Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie (02): Wilsons Buch “Die soziale Eroberung der Erde”

by Dirk Elsner on 12. Oktober 2015

Im Prolog habe ich bereits angedeutet, dass mich die Gedanken der modernen Evolutionstheorie zu dieser Reihe inspiriert haben. Ausgangspunkt war dabei Edward O. Wilson[1]. Bevor ich sein Buch “Die soziale Eroberung der Erde” 2013 entdeckte, hatte ich nichts von ihm gehört hatte. Das ist ein großes Versäumnis. Genauso wenig hatte ich mich in meinem Blog mit Ausnahme eines Beitrags zum Darwin-Jahr 2009 mit der Evolutionsbiologie[2] befasst. Und zu meinem großen Bedauern bin ich in den vielen Jahren, in denen ich mich mit ökonomischen Fragen beschäftige, zwar häufig auf den Begriff Evolution gestoßen, jedoch ohne die Mächtigkeit der Modelle der Evolutionsbiologie und die dahinter für mich bisher verborgenen Erklärungsansätze zu erahnen.

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Menschen: Lieber in Gruppen als allein

Die soziale Eroberung der Erde

Ich habe viele Rezensionen (siehe Aufstellung am Ende dieses Abschnitts) zu Wilsons mit dem Wissenpreis des Jahres”[3] ausgezeichnetem Buch gefunden[4]. Sein Verlag selbst fasst das Buch vielleicht am prägnantesten zusammen:

“Egoismus oder Nächstenliebe, Eigennutz oder Kooperation – was liegt mehr in der Natur des Menschen? Als Einzelwesen sind wir egoistisch, als Gruppenwesen aber ziehen wir uneigennütziges Verhalten vor, sagt Edward O. Wilson, der berühmteste Biologe unserer Zeit, in seinem wegweisenden Buch. Zwischen den beiden Antriebskräften herrscht ein Dauerkonflikt, in der Gesellschaft wie in jedem Einzelnen von uns. Die Balance, die wir anstreben, ist stets zerbrechlich. … Das Buch beginnt mit drei fundamentalen Fragen, die die Menschen seit Jahrtausenden faszinieren: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?”

Der Anspruch Wilsons, nur die Biologie sei in der Lage, diese Fragen wissenschaftlich zu beantworten, stößt Helmut Mayer in der FAZ grob auf. Wilson möchte, so Mayer, “unbedingt via einer möglichst langen Naturgeschichte und seiner Gruppenselektion zu einer biologischen Antwort darauf kommen, was es mit uns eigentlich auf sich hat, oder in seinen eigenen Worten: zu einer „Definition der menschlichen Natur“. Und die liegt bei ihm in dieser These: dass die natürliche (Individual-)Selektion letztlich für alle fatalen Neigungen, die Gruppenselektion dagegen für alle als gut bewerteten Eigenschaften verantwortlich sei. Eigensucht, Feigheit und Verrat auf der einen Seite treten gegen Ehre, Moral und Opfergeist auf der anderen an. Das ist der Reim, der auf alles passen soll, der „Kampf, der im Gehirn jedes Menschen tobt“.”[5]

Mayer hält den umfassenden Erklärungsanspruch Wilsons für übertrieben, schreibt nur leider nicht warum. Wilson legt sich die Welt ganz sicher nicht nach einem einfachen Rezept zurecht, sondern untermauert sie mit Belegen aus der Genetik, der Neurobiologie und anderen Wissenschaften. Und auch die kulturelle Entwicklung findet in Wilsons Spätwerk ihren Platz.

In jedem Fall halte ich Wilsons Ansatz für empirisch wesentlich fundierter als eindimensionale Verhaltensannahmen ökonomischer Modelle, die zwar theoretisch elegant, praktisch aber irrelevant sind. Eine von mehreren Grundannahmen ist bekanntlich die des rationalen Agenten[6], der seinen persönlichen Nutzen maximiert. Diese Annahme wird in der Ökonomie nicht erklärt, sondern nur postuliert[7]. Wilson dagegen leitet seine Erkenntnisse evolutionsbiologisch ab mit entsprechenden empirischen Untersuchungen.

