Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie (03): Exkurs Evolutionsforschung

by Dirk Elsner on 2. November 2015

Die Ökonomen haben sich mit ihrer neoklassischen Theorie ein einfaches Modell der Welt gebaut und versuchen ökonomisches Verhalten im Kontext dieser Theorie zu interpretieren.[1] Danach dient das beobachtbare Verhalten der persönlichen Nutzenmaximierung. Insbesondere das in die Politikberatung und in die Bewertung wirtschaftspraktischer Sachverhalten oft eingehende Verhaltensmodell der Neoklassik bildet das Verhalten des Menschen freilich falsch ab.[2]

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Deutlich älter als die klassische ökonomische Theorie: Meeresschildkröte

Viele menschliche Handlungen erfolgen unbewusst und automatisiert, jedenfalls passen sie nicht in das neoklassische ökonomische Modell, wie dies übrigens auch Ökonomen selbst längst herausgefunden haben.[3] Viele Handlungen folgen eher “evolutorischen Notwendigkeiten als den Gesetzen der Logik”. Verhalten wird stark von durch verschiedenste biologische und psychologisch beeinflusste Emotionen gesteuert. “Das darf man allerdings nicht dahingehend interpretieren, dass evolutionär geprägtes Verhalten unlogisch ist.”[4] Hanno Beck weist darauf hin, dass viele (ökonomische) Institutionen oder Handlungsweisen, die Menschen geschaffen haben oder nutzen, nicht durch logisch-konstruktivistisches Denken zustande kommen, sondern in einem spontanen, evolutionären Prozess.”[5]

Diese nach der Lektüre von Edward Wilsons Buch “Die soziale Eroberung der Erde” gestartete Beitragsreihe basiert auf Konzepten der Evolutionsbiologie, der Neurobiologie und weiterer Fachrichtungen. Das ist für mich echtes Neuland. Gleichwohl ist es sehr faszinierend und auch für Ökonomen und Wirtschaftspraktiker unbedingt empfehlenswert, sich damit zu befassen, um sich einer Alternative zu ökonomischen Verhaltensmodellen zu nähern.

Bisher erschienen in der Reihe “Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie

1: Prolog

2: Wilsons Buch “Die soziale Eroberung der Erde”

Und dass diese Richtung, in die ich mich damit bewege, auch für Ökonomen nicht unvorstellbar ist, zeigt Hanno Beck in seiner Einführung in die Behavioral Economics. Er schreibt:

“Viele Entscheidungen und von Menschen geschaffene Institutionen beruhen nicht auf einer konstruktivistischen Denkweise, sondern kommen auf anderem Weg zustande – kein Mensch kann und wird jede Entscheidung unter Anwendung logisch aufgebauter Modelle treffen, was nicht heißt, dass er irrational handelt. Ökologische Rationalität ist ein nicht geplantes, in einem biologisch oder kulturell evolutionären Prozess entstandenes System aus gewachsenen Handlungsroutinen und Prinzipien, Normen, Institutionen und Moralvorstellungen, die sich über lange Zeit hinweg als überlegen bewährt und etabliert haben. Menschen befolgen Regeln, ohne dass diese von einem konstruktivistischen Geist zuvor geplant, ausgedacht oder getestet worden wären, und oft sind die Menschen gar nicht in der Lage, diese Regeln zu beschreiben – aber sie können mit Hilfe der konstruktivistischen Rationalität sozusagen entdeckt und nachvollzogen werden.”[6]

Dieser Exkurs zeigt, wie ich mich der Evolutionsforschung genähert habe.

Basisliteratur

Evolutionsforscher und Biologen verstehen die “Natur des Menschen” und den Menschen selbst, sein Verhalten sowie die aus ihm entstehenden Sozialstrukturen als Ergebnisse der Naturgeschichte und ziehen sie in den Zuständigkeitsbereich von Evolutionsbiologie oder Evolutionspsychologie[7]

In der Literatur stößt man schnell auf verschiedenste Selektionskonzepte, über die Biologen zum Teil heute noch heftig streiten. Nun bin ich nicht derjenige, der zu dem Gebiet der Evolutionsbiologie besondere Ratschläge erteilen kann. Ich bin hier nur Konsument und verarbeite in dieser Beitragsreihe meine Gedanken dazu. Neben vielen in den Fußnoten ebenfalls verlinkten Fachtexten habe ich mich mit folgenden Büchern den Konzepten genähert:

Evolutionsbegriff

Zunächst sollte ich aber schauen, was man unter Evolution versteht. Oft wird “Evolution” umgangssprachlich sowohl für den kulturellen Wandel als auch für biologische Veränderungelf verwendet. Beide stehen in Wechselbeziehung zueinander.[8] Darwin selbst hat für das Wort Evolution meist die Bezeichnung Transmutation verwendet.[9]

Greg Krukonis und Tracy Barr definieren “Evolution” als eine Veränderung im Laufe der Zeit, die sich auf alles beziehen, was sich verändert. Sprachen evolvieren, Kulturen, Kunstformen, sogar Verteidigungsstrategien im Fußball entwickeln sich im Laufe der Zeit fort.

