Glanz und Elend der Ökonomie Teil 2

by Karl-Heinz Thielmann on 7. November 2013

Vorbemerkung: Dieser Beitrag ist die Fortsetzung eines Artikels, in dem die Ursachen für den derzeit schlechten Ruf der Ökonomie behandelt werden. Im ersten Teil ging es um die Entfernung von der Realität sowie um die Ausrichtung der Forschung auf US-Topunis als Gründen für die Misere.

3. Ökonomie als Hahnenkampf

Raghuram Rajan, heute Chef der Notenbank Indiens und davor Finanzprofessor in Chicago, beklagte sich im August dieses Jahres in einem weit beachteten Artikel über den „paranoiden Stil“, der in ökonomischen Debatten Einzug gehalten habe. Als Beispiel führte er die verletzende persönliche Kritik des Nobelpreisträgers Paul Krugman an Ken Rogoff und Carmen Reinhart an, bei denen in einen vormals als bahnbrechend angesehenen Artikel schwere statistische Mängel bemerkt worden waren.

Raghuram Rajan hat recht: Gerade Ökonomen, die von der Öffentlichkeit stark wahrgenommen werden wie Paul Krugman, vermitteln immer mehr den Eindruck von paranoiden Egozentrikern. Dies gilt auch für den Kontrahenten Rogoff, der sich inzwischen gerne öffentlich als Opfer einer Verschwörung selbst bemitleidet. Vielleicht hängt dies mag mit den Mechanismen des Medienbetriebes zusammen, nach denen nur noch derjenige mit Aufmerksamkeit bedacht wird, der am lautesten „Skandal“ schreit. Hierzu mehr im folgenden Abschnitt. Wenn sich Ökonomen auf der Jagd nach Publicity zum lauten Poltern verführen lassen, schadet dies aber letztlich nur dem Ruf der Wissenschaft und ihrer Vertreter. Dies ist insbesondere bei Paul Krugman sehr schade, dem wir schon viele wichtige und auch innovative Einsichten verdanken.

Als insbesondere ärgerlich hat sich das Gezänk der Ökonomen in Hinblick auf die richtige Wirtschaftspolitik bei den jüngsten Problemen erwiesen, wie unlängst wieder bei der Eurokrise. Marktliberale und keynesianisch geprägte Ökonomen bekämpften sich erbittert im Streit um die richtige Therapie. Jeder hatte ein Patentrezept, und dieses war anders als die anderen. Insofern wurden auch diejenigen, die eine andere Meinung hatten, immer als komplette Idioten dargestellt.

Bei dem ganzen Streit war leider in den Hintergrund getreten, worum es bei guter Wirtschaftspolitik eigentlich geht: um Vertrauen in die Zukunft. Denn das Vertrauen von Investoren und Konsumenten in die Zukunft ist zentral für die wirtschaftliche Entwicklung. Nur wer das richtige Maß an Vertrauen hat, investiert produktiv und konsumiert die angemessene Menge an Gütern. Zuviel Vertrauen ist allerdings genau so schädlich wie zu wenig. Übermäßiger Optimismus verleitet zu exzessiven Ausgaben und Überschuldung, zu starker Pessimismus hat ein Verharren in der Depression zur Folge.

Der Kerngedanke liberaler Wirtschaftspolitik von Adam Smith bis zu von Hayek ist, dass der Staat Vertrauen durch einen stabilen Rahmen schafft, in dem die Bürger frei ihren wirtschaftlichen Aktivitäten nachgehen können. Insbesondere von Hayek thematisierte die Konsequenzen, wenn der Staat z. B. durch lockere Geldpolitik zu viel Vertrauen erzeugt. Der Kerngedanke keynesianisch geprägter interventionistischer Wirtschaftspolitik ist, dass der Staat Vertrauen schafft, indem er dann eingreifen soll, wenn der Markt versagt, d. h. nicht von selbst zu optimalen Ergebnissen kommt.