Das Buch selbst besteht aus einem Prolog und fünf Abschnitten, jeweils mit mehreren Unterkapiteln[8]:

I. Warum existiert höher entwickeltes soziales Leben?

III. Soziale Insekten erobern die Welt der Wirbellosen

IV: Die Kräfte der sozialen Evolution

V. Was sind wir?

VI. Wohin gehen wir?

Wilson konzentriert sich dabei in Abschnitten I. und III. auf die biologische Evolution. Ab Abschnitt IV. wird er dann immer konkreter und bezieht auch die kulturelle Evolution des Menschen mit ein. Zur Definition von Kultur schreibt er:

“Nach einer bei Anthropologen und Biologen verbreiteten Definition ist Kultur die Kombination von Merkmalen, die eine Gruppe von einer anderen unterscheidet. Ein Kulturmerkmal ist ein Verhalten, das entweder in einer Gruppe neu erfunden oder von einer anderen Gruppe erlernt und dann zwischen den Gruppenmitgliedern weitervermittelt wird. Die meisten Forscher sind sich auch einig, dass der Begriff der Kultur auf Tier und Mensch gleichermaßen angewandt werden sollte, um damit die Kontinuität zwischen beiden zu unterstreichen, ungeachtet der ungleich größeren Komplexität im menschlichen Verhalten.”[9]

Wilson entwickelt die Evolutionstheorie, die nach der Grundlegung durch Charles Darwin 1859 in den nachfolgenden Jahrzehnten von Darwin selbst und zahlreichen anderen Forschern präzisiert wurde, zusammen mit vielen anderen Forschern weiter.[10]

Einheit des Wissens

Wenn man sich mit Wilson befasst, dann stößt man sehr schnell auf weitere Werke des Biologen und zweifachen Pulitzerpreisträgern. Und eigentlich sollte man vor dem Buch “Die soziale Eroberung der Erde” sein Werk aus dem Jahre 1998 “Die Einheit des Wissens” lesen. Damit legte Wilson eine überaus stimmige und sehr konstruktive Kritik der Ökonomie vor, die ich bereits in einer dreiteiligen Reihe (Teil 1, Teil 2, Teil 3) über Wilsons Kritik der Ökonomie zusammengefasst habe.

Als ich diese Reihe begonnen habe, legte Wilson im Herbst 2014 eine weiteres Buch vor: The Meaning of Human Existence. Darin fasst Wilson im Alter von mittlerweile 85 Jahren noch einmal seine wichtigsten Erkenntnisse über die Bedeutung der menschlichen Existenz in allgemein verständlicher Sprache zusammen.

Keine Gefahr des Biologismus

Ich sehe bei Wilson Buch übrigens nicht die Gefahr des Biologismus oder gar eines genetischen Determinismus, wie er Biologen gern mal vorgeworfen wird. Versteht man Biologismus, wie Christian im Blog “Alles Evolution” “als falsch verstandene Biologie oder eine Überhöhung dieser dahingehend, dass neben der Biologie kein Raum mehr für soziale Ausformungen oder soziale Regeln gesehen wird oder aber in dem im Wege naturalistischer Fehlschlüsse aus der Biologie Forderungen für die Gestaltung der Gesellschaft hergeleitet werden”[11], dann sehe ich diese Gefahr bei Wilsons nicht.

Wilson lässt in “Die soziale Eroberung der Erde” keine Zweifel, dass die kulturelle Evolution die genetische Evolution abfedert[12]. Ich sehe dies ebenfalls als eine wichtige Ergänzung und beziehe mich dabei u.a. auf Steven Pinker. Pinker fasste in seinem Werk “Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit” die vielfältigen Untersuchungen zu den Ursachen aber auch zum Rückgang der Gewalt unter Menschen zusammen. Die Veränderungen im Umgang miteinander und insbesondere die Reduktion der Gewalt lässt sich allein mit evolutionsbiologischen Ansätzen nicht erklären.[13] Er fasst seine ausführlichen Erläuterungen so zusammen:

“Die biologische Evolution könnte also theoretisch Einfluss auf unsere Neigung zu Gewalt oder Gewaltlosigkeit gehabt haben, wir verfügen aber nicht über stichhaltige Anhaltspunkte, dass dies tatsächlich der Fall war. … die geringste Veränderung von Genhäufigkeiten. Da nicht zu bestreiten ist, dass kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse den Zustand unserer besseren Engel (beispielsweise Selbstbeherrschung und Empathie) neu ausrichten und damit unsere gewalttätigen Neigungen unter Kontrolle halten können, verfügen wir durchaus über die Mittel, um den gesamten Rückgang der Gewalt zu erklären, ohne uns auf biologische Evolution in jüngerer Zeit zu berufen. Zumindest vorerst besteht für eine solche Hypothese kein Bedarf.”[14]