“Die biologische Evolution befasst sich mit einer ganz besonderen Art von Veränderungen im Laufe der Zeit – Veränderungen in der Frequenz (Häufigkeit) verschiedener Gene von Generation zu Generation innerhalb einer gesamten Art (Spezies) oder einer einzelnen Population dieser Art.”[10]

Gut gefallen hat mir die Erklärung von Jan Zrzavý et al:

“Unter Evolution(vom lateinischen evolvere: ausrollen, entwickeln, ablaufen) versteht man die allmähliche Entwicklung eines beliebigen Systems mit „Gedächtnis“, d. h. eines Systems, das auf äußere Einflüsse reagiert, und zwar abhängig von den in der Vergangenheit gesammelten Erfahrungen.”[11]

Selektion

Selektion (vom lateinischen selectio: Auslese, Auswahl) stellt den zentralen Mechanismus der Evolution dar. Grundsätzlich geht es bei der Selektion von Lebewesen um die Weitergabe von wie auch immer definierten Erbanlagen an die Folgegeneration. Vererbte Unterschiede werden auf geringfügige Varianten desselben Gens (Allele) zurückgeführt. Die meisten dieser Unterschiede betreffen sogar nur ein einzelnes Basenpaar.[12]

“Wie schnell biologische Evolution sich abspielt, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem von der Stärke des Selektionsdruckes (das heißt vom durchschnittlichen Unterschied in der Zahl überlebender Nachkommen der Träger zweier verschiedener Genvarianten), der demographischen Entwicklung einer Bevölkerung, der Zahl der Gene, die zur Umsetzung einer Veränderung erforderlich sind, und dem Muster der Wechselbeziehungen zwischen den Genen. Die Evolution eines komplexen Organs, das durch das Zusammenwirken vieler interagierender Gene aufgebaut wird, kann ganze Erdzeitalter in Anspruch nehmen; dagegen kann eine quantitative Feinabstimmung, die durch ein einziges Gen oder wenige unabhängig wirkende Gene umgesetzt wird, schon innerhalb weniger Generationen stattfinden, vorausgesetzt, sie hat ausreichend starke Auswirkungen auf die Fitness. Nichts spricht grundsätzlich gegen die Möglichkeit, dass die Bevölkerungsgruppen der Menschen auch im Laufe der letzten Jahrtausende oder sogar Jahrhunderte ein gewisses Maß an biologischer Evolution durchgemacht haben, lange nachdem Rassen, ethnische Gruppen und Nationen sich auseinanderentwickelten.[13]

Die natürliche Selektion ist ein eigenständiger, mechanistischer Prozess, der seine Spuren sowohl im Körperbau der Organismen als auch in der Struktur ihrer Genome hinterlässt.[14] Das Konzept der Selektion (natural selection) war für Charles Darwin eine plausible Erklärung für Evolutionsvorgänge auf der Grundlage von Veränderlichkeit.

Christoph Marty weist darauf hin, dass das Selektionsprinzip damals gleich zweimal erkannt wurde: “Charles Darwin und der britische Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823-1913) ließen sich vom gleichen Buch inspirieren – dem zuerst 1798 erschienenen Werk »An Essay on the Principle of Population« (»Versuch über das Bevölkerungsgesetz«) des Engländers Thomas Malthus (1766-1834).”[15]

Fitness

Fitness bezeichnet den Fortpflanzungserfolg, der auf der Angepasstheit zur jeweiligen Umwelt beruht. “Ohne dass irgendjemand auswählt, pflanzen sich mit größter Wahrscheinlichkeit diejenigen Individuen fort, die ausgewählt werden, weil sie zufällig überlegener ausgestattet sind; diese Überlegenheit geben sie in ihren Genen weiter.”[16]

Alternativ definieren Jan Zrzavý et al Fitness als eine Disposition zum Überleben und zur Zeugung einer gewissen Anzahl von Nachkommen. Die kausale Basis der Disposition bilden physiologische, morphologische oder Verhaltenseigenschaften eines Organismus.[17]

Ich finde es hier ganz wichtig, die “Fitness” stets im Kontext der jeweiligen Umweltsituation zu betrachten. Es gibt keine absolute “Fitness”, in der die individuellen Eigenschaften eines Lebewesens in jeder Situation überlegen sind.