Beide Grundideen stehen für mich nicht im Widerspruch, da sie offensichtlich unterschiedliche Sachverhalte beschreiben: Die Liberalen behandeln die Fragestellung, wie man zu optimalen Ergebnissen kommt, wenn die Bedingungen für freie Marktwirtschaft erfüllt sind, die Interventionisten behandeln die Frage, was man machen muss, wenn die Erfolgsvoraussetzungen für freie Märkte verletzt sind. Warum also das wutentbrannte aneinander vorbei reden?

Leider tragen zerstrittene Ökonomen nicht gerade zur Vertrauensbildung bei. Trotzdem tobt der Kampf der Anhänger beider Lager nach wie vor erbittert. Dies mag mit zwei Faktoren zusammenhängen:

• Beide Richtungen lassen sich prima für die Zwecke von Sonderinteressengruppen zweckentfremden. Wer Marktmacht hat und diese missbraucht, singt gerne das Loblied des freien Marktes, selbst wenn dieses in seinem Fall unzutreffend ist. Bürokraten hingegen haben ein großes Interesse an Interventionen, selbst wenn diese im Gesamtergebnis eher schaden, und bemühen die Ökonomie gerne als Ausrede für überflüssige staatliche Eingriffe. Leider lassen sich Ökonomen immer wieder gerne für die eine oder die andere Sache instrumentalisieren.

• Die Anhänger beider Lager haben eine verzerrte Wahrnehmung bezüglich der Vorteile und Nachteile der jeweiligen Konzepte. Dabei vergessen sie, dass ökonomische Aussagen immer nur in Zusammenhang mit bestimmten Annahmen gelten. Wer als Ökonom aber darauf beharrt, dass die von ihm vertretene Richtung nicht nur situationsspezifische Lösungen liefert, sondern als Patentrezept für alle Weltprobleme propagiert, macht sich insgesamt unglaubwürdig.

Wenn die Streitereien der Ökonomen überhaupt zu etwas beigetragen habe, dann dazu, dass das Vertrauen in die Zukunft eher noch weiter abgenommen hat. Während die im ersten Teil dieses Artikels behandelten Gründe für den Niedergang der Ökonomie vor allem als Effizienzmängel angesehen werden können, ist das Gezänk regelrecht gefährlich; sowohl für die Wissenschaft wie auch für die Gesellschaft: Den eine nicht mehr Ernst genommene Ökonomie wird selbst dann nicht mehr beachtet, wenn sie einmal recht hat; was dann sogar Schaden anrichten kann.

4. Ökonomie als Medieninszenierung

Die vorangegangen Zeilen mögen vielleicht den Eindruck vermittelt haben, dass es keinen Fortschritt in der Ökonomie gegeben habe. Dies wäre jedoch zu undifferenziert. Es hat gerade in den letzen Jahren viele interessante Entwicklungen in den Wirtschaftswissenschaften gegeben, nur hat kaum jemand davon etwas bemerkt. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass sich zwar die meisten Ökonomen dem Mainstream und den Mechanismen des Wissenschaftsbetriebes unterordnen, aber beileibe nicht alle. Abseits des Einheitsbreis der Top-Journals gibt es viele bemerkenswerte Forschungsergebnisse, man muss nur intensiv suchen, um sie zu finden.

Viel schwerwiegender für das öffentliche Zerrbild dürfte allerdings sein, dass sich das Medieninteresse sehr einseitig auf die „Kampfökonomen“ konzentriert, die versuchen, mit extremen Aussagen Publicity zu generieren. In einer Mediengesellschaft, in der Wettstreit um öffentliche Aufmerksamkeit eine differenzierte Berichterstattung immer weiter zurückdrängt, brauchen Journalisten Lieferanten von Schockeffekten. Seriös aussehende Experten mit verstörenden Prognosen eignen sich besonders gut für diese Rolle. Beliebt hierfür sind Volkswirte, die Katastrophenszenarien entwerfen wie z. B. „Dr. Doom“ Nouriel Roubini. Seine deutschen Kollegen, die in den letzen Jahren die Eurokrise zur Entwicklung von apokalyptischen Visionen genutzt haben, möchte ich an dieser Stelle nicht namentlich erwähnen. Großes Medienecho finden aber aber auch diejenigen Wissenschaftler, die sich bei der Kritik gegenüber ihren Berufskollegen oder Politikern im Ton vergreifen, wie in dem schon angesprochenen Beispiel Paul Krugman gegenüber Ken Rogoff und Carmen Reinhart.

