Web 2.0 für die Finanzbranche (Teil 1): Perspektiven und Potenziale

by Dirk Elsner on 23. März 2010

Von Dirk Elsner* und Florian Semle**

Jürgen Moormann, Professor für Bankbetriebslehre und Leiter des ProcessLab der Frankfurt School of Finance & Management, sieht in einem Beitrag für die Zeitschrift „Die Bank“ die Finanzkrise und die politische Entwicklung auf europäischer Ebene als zwei Treiber für Veränderungen im Bankgeschäft. Nach unserer Wahrnehmung ist diese Einschätzung richtig, was die Praxis in den Instituten betrifft. Dabei bleibt jedoch unberücksichtigt, dass außerhalb des Finanzsektors eine Entwicklung begonnen hat, die einen noch größeren Einfluss auf das Bankgeschäft nehmen kann und unter dem Buzzwort Web 2.0 diskutiert wird.

Moormann sieht, dass zur Verbesserung der Ertragsseite das Vertrauen „der Kunden (zum Beispiel durch transparente und faire Information und Beratung), die Optimierung der Zugangskanäle sowie die bessere Erfüllung von Kundenwünschen basierend auf den tatsächlichen Bedürfnissen der Kunden“ eine zentrale Rolle spielen. Diese Feststellung ist zwar nicht neu, bekommt aber durch aktuelle Entwicklungen eine besondere Bedeutung, weil etwa Unternehmen aus dem Nichtbankensektor das angeschlagene Vertrauensverhältnis zwischen Banken und Kunden für neue Geschäftsmöglichkeiten nutzen. Traditionelle Finanzhäuser können sich daher nicht auf Dauer der neuen Webrealität verschließen. Sie werden andernfalls nicht etwa ein Problem mit der immer stärker werdenden Gruppe der „Digital Natives“ bekommen, sondern diese Zielgruppe schlicht verlieren bzw. gar nicht erst erreichen.

Banken stehen aus verschiedensten und oft nachvollziehbaren Gründen Modewellen zunächst skeptisch gegenüber und misstrauen ihnen[1]. Aktuell besteht nach unserer Auffassung zwar keine Notwendigkeit, in hektischen Aktionismus zu verfallen und jedem Hype zu folgen. Jedoch zeichnet sich immer deutlicher ab, dass Häuser, die sich einen Wettbewerbsvorteil sichern wollen, mit dem Umdenken in Richtung Banking 2.0 bereits begonnen haben. Gleichwohl steht der Beweis im Sinne vorzeigbarer Erfolgsbeiträge noch aus. Doch wer warten will, bis die ersten auf den neuen Trend setzenden Institute ihren Wertbeitrag-2.0 schwarz auf weiß nachweisen, wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu spät starten.

Wir wollen unsere Erfahrungen mit beiden Welten zusammen legen und in zwei Beiträgen Finanzhäuser motivieren, sich auf Basis ihrer gegenwärtigen Geschäftsmodelle weiter zu entwickeln.

Definition oder Merkmale

Bevor sich Banken mit einem Thema befassen, erwarten sie eine möglichst griffige Definition für die im Raum stehenden Schlagworte wie „Banking 2.0“, „Web 2.0-Banking“ oder auch „Social Banking“, die alle mehr oder weniger synonym verwendet werden. Ob es eine solche, gemeinhin akzeptierte Definition bereits gibt, lassen wir hier bewusst offen. Wir nennen hier einige konstituierende Merkmale, die wir für wichtig halten.

  • offene und gleichberechtigte Kommunikation der (potentiellen) Kunden untereinander und mit dem Dienstleister
  • hohe Transparenz über Leistungen und Gegenleistungen
  • Gestaltung durch und Mitwirkung der Kunden an den Dienstleistungen (= Kollaboration: kooperative Informations- und Leistungsergänzung)
  • Verbreitung von Informationen in Echtzeit
  • fallbezogene, pragmatische und interaktive Herangehensweise (= Selbstorganisation)

Daneben gibt es einige Autoren, die das “Social” in „Social Banking“ in traditioneller Weise interpretieren, um Finanzdienstleistungen zu entwickeln und zu verbessern, damit sich auf eine gewinnbringende Art und Weise die wirtschaftlichen Strukturen von benachteiligten Gebieten, Gruppen und Wirtschaftsbereichen erhalten und fördern lassen (Vgl. Reifner). Auch wenn diese Art des Social Bankings moralisch wünschenswert erscheint, engt diese Betrachtung das neue Banking doch zu sehr ein. Das Social in Social Media wird daher von den meisten Akteuren nicht im Sinne von “sozial” und damit „moralisch gut“ interpretiert, sondern im Sinne von gemeinsamen Handeln[2]. Social Banking lässt sich daher eher als eine Philosophie verstehen, die Menschen mit ihren Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellt, ohne dabei die Eigeninteressen des Dienstleisters zu verstecken.