Entwicklung Evolutionstheorie

Ich bin sicher nicht derjenige, der hier die Entwicklung der Evolutionstheorie fachgerecht skizzieren kann. Wer eine Zusammenfassung sucht, der wird z.B. bei Michael Schmidt-Salomon[18] oder Axel Lange[19] fündig. Schmidt-Salomon liefert eine plausible und für mich ausreichende Übersicht der “Evolution der Evolutionstheorie”:

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Axel Lange hat mit folgender Abbildung die aus seiner Sicht wichtigsten Konzepte der Evolution von Darwin bis heute dargestellt. Die Abbildung enthält die Schlüsselthemen des Darwinismus (inneres Feld), der Synthese (mittleres Feld) und der Erweiterten Synthese (äußeres Feld). Das Schema soll die großen Kapitel der im steten Fluss befindlichen Evolutionstheorie darstellen, es umfasst nicht alle Konzepte:[20]

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Die Europäische Gemeinschaft für Evolutionsbiologie (ESEB) hat hier außerdem eine große Übersicht erstellt über den Fortschritt der Evolutionstheorie. Wer sich sonst tiefer einlesen will, dem empfehle ich die oben erwähnte Literatur. Für die Zwecke dieser Beitragsreihe sind die Erklärungen ausreichend.

Steven Pinker ist der Auffassung, dass wir zwar nichts in der Welt logisch beweisen können, “wir haben aber das Recht, in bestimmte Ansichten über die Welt Vertrauen zu haben. Die Anwendung von Vernunft und Beobachtung zur Entdeckung vorläufiger, allgemeiner Aussagen über die Welt bezeichnen wir als Naturwissenschaft. Der Fortschritt der Naturwissenschaft mit ihren atemberaubenden Erfolgen bei der Erklärung und Beeinflussung der Welt zeigt, dass man Kenntnisse über das Universum gewinnen kann, die allerdings immer nur Wahrscheinlichkeiten darstellen und revidiert werden können. Deshalb ist Wissenschaft ein Paradigma dafür, wie wir Kenntnisse erwerben sollen, aber damit sind nicht die einzelnen Methoden oder Institutionen der Wissenschaft gemeint, sondern ihr Wertesystem: Es geht darum, die Welt zu erklären, in Frage kommende Erklärungen objektiv zu bewerten und zu jedem Zeitpunkt den vorläufigen Charakter und die Unsicherheit unserer Kenntnisse anzuerkennen.”[21]

Erweiterte Synthese in der Evolutionstheorie

Die auch von Wilson vertretene moderne Fassung der Evolutionstheorie wird als “Erweiterte Synthese in der Evolutionstheorie” (extended evolutionary synthesis = ESS) bezeichnet. Sie schaut auch auf Einflussfaktoren der Evolution, die nicht auf Gene zurückzuführen sind. “Inzwischen fordern immer mehr Biologen, das Konzept der Evolutionstheorie anzupassen. Rückenwind hierfür kommt aus den Nachbardisziplinen, vor allem der Entwicklungsbiologie, aber auch der Genetik,

der Epigenetik, der Ökologie und den Sozialwissenschaften.”[22]

Allein der genzentrierte Ansatz der Standardevolutionstheorie [= SET] schafft es nämlich nicht, “die volle Bandbreite an Mechanismen der Evolution zu erfassen. Zum Beispiel fehlt der Einfluss der physischen Entwicklung auf die Entstehung von Variation (»developmental bias«). Außerdem fehlt der direkte Einfluss der Umwelt auf die Merkmale der Organismen (Plastizität), die Veränderung der Umwelt durch die Organismen selbst (Nischenkonstruktion) und die Weitergabe von mehr als nur den Genen über Generationen hinweg (extragenetische Vererbung). In der SET sind diese Phänomene einfach nur Folgen der Evolution. In der EES hingegen gelten sie auch als Ursachen.”[23]

Für die Erweiterte Synthese sieht Axel Langel die Multilevel Selektionstheorie als einen wertvoller Eckpfeiler. “Auf der einen Seite will [die evolutionäre Entwicklungsbiologie] den Konstruktionsplan des sich entwickelnden, selbst organisierenden und selbst verändernden Organismus erkunden. Auf der anderen Seite erstellt die Multilevel Selektionstheorie den Plan für eine möglichst vollständige Erfassung dessen, woran die Natur ihre Kräfte und Spiele am Lebendigen ausübt, an dem also, was die Entwicklung und ihre Variationen bereitstellt, wenn man so will. Die Folgen dieser Erkenntnisse sind fundamental für die Menschheit, wie es die Wilsons formulieren (Wilson/Wilson 2007):

