Lesehinweis: über das Gerede von der Krise und mediale Ansteckungseffekte

by Dirk Elsner on 23. Mai 2009

Rudolf Bretschneider geht in einem Artikel heute in der Wiener Zeitung den Ansteckungseffekten in Krisenzeiten nach. Er zeigt, wie sich die Finanzkrise von Fachpublikationen in die Wirtschaftsteile der Tagespresse und anschließend auf die Titelseiten hocharbeitete. Bretschneider macht auf das Phänomen aufmerksam, wie häufig die Finanzkrise mittlerweile für viele Pseudoerklärungen missbraucht wird:

“Die „Krise“ dient zur Pseudoerklärung für vieles. Sie bedient das weitverbreitete Bedürfnis, eine Ursache für ein (neues) Phänomen zu benennen; und weil sie so allgegenwärtig erscheint, braucht man oft nur wenige Gedankenschritte, um von ihr auf das zu Erklärende zu kommen. Strenge Beweisführung, die bei sozialen Ereignissen ohnehin fast unmöglich ist, scheint nicht vonnöten zu sein.”

Er betrachtet das Verhalten von Experten und …

“Es sind Phänomene „sozialer Ansteckung“, die bei derartigen Großereignissen zu beobachten sind. Die Krise lebt – weit über jene Bevölkerungskreise hinaus, die zunächst und unmittelbar von ihr betroffen sind. Sie dominiert alle Medien, öffentliche Diskussionen und privaten Gespräche. Sie „erzeugt“ vorsichtiges Konsum- und Investitionsverhalten. Ihre scheinbare Allgegenwart vernichtet ein rares Gut, auf dem ein Großteil unseres Alltagshandelns beruht: selbstverständliches Vertrauen. Man hört, dass die Banken einander nicht mehr vertrauen – wie kann, wie soll man denn dann ihnen noch vertrauen?

Man lernt auch, den Experten zu misstrauen – schließlich ändern diese unter den Augen der Medienöffentlichkeit häufig ihre Lageeinschätzungen (wäre es besser, sie sagten: „Wir wissen es nicht“?). Teile der Realwirtschaft verlieren ihr Vertrauen in ein „normales Geschäft“ und sind auch durch billiges Geld nicht zum Investieren zu bewegen: Schließlich wagt man nur dann einen Schritt in die Zukunft, wenn man begründete Erfolgshoffnungen hat und auf eine baldige Besserung vertraut.”

… von Politikern:

“Die Politik versucht einschlägige Angebote zu offerieren. Aber nach jedem „Gipfel“ und jedem Beschluss wird – vor allem medial – sofort die Frage aufgeworfen, wann denn die beschlossenen Maßnahmen wirken werden; und warum nicht sofort. Es sind rhetorische Fragen, die unbeantwortet bleiben. Fragen, die Ausdruck von großer Nervosität sind. Wer nervös ist, hat keine Geduld. Medienvertreter sind grundsätzlich nicht sehr geduldig. Sie zeigen häufig ein Verhaltensmuster, das auch bei anderen Berufsgruppen (wie bei Investmentbankern oder Ökonomen) zu finden ist: einen Hang zu Konvergenz.”

“Man orientiert sich – vor allem bei großer Unsicherheit – an den Einschätzungen anderer; oft, ohne diese gründlich zu überprüfen; man lässt sich gerne anstecken. Selbst die recht seltsam und abenteuerlich anmutenden Einschätzungen bezüglich „Osteuropa“ (ohne Länderdifferenzierung) durch regionsferne Experten wurden hierzulande bisweilen gedankenlos überkommen.”

Lesenswerter Artikel.

Mit den Defiziten der Berichterstattung zur Finanzkrise setzt sich ebenfalls Hansruedi Ramsauer in seinem Blog Zeitenwende unter dem Titel die Verantwortung der Medien auseinander. Er geht der Frage nach, ob Medien rechtzeitig vor der Finanzkrise gewarnt haben und bezieht sich dabei auf eine Untersuchung der Columbia Journalism Review, die in den letzten Jahren über 700 Artikel in den wichtigsten amerikanischen Zeitungen zusammengestellt hat. Ebenfalls lesenswert.

Beide Artikel

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