCFB915F/0/AmdmentsIAS39andIFRS7.pdf.

((6)) Die US-Banken besitzen oder bürgen für Hypothekenkredite von rund fünf Billionen US-Dollar. Das entspricht etwas weniger als der Hälfte des einheimischen Immobilienkreditvolumens von zwölf Billionen
US-Dollar.

((7)) Der Verkäufer veräußert eine Aktie auf Zeit ohne Eigentümer derselben zu sein und hinterlegt den Erlös als Sicherheit bei der Maklerbank. Der Leerverkauf ist profi tabel, wenn der Kurs fällt und das Papier nach Ablauf der Frist zu einem niedrigeren Kurs zurückgekauft werden kann.

((8)) Dies gilt insbesondere für Großhandelsbanken. Sie verfügen über keine Spar- und Sichteinlagen. Der Bankentyp versteht sich als Intermediär für Großkunden, zum Beispiel für Banken mit Endkundengeschäft.

((9)) Von ursprünglich vorgesehenen acht Instituten haben allerdings bislang nur HBOS, Lloyds TSB und RBS (Royal Bank of Scotland) die mit Aufl agen verbundene Kapitalhilfe angenommen. Northern Rock und Bradford & Bingley sind verstaatlicht.

((10)) Die Zahl bezieht sich auf Single Manager Hedge Funds und Funds of Funds. Laut Hedgefund.net ist dies der größte Rückgang in der bisherigen Geschichte. Hedge Fund Industry Asset Flow Report – Q3
2008, www.hedgefund.net/marketing_index.cfm?template=research/researchfront.cfm.

Dieser Beitrag ist erschienen im DIW Wochenbericht 51-51/2008

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