Banking 2.0 steht erst am Anfang einer Entwicklung und ist ein “Work in Progress”. Es gibt heute nicht DAS Geschäftsmodell für Banking 2.0. Nichts mit Banking 2.0 zu tun haben nach unserer Auffassung Vorschläge, Werbeslogans über Web-Communities oder via Facebook und Twitter zu verbreiten. Hier werden lediglich Botschaften über zusätzliche Kommunikationskanäle versendet. Die oben genannten konstitutiven Merkmal fehlen aber, wenn etwa Rückkanäle nicht aktiv genutzt werden.

Einstieg in die Web 2.0-Philosophie

In der Regel wird es aktuell so sein, dass eine Bank, die sich mit den Wirkungen des Web 2.0 auf ihr Bankgeschäft beschäftigt, nicht genau weiß, was dies für sie bedeutet. Ob und in welchem Umfang ggf. Dienstleistungen anzupassen und neu anzubieten sind, ist heute kaum abschließend zu beantworten. Wir wollen daher einen Ansatz vorstellen, wie eine Bank den Weg ins 2.0-Zeitalter finden könnte. Grundsätzlich lässt sich nach unserer Auffassung der Weg in zwei Abschnitte teilen:

1. Weiterentwicklung der Kommunikation hin zu einer Social Media Strategie: In diesem Abschnitt geht es darum, das Informations- und Kommunikationsverhalten zu überprüfen und anzupassen.

2. Anpassung der Produkte und Dienstleistungen an das Web 2.0: Neben der Entwicklung einer Social Media-Kommunikations-Strategie könnte ein Finanzhaus einen weiteren Schritt wagen, nämlich überlegen, ob und welche Dienstleistungen 2.0-fähig gemacht werden können. Dieser Ansatz greift deutlich tiefer in das Herzstück des Bankgeschäfts und erfordert möglicherweise weitgehendere Änderungen in der Systemarchitektur einer Bank.

1. Weiterentwicklung der Kommunikation hin zu einer Social Media Strategie

Im Social Web kann man nicht nicht kommunizieren. Man kann seine Potenziale nur nutzen oder durch Nichtstun verschwenden. Das ändert aber nichts daran, dass jedes Unternehmen ein spezifisches Potenzial im interaktiven Internet hat. Zielgruppen in Netzwerken und Foren, Interessenten, die über klassische Vertriebskanäle nicht erreicht werden können, ein Heer an Bloggern, die kundenahe Nischenthemen behandeln und vor allem eine wachsende kritische Reflexionsgemeinde, die bevorzugt die Unternehmen ins Visier nimmt, denen unterstellt wird, dass im klassischen Marketing und der kontrollierten Werbung wesentliche Dinge verschwiegen werden. Das Schweigen 2.0, die Verweigerung des offenen, nicht kontrollierten Kundendialogs, birgt also auch Risiken. Wer sich der Illusion hin gibt, dass Kritik im Zeitalter des interaktiven Internet ignoriert werden kann, schafft beste Voraussetzungen dafür, dass sie sich unkontrolliert im Netz entlädt. Umgekehrt bietet eine sorgsam geplante und dosierte Annäherung an soziale Medien vor allem Chancen.