“Zunächst mal müssen wir uns davon verabschieden, das Individuum als ein privilegiertes Level der biologischen Hierarchie zu sehen. Anpassung kann sich überall vollziehen, auf jeder Ebene von Genen bis Ökosystemen. Ja die Balance zwischen den Ebenen ist nicht einmal fixiert. Sie kann selbst evolvieren.”[24]

Bevor ich mich dem Kern dieser Beitragsreihe nähere, wird es im nächsten Beitrag zunächst um ein Konzept gehen, von viele Ökonomen meinen, es gut zu kennen: „Survival of the fittest“


[1] Gerald Braunberger weist übrigens zurecht darauf hin, dass die seriöse Ökonomik sich nicht nur mit einem Modell beschäftigt. Vgl. Gerald Braunberger, Was können Ökonomen?, Fazit am 19.10.15

[2] Vgl. Dennis J. Snower, Besitz bedeutet nicht alles, SZ-Online am 13.10.2014 und

Dirk Elsner, Beitragsreihe Neoklassik und “Homo Oeconomicus”, Übersicht in Blick Log am 12.03.15

[3] Vgl. z.B. für eine Einführung und Übersicht: Hanno Beck, Behavioral Economics: Eine Einführung, 1. Aufl. 2014.

[4] Hanno Beck, Behavioral Economics: Eine Einführung, 1. Aufl. 2014, Kindle Edition, Pos. 6037

[5] Hanno Beck, Behavioral Economics: Eine Einführung, 1. Aufl. 2014, Kindle Edition, Pos. 7463 f.

[6] Hanno Beck, Behavioral Economics: Eine Einführung, 1. Aufl. 2014, Kindle Edition, Pos. 7457 f

[7] Vgl. Werner J. Patzelt, Die Evolution geht weiter als man denkt, in: EvoEvo. 200 Jahre Darwin und 150 Jahre Evolutionstheorie. Zeitgenössische Beiträge aus Kunst und Wissenschaft, Wien (k/haus) 2009, S. 17-26, online auf Patzelts Politik.

[8] Vgl. Steven Pinker, Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit, 2011, Pos. 16792.

[9] Christoph Marty, Missverständnisse um Darwin, in: Spektrum kompakt, Evolution, 15.8.2015. S. 7.

[10] Greg Krukonis und Tracy Barr, Evolution für Dummies, 2013, Teil 1.

[11] Jan Zrzavý et al, Evolution – Ein Lese-Lehrbuch, 2., vollst. überarb. Aufl. 2013, S. 2.

[12] Jan Zrzavý et al, Evoluition – Ein Lese-Lehrbuch, 2., vollst. überarb. Aufl. 2013, S. 12.

[13] Vgl. Steven Pinker, Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit, 2011, Pos. 16811 f.

[14] Vgl. Steven Pinker, Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit, 2011, Pos. 16834.

[15] Christoph Marty, Missverständnisse um Darwin, in: Spektrum kompakt, Evolution, 15.8.2015. S. 13.

[16] Dawkins, Richard (2010): Die Schöpfungslüge, S. 78.

[17] Jan Zrzavý et al, Evoluition – Ein Lese-Lehrbuch, 2., vollst. überarb. Aufl. 2013, S. 12.

[18] Michael Schmidt-Salomon, Auf dem Weg zur Einheit des Wissens, 2007, S. 2 ff.

[19] Axel Lange, Darwins Erbe im Umbau – Die Säulen der Erweiterten Synthese in der Evolutionstheorie, Würzburg 2012.

[20] Axel Lange, Darwins Erbe im Umbau – Die Säulen der Erweiterten Synthese in der Evolutionstheorie, Würzburg 2012, S. 217.

[21] Steven Pinker, Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit, 2011, Pos. 4878.

[22] Kevin Laland et al., Brauchen wir eine neue Evolutionstheorie, in: Spektrum kompakt, Evolution, 15.8.2015. S. 54 f. Siehe zu der Debatte um die Erweiterung der Evolutionstheorie auch: Hans Zauner, Debatte um die Evolutionstheorie der Zukunft, auf EvoBioBlog am 8.12.2014 und Massimo Pigliucci, The (ongoing) evolution of evolutionary theory, on Scientia Salon am 10.11.2014.

[23] Kevin Laland et al., Brauchen wir eine neue Evolutionstheorie, in: Spektrum kompakt, Evolution, 15.8.2015. S. 56.

[24] Das eingebettete Zitat und der vorhergehende Text aus: Axel Lange, Darwins Erbe im Umbau – Die Säulen der Erweiterten Synthese in der Evolutionstheorie, Würzburg 2012, S. 252.

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