Auch Michael Schmidt-Salomon sieht nicht, dass die Evolutionsbiologie die anderen wissenschaftlichen Disziplinen dominieren oder gar ersetzen will[15]. Er schreibt:

“Die korrekte Wahrnehmung des biologisch vorgegebenen Rahmens ist von entscheidender Bedeutung. Ignorieren wir die Breite dieses Rahmens, so laufen wir geradewegs in die Sackgasse des Biologismus, ignorieren wir hingegen, dass dieser biologische Rahmen überhaupt existiert, so landen wir ebenso schnell auf dem Abstellgleis des Kulturismus. Beide Denkungsarten verfehlen ihr Ziel und behindern … den Weg zu einer „Einheit des Wissens“.”[16]

Nach Schmidt-Salomon soll eine naturalistische Grundierung der Sozial- und Geisteswissenschaften verhindern, dass sich diese in empirisch haltlosen, konstruktivistischen Spekulationen ergehen (Stichwort „eleganter Unsinn“).[17]

Dieser elegante Unsinn ist vielleicht genau das, was uns die neoklassische Ökonomie präsentiert. Sie rechtfertig mit ihren unzutreffenden Annahmen und den Verweis auf effiziente Lösungen viele Verhaltensweisen, die wir als ungerecht empfinden[18]. Wilson zeichnet in seinem Buch dagegen ein realistischeres Menschenbild, das sogar den homo oeconomicus als Spezialfall enthalten kann.

Wie auch immer, ich vermute jedenfalls bei der Lektüre des Buches einige Lösungen zur Fragen (dazu mehr in einem späteren Beitrag), auf die mir die Ökonomie keine klare Antwort geben konnte[19].

Was Ökonomen zu dem Buch schreiben

Ich habe bisher nur einen[20] deutschen Ökonomen gefunden, der sich in einem wissenschaftlichen Text auf Wilsons soziale Eroberung der Erde bezieht[21]. Das ist Karlheinz Ruckriegel in seinem sehr lesenswerten Aufsatz “Abschied von der Neoklassik (Standard Economic Model)[22].

Ruckriegel betont, dass Erkenntnisse aus der Neurobiologie zeigen, dass das natürliche Ziel des menschlichen Motivationssystems soziale Gemeinschaft und gelingende soziale Beziehungen mit anderen sind. Weiter schreibt er:

“Der Stand der interdisziplinären Forschung ist, dass Menschen i.d.R. auf Fairness ausgerichtet sind. Evolutionsgeschichtlich war die Menschheit auf Kooperation angewiesen, um zu überleben und sich fortzuentwickeln. Edward O. Wilson schreibt in seinem Buch Die soziale Eroberung der Erde – eine biologische Geschichte des Menschen dazu: „Dass sich Kooperation bei der Fleischgewinnung als Vorteil erwies, führte zur Bildung in hohem Maße organisierter Gruppen“. Kooperation war aber ohne Fairness nicht möglich. Nach Wilson beeinflussen "Kooperativität und Zusammenhalt nachweislich die Überlebensfähigkeit von Gruppen.“ und "es verschafft uns eine tiefe Befriedigung, wenn wir nicht einfach nur gleichmachen und kooperieren. Außerdem gefällt es uns, wenn diejenigen bestraft werden, die nicht kooperieren (Schmarotzer, Kriminelle) oder auch nur keinen statusgemäßen Beitrag zur Gemeinschaft leisten (reiche Müßiggänger).“[23]

Daneben gibt es aber zahlreiche Wissenschaftler, die sich mit der Multilevelselektion in Bezug auf die ökonomische Theorie beschäftigen. Dazu komme ich in einem späteren Text. Im nächsten Beitrag zeige ich erst einmal, wie ich mich überhaupt der Evolutionstheorie genähert habe.

Rezensionen und über Edward O. Wilson

Ausgewählte Rezensionen

Version 1.00, veröffentlicht am 12.10.2015


[1] Mehr zu Biografie von Wilson findet man in: Martin A. Nowak, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, Kindle Edition, 2013, Pos. 2982 ff.