  • Reaktive Social Media Strategien: Im sozialen Internet werden vor allem die Fragen, Meinungen, Wünsche und Kritiken öffentlich, die in der bestehenden Kommunikation 1.0 kein Gehör finden. Die Netzöffentlichkeit ist nicht kritischer als andere öffentliche Sphären, aber im Internet besteht die Möglichkeit, sich überhaupt kritisch zu äußern. Deshalb steigt die Glaubwürdigkeit digitaler, user-generierter Informationen zu Finanzprodukten an. Es scheint fast so, als wachse das Vertrauen in digitale Information in dem Maße, wie es bei der klassischen Finanzberatung schrumpft. Diese Konstellation birgt deshalb vor allem Chancen, Vertrauen über Social Media Einsatz zurück zu gewinnen. Das soziale Internet ist eine Art Seismograph und Frühwarnsystem für Kundenwünsche und birgt essentielle Informationen über die tatsächliche Wahrnehmung von Produkten, Unternehmen und Trends. Diese demoskopischen Möglichkeiten im Internet sind deshalb ausgesprochen relevant, weil es die aktuelle Stimmungslage bestehender Kunden und potenzieller Neukunden identifiziert. Eine Strategie, die dieses Potenzial erschließt, konzentriert sich vor allem darauf, die wichtigsten Multiplikatoren, Plattformen und Kommunikationskanäle zu den Unternehmensthemen zu identifizieren, entsprechende Monitoring-Systeme zu installieren und methodisch auszuwerten. Die Ergebnisse können für eine Justierung von Produkten und Services passend zu Kundentrends und Kundenwünschen verwendet werden. Auch die Reservierung von Namensrechten gehört zu den Pflichten der Unternehmenskommunikation, um die Fremdbesetzung von Unternehmensnamen zu vermeiden. Eine reaktive Social Media Strategie ist deshalb obligatorisch für jedes professionell geführte Unternehmen, gleich welcher Branche.
  • Proaktive Social Media Strategien: Bei proaktiven Social Media Strategien entwickeln Unternehmen und Mitarbeiter Konzepte für ein eigenes aktives Auftreten im Social Web. Darunter fällt jede Form der Öffnung und nicht-hierarchischen Kommunikation im sozialen Internet, vom Blog mit Kommentarfunktion, über intelligente Twitter-Dialoge bis hin zu einer ganzheitlichen Social Media Kommunikation im Rahmen der Unternehmens- oder Service-Kommunikation. Proaktive Maßnahmen zielen darauf ab, ein langfristiges Beziehungsnetzwerk zu relevanten Zielgruppen im Social Web zu entwickeln und das digitale Potenzial eines Unternehmens möglichst vollständig zu realisieren. Sie sind die eigentliche strategische Option im interaktiven Internet, weil hier meinungs- und damit geschäftsrelevante Öffentlichkeit geschaffen wird. Deshalb sollte vor allem bei diesem Vorgehen eine substantielle Potenzialanalyse und langfristige Strategie inklusive einer geplanten Fehlertoleranz zugrunde liegen.
  • Interne strategische Aufstellung: Finanzunternehmen, die den Schritt ins Social Web wagen, müssen zumindest gefühlt eine neue kommunikative Welt betreten: Klassischer Marketing-Jargon ist tabu, die Ansprache wird personalisiert und aus Kommunikationsmaßnahmen werden Angebote, über die das Publikum offen und manchmal kritisch entscheidet. Der bevorstehende Kulturschock bei Neulingen im Web 2.0 dürfte neben der übertriebenen Kritikvermutung einer der Hauptgründe sein, warum Unternehmen diesen Schritt hinaus zögern. Deshalb sollte der Start ins Social Web mit internen Maßnahmen und Anwendungen beginnen. Mitarbeiter werden die Unternehmenskommunikatoren im sozialen Internet sein und müssen darauf vorbereitet werden. Das kann zum Teil über Coaching geleistet werden, aber auch durch interne Social Media, mit denen sich zunächst die konzernweite Öffentlichkeit öffnet. Nichthierarchische Formen des Wissensmanagements, angefangen bei internen WIKIs bis hin zu internen Communities etwa beim Datenmanagement oder für Mitarbeiter im Außendienst gelten zudem als überlegene Systeme der Wissensvermittlung.

Abschied von Marketing-Illusionen
Verbunden mit der neuen Kommunikationskultur ist der Abschied von manchen Prinzipien, die bisher zum Fundament der Außendarstellung eines Unternehmens gehörten. Doch dieser Abschied ist gleichzeitig eine sinnvolle Desillusionierung, weil er manchem Selbstbetrug der scheinbar heilen Marketing-Welt aufräumt:

