What a Vertrauenskrise durch Wikileaks-Enthüllungen: Stammtisch-Banalitäten stürzen US-Diplomatie in die Krise

by on 30. November 2010

Endlich haben wir es amtlich: „Außenminister Guido Westerwelle ist kein zweiter Genscher“´. Was für ein Medienrummel wegen der gemeinsam durch Wikileaks und diverser Medien initiierten Veröffentlichung der Geheimdepeschen, die Weltsicht der USA enthüllen.

Die Einschätzungen von US-Botschaftsangestellten über diverse führende Politiker und Regierungsmitglieder wurden und werden nun genüsslich ausgebreitet und wohl noch tagelang für Gesprächsstoff sorgen. Einige Äußerungen, wie “Teflon-Merkel” haben sogar die Chance zu einem dauerhaften Running-Gag zu werden. Die durch diesen gigantischen Fauxpas aufgerissenen diplomatischen Wunden werden wohl noch Monate, wenn nicht Jahre benötigen, bis sie verheilt sind.

Inhaltlich sind freilich die herausgepickten Beispiele eher für den Smalltalk geeignet. Die boulevardesken veröffentlichten Notizen enthalten Bewertungen, die niemanden überraschen und seit Jahren in Kommentaren von Medien, Blogs und auf der Straße zu hören sind.

Merkel habe mehr Erfahrungen in der Außenpolitik als Westerwelle und gelte als wenig risikofreudig. Wow. Da fragt man sich, zu welcher Einschätzung Diplomaten eigentlich sonst kommen sollten.

Der vermeintliche “Skandal” liegt also darin, dass Diplomaten zu den gleichen Ergebnissen kommen, wie zig-tausende anderer Beobachter. Ich vermag die Brisanz nicht zu erkennen. Wir wissen doch schon lange, dass die politische und übrigens auch wirtschaftliche “Elite” eine Funktionselite ist und uns nicht die wie auch immer definierten besten Köpfe regieren und leiten. Liegt der Skandal nun darin, dass das sozusagen amtlich bestätigt wird?

Die Aufregung ist vielleicht zu verstehen, wenn man sich mit den Feinheiten der Diplomatensprache auskennt, deren Kunst ja gerade darin besteht, Kritik und unangenehme Wahrheiten in barocke Schnörkel zu schnitzeln.

Die öffentliche Empörung darüber kann nur als gespielt angesehen werden, denn seit Jahrhunderten werden in dieser oder ähnlicher Form Einschätzungen über die “Mächtigen” dieser Welt abgegeben und dies ganz sicher nicht nur von “US-Diplomaten”.

Man sollte das Positive an den Veröffentlichungen sehen. So ist es doch ausgesprochen beruhigend, dass die Weltsicht der USA nicht vollkommen abgehoben ist, sondern sie durch eine erfrischend realistische Wahrnehmung gekennzeichnet ist.

Schwerwiegendere Konsequenzen könnten die Veröffentlichungen für die Beziehungen anderer Länder haben (siehe etwa das Handelsblatt: “Enthüllungen sind für Araber ein politischer Sprengsatz”). Für Obama hat Wikileaks damit hier eine Baustelle aufgerissen, auf die er gern verzichtet hätte und deren Konsequenzen nicht einmal in Ansätzen absehbar sind.

Über den Nutzen des Wikilecks wird man daher noch lange streiten. Ich kann ihn nicht erkennen. Gespannt wartet jetzt die Finanzbranche auf die Veröffentlichung der angekündigten Internas einer US-Großbank.

Presseberichte

Spon: Amerikas Diplomaten-Berichte – Geheimdepeschen enthüllen Weltsicht der USA: Es ist ein Desaster für die US-Diplomatie. WikiLeaks hat mehr als 250.000 Dokumente aus dem Washingtoner Außenministerium zugespielt bekommen, interne Botschaftsberichte aus aller Welt. Sie enthüllen, wie die Supermacht die Welt wirklich sieht – und ihren globalen Einfluss wahren will.

FAZ: Wikileaks veröffentlicht diplomatische Dokumente – Alles soll verfügbar sein: Was folgt aus der Veröffentlichung von rund 250.000 Dokumenten amerikanischer Diplomaten? Die „New York Times“ rechtfertigt sie als Staatsaktion. Timothy Garton Ash schreibt im „Guardian“. Frankreich amüsiert sich. Und „El Pais“ dreht ein Video.

HB: Wikileaks-Depeschen: Datenleck stürzt US-Diplomatie in Vertrauenskrise: Diplomaten sagen privat wohl immer unhöfliche Dinge übereinander, und das dürften die Staatsvertreter wohl auch wissen. Neben dem Vertrauensbruch durch die Enthüllungen der Internetplattform Wikileaks sehen sich die USA allerdings Zweifeln ausgesetzt, ob sie brisante Daten überhaupt sicher verwalten können. Besonders deutlich wurde ausgerechnet ein ehemaliger US-Botschafter.

Zeit: Enthüllungen – Was die geheimen Dokumente verraten: Der Inhalt der geheimen Depeschen könnte die USA in diplomatische Schwierigkeiten bringen. Was bergen sie, wie sind die Reaktionen? Ein erster Blick in die Papiere.

FAZ: Wikileaks – Der perfekte Sturm eines Obergefreiten: Bradley Manning war im Irak, er war einsam und frustriert. Er soll hinter den Veröffentlichungen der Website Wikileaks stecken, die Amerika und die Welt nun umtreiben. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu 52 Jahre Haft.

Zeit: Wikileaks – Amerika in der Vertrauenskrise: Die Veröffentlichung von Dokumenten des US-Außenministeriums durch Wikileaks wird die Welt nicht umstürzen. Doch die USA sind blamiert.

Zeit: Geheimdokumente US-Regierung verurteilt Wikileaks „aufs Schärfste“

HB: Geheime US-Dokumente: Wikileaks-Akten werden zum diplomatischen Desaster: Es ist ein diplomatischer Scherbenhaufen erster Güte, den die Internetplattform Wikileaks den USA bescheren. Die Dokumente beinhalten wenig schmeichelhafte US-Dossiers über Politiker weltweit. Besonders schlecht kommt dabei auch der deutsche Außenminister Guido Westerwelle weg. Eine Prüfung für die deutsch-amerikanischen Beziehungen.

Zeit: Wikileaks Britische Regierung bittet Medien um Selbstzensur

Wirtschaftswurm Dezember 1, 2010 um 10:52 Uhr

Ich kann der Einschätzung ganz und gar nicht zustimmen. Natürlich findet sich unter den 250.000 Depeschen auch viel Klatsch und Tratsch. Und dass Westerwelle eitel und inkompetent ist, haben wir auch ohne Wikileaks gewusst.
Daneben gibt es aber viele hochbrisante Depeschen. Dass die Führer wichtiger Ölstaaten wie Saudi-Arabien oder der Arabischen Emirate lieber heute als morgen einen Angriff auf den Iran wollen, wirft auch ein neues Licht auf die US-Außenpolitik. Auch zum letzten Putsch in Honduras und einigen anderen Sachen habe ich hochinteressante Berichte bereits gelesen.

enigma Dezember 1, 2010 um 09:26 Uhr

Nach Bateson ist eine Information ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Was macht – in diesem Fall – Wikileaks? „Verkauft“ einen Unterschied als Information, der keinen Unterschied macht. Früher hat man das Beschiß genannt, daß etwas als Neuigkeit angepriesen wird, was schon an jedem Stammtisch tausendmal durchgekaut worden ist! 🙂

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