Vor einem Paradigmenwechsel der Wirtschaftswissenschaft? Zur Tagung “Ökonomie Neu Denken” in Frankfurt

by Dirk Elsner on 26. Januar 2012

Das waren zwei äußerst interessante Tage in Frankfurt. Der Stifterverband der Deutschen Wissenschaft und das Handelsblatt hatten Wissenschaftler, Unternehmen, Studenten und Wirtschaftsblogger zur Tagung Ökonomie Neu Denken eingeladen (siehe dazu Vorbericht vom Montag). Um es gleich vorwegzunehmen: Die Ökonomie wurde auch in Frankfurt nicht neu erfunden. Das hatte aber auch niemand erwartet. Hier meine Impressionen von der Veranstaltungen (siehe unten weitere Berichte).

Beeindruckt hat mich die Selbstkritik der Ökonomen an der Ökonomik. Den mit Abstand interessantesten Vortrag dazu haben nicht etwa die Promis Thomas Mayer von der Deutschen Bank oder Kenneth Rogoff gehalten, sondern die britische Ökonomin und Buchautorin Diane Coyle, die gleich zu Beginn eine steile Vorlage lieferte. In Coyles Vortrag (hier nachzulesen) fand ich viele Gedanken wieder, die ich in den letzten Jahren verstreut auf zahlreiche eigene Beiträge verteilt hatte. Sie nannte die Neue Institutionenökonomik, Behavioral Economics und komplexitätstheoretische Ansätze als interessante Denkrichtungen und forderte u.a., dass sich die Ökonomie mehr interdisziplinär engagieren müsse.

Sie ging aber noch einen Schritt weiter und warf der Ökonomie eine Mitschuld an der Finanz- und Wirtschaftskrise vor. Widerspruch erntete sie dafür nicht. Andere Redner schlossen sich der Kritik an. So war etwa sehr interessant, wie der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Thomas Mayer, aus den fehlerhaften Annahmen der verwendeten Modelle darauf schloss, dass die Analysemodelle der Vermögensverwaltung nicht funktionieren könnten. Er betonte außerdem die Grenzen der VaR-Modelle, die eine große praktische Relevanz für das Risikomanagement von Banken haben und sich als ungeeignet erwiesen haben. Die ausgefeilten finanzmathematischen Modelle haben in den Banken zu einer Art “Kontrollillusion” geführt.

Gut, das ist jetzt genau so wenig eine neue Erkenntnis gewesen, wie die von Professor Suchanek, dass eines der Schlüsselthemen der Ökonomik Vertrauen ist. Bemerkenswert aber, dass die für die Praxis sehr relevante Frage, wie eigentlich Vertrauen wieder hergestellt werden könne, lt. Suchanek kaum erforscht sei. Suchanek warf in einer Panelldiskussion übrigens ein, dass Studierende sich heute mehr für die moralische Qualität von Märkten interessieren. Ein Fehler in der Vergangenheit seit gewesen, dass man Ethik und Märkte getrennt erforscht habe, dabei gehöre dies eng gemeinsam beachtet.

Die Kritik an Modellen, Methoden und Annahmen zog sich durch nahezu alle Vorträge. Ich empfand die Kritik an der Mainstream-Ökonomie so überwältigend, dass ich mich frage, wer heute denn noch den Mainstream vertritt. Die Antwort darauf gab Professor Justus Haucap, der Vorsitzende der Monopolkommission und VWL Professor in Düsseldorf: Es ist die Lehrbuchökonomie, die auf den Stundenplänen der Hochschulen steht.

Rogoff hat der Kritik an der Ökonomie in seinem Vortrag dann prominentes Gewicht verschafft. Er sprach von der Selbstzufriedenheit der akademischen Ökonomie in der Phase der Great Moderation. Man liebte die Annahme, dass Märkte sehr, sehr gut funktionieren. Dabei seien schon damals den Ökonomen viele Abweichungen bekannt gewesen, wie etwa die Existenz von Banken, Probleme der Externalitäten und Umweltprobleme. Ein Problem der Ökonomie oder besser der Ökonomen sei, es sei sehr hart, diese Abweichungen in Modelle zu packen.