  • Kritik ist nicht gefährlich, weil sie im sozialen Internet plötzlich wahrnehmbar wird. Im Gegenteil: Die nicht wahrgenommene, nur gedachte oder einzeln geäußerte Kritik ist viel bedrohlicher, weil auf sie nicht reagiert werden kann. Kunden können Fehler verzeihen, wenn das Unternehmen darauf adäquat reagiert. Wirklich unverzeihlich ist die Ignoranz, die vielen Kunden in kritischen Situationen entgegen schlägt.
  • Der „Kontrollverlust“, der mit der Kommunikation im Web 2.0 einher geht, ist in Wahrheit eine Kontrollverlagerung hin zu den Kunden, die selbst Meinungen artikulieren und das Verhalten des dienstleistenden Unternehmens in gewisser Weise sogar beeinflussen können. Die Chance liegt dabei in einer wirklichen Nähe, in einer Art Partnerschaft mit den Kunden, die mehr zur Loyalität und Markentreue beitragen kann, als viele millionenschwere Werbekampagnen.
  • Die Delegation von Kommunikationsaufgaben weg von der Cheftetage und dem Pressesprecher hin zu weiteren Mitarbeitern ist kein Verlust an Kontrolle, sondern ein Gerwinn an Möglichkeiten. Mitarbeiter sind so oder so wichtige Botschafter des Unternehmens, ob das jetzt von oben gewünscht ist oder nicht. Über die Integration in die Unternehmenskommunikation dürfte die Konsistenz der Botschaften zum Unternehmen deshalb langfristig eher noch steigen, weil sich auch die nicht offziellen Kommunikatoren integrieren lassen.
  • Die Furcht vor Image-Schäden ist sicherlich derzeit nicht unbegründet, aber ihre Ursache liegt nicht im Social Web, sondern in den Folgen der Finanzkrise. So manche falsche Beratung oder zwanghaft positive Werbeaussage ist inzwischen durch die Realität konterkarriert worden. Insofern besteht der Image-Schaden bereits und im direkten digitalen Dialog liegen evtl. sogar Chancen, verloren gegangenes Vertrauen wieder zurück zu gewinnen, indem Unternehmen nicht länger auf werbliches Eigenlob setzen, das ohnehin für immer weniger Menschen geglaubt wird.

Laut einer U.S.-Studie schenken ausgerechnet Marketing-Verantwortliche Marketing-Kampagnen am wenigsten Glauben. Diese Einschätzung von Leuten, die es wissen müssen, zeigt, dass Kunden mit der Zeit eine gewisse Resistenz gegen die Einweg-Kommunikation durch vertriebsorientierte Werbung und klassisches Marketing entwickelt haben. Glaubwürdigkeitsdefizite können durch aggressives Marketing nicht abgebaut werden – im Gegenteil. Sie könnten sich sogar noch verstärken. Gleichzeitig verlagert sich die Meinungsbildung  immer mehr ins Internet. In Großbritannien zeigte eine kürzlich veröffentlichte Studie, dass Web-Portale und Vergleichsseiten den Finanzberater am Schalter bei der Meinungsbildung vielfach bereits abgelöst haben. Die Zukunft wird deshalb nicht mehr der vertriebs- und marketing-dominierten Kommunikation gehören, sondern einem intelligenten Mix der Medien und auch der Kommunikationskulturen. Die Frage ist nicht, ob Finanzunternehmen im Social Web aktiv werden sollten, sondern wann der günstigste Zeitpunkt dafür ist, wie die individuelle Strategie dazu aussieht, welche innovativen Features dafür entwickelt eingesetzt werden könnten und wie der Übergang und die Integration in den Gesamtzusammenhang der Unternehmenskommunikation und -kultur gelingen kann.

Im zweiten Teil (hier anklicken) wird es um mögliche konkrete Schritte in die Finanzwelt 2.0 gehen. Im Blick Log gibt es außerdem noch eine laufend ergänzte Sonderseite „Trends im Banking 2.0„.


[1] Dies macht ein Interview mit Ben Tellings, Vorstandsvorsitzender der ING-DiBa AG des Magazins Telepolis am 11.3.10 deutlich. Ergänzend dazu auch eine Kommentierung durch den Blog Social Banking 2.0, der dazu Stellungnahme der Fidor Bank AG und Smava eingeholt hat.

[2] Siehe auch ausführlich ergänzend zu dieser Betrachtung Boris Janek, I don´t like mondays and ….., auf Finance 2.0 v. 8.3.10

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*Dirk Elsner, Bielefeld, war mehrere Jahre als Bereichsleiter einer Bank und Geschäftsführer einer mittelständischen Unternehmensgruppe beschäftigt. Heute berät er für die Innovecs GmbH Banken und mittelständische Unternehmen. Daneben betreibt er den Blick Log, einen Weblog über Wirtschaft, Finanzen, Management und mehr. Twitter: blicklog

** Florian Semle, Fachmann für 2.0-Kommunikation , ist Gründer der freelations kommunikationsberatung2.0 und Blogger auf www.freelations.de, Twitter: floriansemle

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