Die nächste industrielle Revolution? Mittelstand 4.0 – Eine Schraube bleibt eine Schraube

by Udo Stähler on 1. September 2015

Industrie 4.0 – klingt wie eine nüchterne betriebswirtschaftliche Agenda; industrielle Revolution 4.0 – schon kämpferischer; aber Mittelstand 4.0 – gibt’s das? Die publizierende Öffentlichkeit nimmt die Stärken des Mittelstandes, der von der kreativen Software-Bude bis zum Weltmarktführer im Anlagenbau reicht, im Schatten der Datenoligopole von Alphabet & Co nur mehr mitleidig wahr. Dabei schaffen die neuen Handlungsbedingungen gerade für den Mittelstand neue Geschäftsfelder. Er wird den wichtigsten Beitrag leisten, aus Innovationen durch schöpferische Zerstörung (J. A. Schumpeter) mehr Wertschöpfung zu machen.

Aber zuerst zum Alarm auf den Presserängen: Deutschland droht die industrielle Revolution 4.0 zu verschlafen. Das manager magazin meint damit insbesondere den Mittelstand, der nach hiesiger und auch sonstiger Meinung eine besondere Innovationsstärke zeigt. Bei näherem Hinsehen hätte das manager magazin feststellen können, dass es die Sorgen wegen mangelhafter IT-Sicherheit sind, die mittelständischen Unternehmen vor unüberlegten Vernetzungen zurückschrecken lassen; so zu erfahren vom Verband des Maschinen- und Anlagenbaus, der überwiegend mittelständisch strukturiert ist und als Ausrüster eine zentrale Rolle in Industrie 4.0 spielt. Die Risiken der vernetzten Produktion wurden in diesem Blog von einem Team der Deutschen Welle eindrucksvoll beschrieben.

 

Auch der Expertenverbund Plattform Industrie 4.0, bestehend aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gewerkschaften soll helfen, dass „das industrielle Herz Europas“ (Siegmar Gabriel) wieder kräftig schlägt. Günther Öttinger will gar für mehr Datensicherheit zu einer europäischen Cloud blasen. Was hat das manager magazin denn nun so erschreckt, dass der Mittelstand bei einem Thema wegnicken, dass die Wertschöpfung möglicherweise an ihm vorbeisteigen oder dass sie gar ins stocken geraten könne, weil der Mittelstand schlafe?

Für eine Antwort schaue ich mir an, ob die Digitalisierung der Produktion, das Internet der Dinge, eine industrielle Revolution ist. Kritisch beleuchtet diese Frage –ebenfalls veröffentlicht in diesem Blog– Sabine Pfeiffer: Im Kern gehe es bei Industrie 4.0 nur darum,

möglichst alle Elemente von Produktionsprozessen, die sie flankierenden Dienstleistungen und die verbindenden Logistikprozesse durchgängig miteinander zu vernetzen.

Der Aspekt, dass die Veränderungen der Handlungsvoraussetzungen für Wertschöpfung –und darum handelte es sich bei industriellen Revolutionen− immer Veränderungen in den sozialen Strukturen zur Folge haben, wird in obigem Beitrag nur gestreift; was auch Sabine Pfeiffers Zurückhaltung gegenüber dem Begriff der industriellen Revolution erklären würde.

 

Was passiert bei derartigen Umbrüchen?

Als die meisten Menschen in Fabriken arbeiteten, wurden die Lohnarbeiter zur größten sozialen Gruppe. Die Arbeiter-, aber auch die Frauenbewegung sind bedeutende gesellschaftliche Veränderungen, die am Machtgefüge der Gesellschaft rüttelten. Die Bildung der intellektuellen Mittelschicht wird zur Grundlage des Liberalismus.

Vielschichtige gesellschaftliche und berufliche Veränderungen folgen. Die Industrialisierung schafft neue Berufsbilder nicht nur in der Produktion: jetzt braucht die Gesellschaft auch Stadtplaner und Soziologen, Kriminologen und Psychologen. Der Dienstleistungssektor wird helfen, die Bedingungen der Wertschöpfung zu verbessern und die produktive Basis zu optimieren. Die Nationalökonomie entwickelt sich zunächst mit ihrem Gegenstand. Erst heute −wenn mir diese Bemerkung als Volkswirt gestattet wird− entfernt sich ihre akademische Elite davon wieder.