Tatsächlich zeigten sich die Teilnehmer ratlos auf der Suche nach einem neuen Paradigma. Mich verleitete das in meinem Statement, zu dem ich am Ende eingeladen war, zu der These, dass sich die Ökonomik im Sinne Kuhn erst am Anfang einer wissenschaftlichen Revolution befände (siehe dazu Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen und diese von Peter Brescher bereit gestellte Übersicht). Tatsächlich können wir genau jetzt den Wettbewerb verschiedenster Ansätze in der Ökonomik auf dem Weg hin zu einem möglicherweise neuen Paradigma beobachten. Und gerade dies macht die Wirtschaftswissenschaft noch interessanter, als in den Zeiten, in den ich studiert habe.

Ich finde es übrigens gar nicht tragisch, dass es jetzt noch kein neues Paradigma gibt. Das wird wohl noch Jahre brauchen. Denkbar sogar, dass es, wie in anderen Sozialwissenschaften, auf Dauer gar kein neues Paradigma geben wird. Das wird Dogmatiker möglicherweise schrecken, mich als Praktiker jedoch nicht. Die Wirtschaftspraxis fordert pragmatische Hilfestellungen aus der Wissenschaft. Das können auch ad-hoc-Modelle sein, die auf Basis empirischer Erkenntnisse und ein paar konsistenter Thesen gewonnen werden. Man braucht in der Praxis nicht den Beweis, dass jemand den Mount Everest besteigen kann, wenn er eigentlich nur den Brocken hochwandern soll.

Viele dieser pragmatischen Ansätze wurden in den Roundtable-Gesprächen diskutiert. Dazu hatten die Veranstalter eine bemerkenswerte und hoch interessante Auswahl von 26 Themen mit Kernfragen zusammen gestellt, die die Veranstaltungsgäste vor allem mit dem akademischen Nachwuchs diskutierten. Hier war leider eine Stunde Zeit viel zu kurz. Gerade diese Gespräche fand ich unglaublich interessant. Berufsbedingt stieg ich bei Finanzmarktregulierung und Risikomanagement ein. Und gerade die Gruppe Risikomanagement faszinierte mich. Dort stelle ein Forscher aus Oxford verbal neue Ansätze im Risikomanagement vor, die ich zu gern noch vertieft hätte.

Die Tagung hätte noch die Erwähnung vieler weiterer Gedanken verdient. Wer sich für mehr interessiert, der kann aber zurückgreifen auf die Berichterstattung des Handelsblatts, des Wirtschaftswurms und weiterer Dokumente, die unten bzw. in diesem Storify-Beitrag zusammengestellt habe. Vom Stifterverband soll es noch eine Videozusammenfassung der Veranstaltung zusammen mit Präsentationen einiger Referenten geben. Dazu sollte man in den nächsten Tagen einfach mal beim Stifterverband vorbei schauen. Dort findet man schon jetzt die Audiomitschnitte fast aller Referenten.

Und natürlich fand ich es wunderbar, in Frankfurt mal einige der Wirtschaftsblogkollegen persönlich zu treffen. Man kennt und schätzt sich sonst aus der Onlinewelt, aber es geht doch nichts über ein persönliches Treffen.

Berichte

HB: Ökonomie steht vor totaler Neuorientierung: Die Ökonomie steckt in der Krise. Bewährte Antworten auf volkswirtschaftliche Fragen gelten nicht mehr. Experten suchen von heute an auf der Konferenz „Ökonomie neu denken“ nach Lösungen für die Zukunft.

Pixelökonom: Nudge – Sanfte Chance oder Gefahr?

Ich sag mal: Sanfter Paternalismus und die Illusion rationalen Verhaltens

HB: „Ökonomie neu denken“Aus der Finanzkrise lernen: Was muss die Volkswirtschaftslehre aus der Finanzkrise lernen? Dieser Frage widmet sich die Konferenz „Ökonomie neu denken“. Unter den Gästen: die Bestseller-Autorin und Beraterin der britischen Regierung, Diane Coyle.

Ich sage mal: VWL: Krise der Makroökonomie – Interdisziplinär arbeiten! #oend

Wirtschaftswurm: Ökonomie neu denken – ein erster Rundumschlag

FAZit: Ökonomen in Demut. Oder: Soll Vater Staat Brust-OPs verbieten? Die Krise hat die Ökonomen beschämt. Auf einem Kongress sprachen sie oft von "neuem Denken". Verhaltensökonomen misstrauen dem Homo oeconomicus und vertrauen stattdessen dem Staat. Der soll den irrenden Menschen einen Schubs zu vernünftigerem Verhalten geben. Andere Ökonomen warnten vor einem Zusammenbruch des Papiergeld-Systems.