[2] Über Evolutionstheorie und Darwin verfügte ich, wenn überhaupt, über etwas Halbwissen to go.

[3] Ausgezeichnet wurde es 2013 in der Kategorie Übersicht. Sie www.wissenschaft.de, Die 6 Wissensbücher des Jahres, am 19.11.2013.

[4] Ich halte es nicht für zweckmäßig, die verschiedenen Rezensionen hier an einer Stelle gesammelt aufzuführen. Ich habe diverse Besprechungen von Wilsons Spätwerk hier dieser Beitragsreihe verarbeitet.

[5] Helmut Mayer, Zuerst die Ameisen und dann die ganze Welt, FAZ Online v. 10.02.2013.

[6] Ich habe mich damit in einer Beitragsreihe zum “Homo Oeconomicus” (Übersicht hier) intensiv befasst.

[7] Dass daneben evolutionsbiologische Ansätze mehr erklären als andere (z.B. religiöse) Schöpfungsmythen, kann ich hier nicht vertiefen.

[8] Bei der Nummerierung der Kapitel zumindest in der Kindle-Version gibt es dabei übrigens einen Fehler, denn das Kapital II. fehlt.

[9] Edward O. Wilson, “Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen”. Position 3319.

[10] Einen Abriss der verschiedenen Phase der Evolutionstheorie ist zu finden bei Michael Schmidt-Salomon, Auf dem Weg zur Einheit des Wissens, 2007, S. 2 ff.

[11] Christian, Was ist Biologismus?, auf: Alles Evolution am 17.12.2013.

[12] Edward O. Wilson, “Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen”. Position 3069. Diese “kulturelle Abfederung” kann übrigens auch biologisch begründet werden über “epigenetische Prozesse”. Vgl. dazu die gut lesbare Zusammenfassung von Michael Schmidt-Salomon, Auf dem Weg zur Einheit des Wissens, 2007, S. 9. Zu den epigenetischen Einflüssen komme ich in einem späteren Beitrag noch.

[13] Siehe dazu Steven Pinker, Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit, 2011.

[14] Siehe dazu Steven Pinker, Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit, 2011, Pos. 17067 f.

[15] Michael Schmidt-Salomon, Auf dem Weg zur Einheit des Wissens, 2007, S. 1.

[16] Michael Schmidt-Salomon, Auf dem Weg zur Einheit des Wissens, 2007, S. 9.

[17] Michael Schmidt-Salomon, Auf dem Weg zur Einheit des Wissens, 2007, S. 9.

[18] Ich habe das vertieft betrachtet in dem Beitrag Ist Fairness nur für Muppets (Teil 2): Mythos Neoklassik. Siehe dazu auch Michael S. Aßländer, Vom „klassischen Irrtum“ der Neoklassik, in: zfwu 7/2 (2006), S. 206 ff.

[19] Einige diese Fragen habe ich in der Reihe “Ist Fairness für Muppets?” angerissen.

[20] Das bedeutet nicht, dass es nicht noch weitere gibt. Ich freue mich über Hinweise.

[21] Umgekehrt findet man eher Biologen, die empfehlen, biologische Ansätze auch auf ökonomische Fragen zu übertragen, wie etwa David Sloan Wilson dies in einer sehr ausführlichen Beitragsreihe für ScienceBlogs gemacht hat.

[22] Karlheinz Ruckriegel, Abschied von der Neoklassik (Standard Economic Model), Sonderdruck Schriftenreihe der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm Nr. 59, Februar 2015.

[23] Karlheinz Ruckriegel, Abschied von der Neoklassik (Standard Economic Model), Sonderdruck Schriftenreihe der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm Nr. 59, Februar 2015, S. 12 f.

Covacoro Oktober 16, 2015 um 17:08 Uhr

Zitat: „Ruckriegel betont, dass Erkenntnisse aus der Neurobiologie zeigen, dass das natürliche Ziel des menschlichen Motivationssystems soziale Gemeinschaft und gelingende soziale Beziehungen mit anderen sind.“

Das erinnert an die Definition, welche Basisgüter für ein „gutes Leben“ notwendig sind, wie sie im Buch von Robert und Edward Skidelsky „Wie viel ist genug?“ thematisiert wird. Finde dieses Buch ebenfalls lesenswert, weil es Ökonomie, Psychologie und Biologie/Umwelt in Beziehung setzt.

Danke für den Artikel.

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