Auch die heutige Konsumgesellschaft entsteht letztlich nur, weil durch die industrielle Massenproduktion Waren nicht mehr in Handarbeit, sondern mit Maschinen hergestellt werden. Was wieder zu ganz neuen Problemen führt; aber das ist hier nicht das Thema. Thema ist der Mittelstand und sein Umgang mit den Anforderungen der digitalen Produktion.

 

Mittelstand: Effizienz statt Innovation?

Effizienz steigern“ ist das zentrale Fünf-Jahresziel des deutschen Mittelstands, so das Ergebnis einer aktuellen Umfrage der Commerzbank mit dem Titel, „Management im Wandel: Digitaler, effizienter, flexibler“. Blockiert der Fokus auf Effizienz Entscheidungen für weitere digitale Wagnisse? Kritiker vermuten, der Mittelstand sei besorgt, vorschnell in IT zu investieren und tappe so in die digitale Effizienzfalle, ohne die Digitalisierung in all ihren Möglichkeiten durchdacht und verstanden zu haben. Die Digitalisierung sei zwar als Thema angekommen, dennoch setzt nur 15 Prozent bereits digitale Technologien ein. Und nur 19 Prozent von den 4.000 befragten Unternehmen planen, die Digitalisierung als Anstoß für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle zu nutzen. Das bekannte Terrain wollen die meisten nicht verlassen, so heißt es. Unglaublich: beschränkt der Fokus Effizienz das Denken für die Zukunft?

Weitere Ergebnisse der o.g. Studie der Commerzbank zeigen, dass die technischen Anforderungen erkannt wurden: Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass der digitale Wandel im Mittelstand angekommen ist“. Schlüsseltechnologien befänden sich im Umbruch. Für die Zukunft rechne der Mittelstand mit hohem Effizienzpotenzial und echten Innovationen durch fortschreitende Digitalisierung. Hat sich das manager magazin schlagzeilenorientiert unnötig aufgeregt?

Oben habe ich mich der Meinung angeschlossen und werde in der Praxis bestätigt, dass mittelständische Unternehmen besonders innovationsstark sind. Sie sind nach meiner Beobachtung die „wendigen Exekutoren“ der schöpferischen Zerstörung (neudeutsch Disruption s.u.). Alois Schumpeter hat bereits Anfang des 20. Jhd. die Innovation als Auslöser der schöpferischen Zerstörung und als den Nukleus des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts beschrieben. Unsere Mittelständler werden hier durchaus ihrem Anspruch gerecht.

Eine Umfrage von DAA unter Executives fügt den Untersuchungsergebnissen der Commerzbank hinzu, dass Mittelständler im digitalen Zeitalter den Wettbewerbsvorteil disruptiver Innovationen kennen. Aber: sie haben keinen Fahrplan, wie sie in ihrem Unternehmen diese Herausforderung stemmen können. Viele Geschäftsführer fühlen sich überfordert, so die Auswertung. Die Überforderung speise sich aus einer unklaren Gemengelage, die Medien und Politik durch digitale sog. Buzzwords und unklare Rahmenvorgaben erzeugen sowie aus fehlenden Beratungsangeboten [hört, hört Kollegen].

Über die Effizienzdenke zur Begeisterung für Erneuerung

Jetzt entscheiden nicht technische Pioniere, sondern Manager, ob erfolgreiche Mittelständler neue Wege gehen, indem sie einen kreativen Dialog über die Chancen der Innovation, die schöpferische Zerstörung, kurz die Zukunft des Unternehmens eröffnen. Vor allem branchenfremde Akteure, aber auch Vertreter der Start-up-Szene können helfen, neue Geschäftsmodelle zu entdecken.

Doch muss der Mittelstand tatsächlich geweckt werden? Thomas Ramge behauptet in brand eins, dass Der Begriff … als industriepolitischer Weckruf gedacht (war). Ob der Mittelstand diesen Weckruf brauchte, sei dahingestellt, doch damit wurden die erforderlichen strukturpolitischen Veränderungen erstmals auf die wirtschaftspolitische Agenda gesetzt und rütteln hoffentlich am Struktur- und bislang qua definitione ordnungspolitischen Attentismus aller Regierungsparteien.