ZEIT: Kenneth Rogoff "Die Ökonomie ignoriert den Faktor Macht": Die meisten Ökonomen versuchen, Probleme mit mathematischen Modellen zu lösen, sagt Kenneth Rogoff. Warum das nicht funktionieren kann, erklärt er im Interview.

HB: Eurokrise – Deutsche-Bank-Volkswirt warnt vor Kollaps des Geldsystems: Trotz Rettungsschirm und Fiskalpakt – die Euro-Zone hat die psychologische Vertrauenskrise nicht bewältigt, warnt Thomas Mayer bei der Konferenz „Ökonomie neu denken“. Das gesamte Geldsystem könne ins Wanken geraten.

HB: "Ökonomie neu denken" – Volkswirtschaftslehre scheitert im Praxistest: Die Ökonomie-Ausbildung ist zu theoretisch und speziell, bemängeln Kritiker. Auf der Konferenz „Ökonomie neu denken“ diskutierten Experten darüber, was sich in den Hörsälen verändern muss.

HB: „Ökonomie neu denken“: Mehr Macht für den Staat?: Lange waren staatliche Eingriffe in der Wirtschaft höchst verpönt. Doch die Finanzkrise hat auch dieses Paradigma ins Wanken gebracht. So hält der Top-Ökonom Armin Falk einen „sanften Paternalismus“ für sinnvoll.

HB: Bruttoinlandsprodukt Verzweifelt gesucht: das neue Maß der Dinge: Das BIP hat als Wohlstandsindikator ausgedient. Über Alternativen diskutieren Forscher bei der Konferenz „Ökonomie neu denken“ in Frankfurt. Einen besseren Indikator zu finden, ist nicht einfach – aber es gibt spannende Ansätze.

Nixda Februar 7, 2012 um 10:38 Uhr

Insgesamt finde ich das Ergebnis der Konferenz und die Ansätze der Selbstkritik sehr dürftig, wenn man sich vor Augen führt, dass die Mainstreamökonomie die Weltwirtschaft blind in die größte Wirtschafts- und Finanzkrise seit der großen Depression geführt hat. Es liest sich alles etwas wie „wir müssen ein weing nachjustieren“ oder „wir haben da einen kleinen Aspekt“ übersehen. Vielleicht liegt es auch an der Teilnehmerliste, die auch nur Repräsentanten der Mainstreamöknomie der letzten Jahre umfasste. Die Kritiker sind in den letzten Jahren ausgegrenzt, marginalisiert und an Provinzuniversitäten abgeschoben worden.

Es gibt grundlegende Probleme, die es zu lösen gibt: Zum Beispiel ist Aggregation des Verhaltens einzelner Marktteilnehmer in aggregierte Nachfrage- und Angebotskurven methodisch fehlerhaft (Zur Nachfragekurve siehe zum Beispiel Sonnenschein-Mantel-Debreau). So wie Chemie keine aggregierte Atomphysik, Biologie keine aggregierte Chemie, und Psychologie keine aggregierte Biologie ist, können makroökonmische Marktmodelle nicht einfach aus der Mikroöknomie aggregiert werden, sondern es müssen eigene Modelle geschaffen werden.

Die Ökonomik steht vor einer kopernikanischen Wende, oder bedarf einer solchen zumindest. So wie das terrazentrische Weltbild durch ein heliozentrischen Weltbild abgelöst wurde, so muss die Ökonomik feststellen, das sich Märkte mitnichten effizient verhalten und Marktversagen und Marktmanipulation die Regel und nicht die Ausnahme sind, und das ihre Modelle fundamentale Fehler besitzen.

Vielleicht ist die jetzige Generation der Wissenschaftlern auch gar nicht mehr zum Paradigmenwechsel fähig. Meine Hoffnung ist gering.

Dirk Elsner Februar 7, 2012 um 10:53 Uhr

Sehr treffender Kommentar. Das eigentlich neue und spannende auf der Tagung kam auch nicht von den Referenten, sondern in den viel zu kurzen Round-Tabel-Gesprächen. Die wurden dann aber zu Lasten Mayers und Rogoffs sogar noch verkürzt. Ich habe angeregt, im Rahmen einer solchen oder ähnlichen Tagung (vielleicht als Barcamp der Ökonomen organisiert) mal den Ideen der jungen und unbekannten Ökonomen mehr Raum zu geben und ihre Ideen zu präsentieren und zu diskutieren.

Karl Kollmann Januar 27, 2012 um 11:55 Uhr

Danke! Eine kompakte, essentielle und – das gehört auch dazu – persönliche Darstellung!

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