Wenn dann in der Öffentlichkeit das Bild von Ökonomen als geifernden Besserwissern entsteht und keiner sie mehr für seriöse Wissenschaftler hält, ist es nicht erstaunlich, aber sehr schade. Jeder Volkswirt, der sich zum Komplizen eines auf Sensationsgier ausgerichteten Medienbetriebs macht, sollte bedenken, was er anrichtet.

Doch was müsste sich ändern?

In der Presse war schon öfters die Forderung nach einer „neuen Ökonomie“ zu lesen. George Soros hat eigens zu diesem Zweck das „Institute for New Economic Thinking“ (INET) gegründet. Ich halte ehrlich gesagt wenig von diesem Ansatz. Keiner weiß, wie eine neue Ökonomie tatsächlich aussehen soll. Zudem hat die „alte Ökonomie“ ja auch vieles Gute hervorgebracht. Wer auf die Website des INET geht, stößt auf das bekannte Problem: Ein kleiner Kreis von Forscher dominiert, die von englischsprachigen Eliteunis geprägt sind, ihre Texte sind Variationen bereits hinlänglich behandelter Themen. Die neue Ökonomie von George Soros ist lediglich anders verpackte alte Ökonomie. Dies ist aber keine Lösung für die angesprochenen Probleme.

Edward Fullbrock, Direktor der World Economics Association und prominenter Kritiker der etablierten Ökonomie, hat schon vor Längerem die Forderung erhoben, dass die Wirtschaftswissenschaften eine Methodenvielfalt wie in der modernen Physik zulassen. Diese begnügt sich damit, dass ihre Theorien keine Weltbilder vermitteln, sondern jeweils nur ganz konkrete Probleme erklären, während akzeptiert wird, dass diese Ansätze sich nicht zur Klärung anderer Sachverhalte eignen. Fullbrocks Vorschlag erscheint auf den ersten Blick als logischer Schritt, ist aber durchaus tückisch. Denn die Orientierung an den Naturwissenschaften ist eine zweischneidige Sache. Dort gibt es auch einen fragwürdigen Wettbewerb um Anerkennung durch Veröffentlichungen in Top-Journals, allerdings mit anderen Konsequenzen. Zwar wird nicht immer wieder das Gleiche in neuer Form reproduziert. Dafür werden zunehmend Skandale durch gefälschte oder nicht nachvollziehbare Forschungsergebnisse bekannt. Möglicherweise wird dieser Missbrauch durch die Methodenvielfalt stark begünstigt.

Die Ökonomie braucht aber dringend eine Erneuerung durch Entideologisierung und das Aufbrechen der verkrusteten Strukturen. Ökonomen müssen lernen, dass, wenn sie Ideen haben, die sie für richtig halten, diese deswegen nicht immer und unter allen Umständen richtig sind. Wenn sie in den Medien auftreten, wäre es sicher auch hilfreich, wenn sie weder die Wiedergeburt von Nostradamus noch den verbohrten Weltverbesserer spielen würden, sondern sich auf ihre Rolle als seriöse Forscher zurückbesinnen.

Des weiteren sollten sie sich vom Mainstream-Wiederkäuer als Ideal abkehren. Wenn man wissenschaftliche Bedeutung nur über Publikationen in etablierten Zeitschriften definiert, ist klar, dass neue Ideen nur auf der Strecke bleiben können.

Vor allem aber müssen Ökonomen lernen, dass auch Nichtökonomen gute Ideen zur Wirtschaft haben können, und sollten sich für Anregungen aus andern Sozialwissenschaften und der wirtschaftlichen Praxis öffnen. Was heutzutage oft vergessen wird: Viele der Stammväter der modernen Ökonomie kamen von anderen Wissenschaftsrichtungen oder aus der Praxis bzw. hatten zumindest engen Kontakt mit der wirtschaftlichen Realität: Adam Smith war Moralphilosoph, David Ricardo war Börsenspekulant, John Maynard Keynes arbeitete parallel als Fondsmanager. Gerade weil diese Leute mit einem unverstellten Blick an ökonomische Sachverhalte herangingen, waren sie in der Lage, die herrschenden Dogmen infrage zu stellen und die Wissenschaft voranzubringen.