Benedikt Rugar stellt in brand eins –ganz anders als das manager magazin− fest, dass der Mittelstand im Vorteil ist. Warum? Bei Schlüsseltechnologien der industriellen Automatisierung sind deutsche Unternehmen weiterhin Weltspitze. Mittelständler befürchten, dass ihnen Alphabet, Amazon und Facebook die Datenhoheit und damit Wettbewerbsvorteile nehmen. Klug, dass sie sich mit ihren Daten nicht den Alphabets&Co ausliefern. Öttingers Cloud könnte die Wolken über Mittelstand 4.0 vertreiben.

 

Abschied von der Massenproduktion?

Eine entscheidende Voraussetzung, dass Industrie 4.0 eine industrielle Revolution werden könnte, wünscht sich Wolf Lotter in brand eins: Es ist der Abschied von der wichtigsten industriellen Doktrin überhaupt, der Massenproduktion. Was steckt wirtschaftlich und auch gesellschaftlich hinter dieser grundlegenden Veränderung? Schauen wir zurück: für die erste industrielle Revolution stehen die Dampfmaschine, Adam Smith, der deutsche Biedermeier und sein Michel. Für die Zweite die arbeitsteilige Produktion seit Ford und Taylor und auch der Sozialstaat. In der dritten industriellen Revolution, die durch Automatisierungen mit Hilfe von Elektronik und IT-Systemen, Umwelt- und Internettechnologien und Globalisierung geprägt war, repräsentieren Green Peace, Attak, Wikileaks und rechtspopulistische Bewegungen die gesellschaftspolitischen Veränderungen. Etwas wirklich Neues kann ich mit Industrie 4.0 noch nicht erkennen.

Wertschöpfung hat etwas mit Produktion zu tun

Die Wertschöpfung in der Industrie ist unvermindert entscheidend für unseren Wohlstand. Und damit natürlich auch der Beitrag der Dienstleister, die unmittelbar dazu beitragen, dass diese Unternehmen ihre Wertschöpfungsprozesse optimieren.

 

Die geringer werdende Beschäftigung in diesem Sektor und die wachsenden Dienstleistungsbereiche dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Basis der Wertschöpfung die Industrie bleibt. Wolf Lotter und andere ziehen aus der Tatsache, dass Mitte der sechziger Jahre noch 49,2% der Arbeitnehmer und heute nur noch knapp 25% in der Industrie, der überwiegende Anteil aber im Dienstleitungsbereich arbeitet, den Fehlschluss, dass Deutschland kein Industrieland mehr sei. Da er die Verteilung der Beschäftigten und den Beitrag zum BSP mit Wertschöpfung verwechselt, kann es dann schon mal passieren, dem BDI wie [dem] Mainstream vorzuwerfen,der abgelösten Produktionsform nachzutrauern. Seufz.

 

Eine Schraube bleibt eine Schraube

(Lotters) romantische Fantasien, im digitalen Zeitalter Wertschöpfung ohne (insbesondere Massen)-Produktion zu erwirtschaften, hat nur deshalb etwas Rührendes, weil er und seine Apologeten nicht an den Produktionsbedingungen zu schrauben anfangen. Mir ist lieber, wenn sie stattdessen parlierend auf uns unwissenden Mainstream herabschauen.

Da die Digitalisierung der Produktion im Mittelstand neben den drei kritischen Erfolgsfaktoren (1) Neupositionierung des Geschäftsmodells, (2) digitale Effizienzfalle und (3) Datenschutz auf das Herzblut des Mittelständlers trifft, braucht er Berater und Manager, die an sein Unternehmen glauben. Gerade im digitalen Zeitalter. In und mit dem er seine Wettbewerbsposition verbessern kann.

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Udo Stähler ist Diplom Volkswirt und Interim Manager, der über 25 Jahre in leitenden Funktionen im Firmen- und gewerblichen Immobilienkundengeschäft von Bankkonzernen, zuletzt bei einem Property und Asset Manager, tätig war. Er ist Partner des Verbund Beratender Unternehmer, der High Professionals und der RE² Real Estate Executives.

 

 

Jens September 1, 2015 um 08:57 Uhr

Komisch- man redet sich über Digi 4.0 den Mund fusselig , aber wie sieht die Arbeitswirklichkeit aus?
Ich arbeite in einem Gr0ßunternehmen der Finanzbranche- und das steckt noch mitten im Papierzeitalter. Es ist doch paradox: je virtueller das Produkt, desto größer der Hang zum Konreten. Und umgekehrt.
Gruß, Jens

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