Auch die Geldgeber des Wissenschaftsbetriebes, das heißt Bildungspolitiker, Stifter und andere Verteiler von Forschungsmitteln sollten überlegen, was sie eigentlich finanzieren. Sie, wie übrigens die Ökonomen selbst auch, sollten sich die Frage stellen: Was ist eigentlich der Zweck der Ökonomie? Laut Lehrbüchern besteht der Zweck darin, zu klären, wie eine optimale Allokation von Ressourcen funktioniert. Bereits Adam Smith hatte herausgefunden, dass unter bestimmten Bedingungen freie Märkte die effizienteste Form des Wirtschaftens sind. Allerdings gelang es bisher nicht wirklich zu erklären, wie Märkte als Schauplätze der Wirtschaft funktionieren.

Auch 240 Jahre nachdem Smith sein Modell der „unsichtbaren Hand“ als Wirtschaftslenker vorgestellt hat, versteht man in der Ökonomie den Mechanismus hinter diesem Modell immer noch nicht richtig: Was treibt Märkte wirklich an; wie kommen Preise zustande? Wenn man aber nicht richtig versteht, wie Märkte funktionieren, hat man insbesondere dann Schwierigkeiten, wenn Märkte einmal versagen. Weder gelingt eine aussagekräftige Analyse des Problems noch kann man aufzuzeigen, was besser zu machen wäre. Gerade die Finanzkrise hat erneut deutlich gemacht, wie diese Ratlosigkeit gegenüber realen Märkten die Ökonomie ins Abseits befördert.

Friedrich von Hayek hatte schon vor Jahrzehnten erkannt, dass das Problem der Wissenskoordination die „zentrale Frage“ hierbei ist: „Wie kann das Zusammenwirken von Bruchstücken von Wissen, das in den verschiedenen Menschen existiert, Resultate hervorbringen, die, wenn sie bewusst vollbracht werden sollten, aufseiten des lenkenden Verstandes ein Wissen erfordern würden, das kein einzelner Mensch besitzen kann?“ Von Hayeks Meinung, dass die unbeeinflusste Marktwirtschaft irgendwie schon alles richten werde, erscheint heute im Zeitalter von Globalisierung, Moral Hazard und bewusst geschaffenen Informationsasymmetrien allerdings als zu einfach. Doch wie könnte eine Lösung aussehen, die auch in einer komplexen Welt gilt?

Dabei werden uns nur neue Erkenntnisse darüber, wie Konsumenten, Unternehmer und Investoren mit ihrem Wissen bzw. Nichtwissen über die Zukunft umgehen, weiterhelfen, wenn wir die Fehlentscheidungen, die zur nächsten großen Krise führen können, vermeiden wollen. Sowohl empirische Sozialforschung und Verhaltenspsychologie wie auch Physik und Evolutionsbiologie können hier der Ökonomie wertvolle Anregungen geben.

Es gibt durchaus Ökonomen, die derzeit in viele interessante Richtungen forschen, auch wenn sie keine Chance haben, damit in die American Economic Review zu kommen. Aber vielleicht wird sich das ja einmal ändern. Und möglicherweise wird sogar einmal ein Nobelpreis dafür verliehen, vielleicht sogar (und jetzt geht meine Phantasie mit mir durch) an eine nichtenglischsprachige Wissenschaftlerin, die an einer deutschen Universität forscht. Dann könnte ganz eventuell sogar die Chance bestehen, dass die Ökonomie wieder zu ihrem alten Glanz als Profession herausragender Denker zurückfindet. Schön wäre es!

F. A von Hayek wurde zitiert nach seinem Buch: „Individualismus und wirtschaftliche Ordnung“; Salzburg (1937).

„Glanz und Elend der Ökonomie“ erschien in leicht abgewandelter Form zuerst in „Mit ruhiger Hand“ Nummer 19 vom 4. November 2013.

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