Mainstream-Ökonomie auf dem Stand der Newtonschen Gesetze?

by Dirk Elsner on 24. September 2010

image Nach meiner Urlaubslektüre war ich wieder einmal angetan davon, wie weit Physik, Biologie oder gar die fachbereichsübergreifende Chaosforschung mit ihren Erkenntnissen und Forschungsprogrammen sind, erst recht, wenn man dies mit der traditionellen Ökonomie vergleicht.

Nun will ich mir nicht anmaßen, ein fundiertes Urteil über den erkenntnistheoretischen Stand der Methoden und des Forschungsprogramm der verschiedenen ökonomischen Fachrichtungen abzugeben. Dazu bin ich mittlerweile viel zu weit weg vom dem wissenschaftlichen Betrieb und zu tief in der Praxis eingebunden. Ich kann nur das wahrnehmen, was  vermittelt durch die eine oder andere Fachzeitschrift, in Ökonomieartikeln in Tages-, Wochenzeitungen, Blogs und durch die Stellungnahmen von Fachleuten angeboten wird. Leider ist das nicht besonders viel, obwohl ich stets versuche, Beiträge über den aktuellen Stand der Ökonomie aufzusaugen, soweit die Erkenntnisse auch in der Praxis weiterhelfen.

Nein, ich relativiere die letzte Aussage. Natürlich gibt es unzählige ökonomische Beiträge, dies zeigen allein die Themenseiten des Blick Logs. Freilich entsteht gerade bei der Lektüre über die Erklärung ökonomischer Phänomene, wie insbesondere die Finanzkrise oder die Analyse “erfolgreicher” Volkswirtschaften oder Unternehmen, der Eindruck einer ausgeprägten Beliebigkeit ökonomischer Argumente und eine immer noch strenge Orientierung am neoklassischen Paradigma. Dabei vermitteln “Experten” den Eindruck ein Erklärungsmonopol auf volks- und betriebswirtschaftliche Themen zu besitzen und liegen doch oft meilenweit daneben mit ihren Erklärungen.

Besonders deutlich wird  dies, wenn man sich im Blick Log einmal die Textsammlungen über ökonomische Prognosen und Zustandsbeschreibungen am besten chronologisch beginnend anschaut (dazu auf dieser Seite mal die Überschriften von unten nach oben lesen und dann auf dieser Seite fortsetzen).

Wie gesagt, ich war angetan von meiner Urlaubslektüre, deren Schwerpunkt ich diesmal nach den Themen Komplexitäts- und Chaosforschung sowie Behavioral Economics ausgewählt hatte. Nach meinem Eindruck bewegt sich aber der Mainstream der Ökonomie, zumindest soweit ich sie wahrnehme, auf einem Stand, den die Physik mit den Newtonschen Gravitationsgesetzen erreicht hatte, dem vorherrschenden Paradigma im 19. Jahrhundert, das aber im letzten Jahrhundert abgelöst wurde durch Relativitätstheorie, Quantenmechanik und Chaostheorie.

Der Franzose Henri Poincaré entdeckte Ende des 19. Jahrhundert die Defizite der Newtonschen Physik, die nur unter bestimmten Bedingungen und unter bestimmten Annahmen gilt. Newtons reduktionistisches Modell konnte viele Phänomene in der Natur nicht erklären. So waren die Gleichungen etwa für drei Körper nicht mehr lösbar, soweit ich die Ausführungen verstanden habe.

Ohne jetzt auf die Details einzugehen, kommt mir der Vergleich der Newtonschen Physik mit der leider immer noch vorherrschenden neoklassischen Wirtschaftstheorie sehr passend vor. Newtons Gleichungen sind einfach und helfen tatsächlich in der Praxis bei vielen Berechnungen. Sie versagen aber stets dann, wenn die Komplexität steigt. Ähnlich ist es bei der vorherrschenden Wirtschaftstheorie. Unter eng gesetzten Annahmen leistet sie ebenfalls partielle Erklärungsbeiträge. Sie versagt aber bei der Erklärung vieler und vielleicht sogar der meisten Phänomene der Wirtschaftspraxis. Erst recht eignet sie sich nicht für die Erklärung solcher Ereignisse, wie die Finanzkrise.

Der noch herrschende Mainstream der Ökonomie, so mein Eindruck, kann mit vielen Begriffen der Physik, Biologie oder Komplexitätsforschungs nichts anfangen. Turbulenzen, Rückkopplungen, seltsame Attraktoren, Selbstähnlichkeit, natürliches Driften, Autopoise, unmögliche Vorhersehbarkeit und viele andere Begriffe, auf die ich bei der Lektüre nicht zum ersten Mal gestoßen bin. Sie beschreiben Sachverhalte, die durchaus auf ökonomische Sachverhalte zutreffen könnten. In der Mainstreamökonomie versucht man aber immer noch mit dem Sextanten die Position zu bestimmen.

Immerhin, die Behavioral Economics und die Experimentalforscher lösen sich vom neoklassischen Paradigma und versuchen neue Blickwinkel in die Ökonomie zu bringen. Malte Buhse schreibt im Handelsblatt über ein weiteres zartes Pflänzchen, nämlich von Ökonomen, die sich von Charles Darwin inspirieren lassen.  Und gern lasse ich mich davon überzeugen, dass es in der Ökonomie einen weitaus umfassenderen Aufbruch in neue Richtungen gibt.

Jedenfalls bestätigte meine Urlaubslektüre wieder einmal, warum Investmentbanken lieber Physiker, Biologen, Psychologen und Vertreter weiterer Fakultäten für ihr Risikomanagement und Analysen einstellen als Wirtschaftswissenschaftler.

Joss September 24, 2010 um 15:03 Uhr

Ich kann mit dieser Kritik an den Ökonomen sehr viel anfangen. Seit langem schon. Ganz subjektiv gesehen, wie ich für diese Zunft
verdorben wurde:
In den USA ist „economics“ seit langem als die „dismal science“ bekannt. Und abhängig von der intellektuellen Redlichkeit eines
Professors wird dies Studenten auch gesagt, mit entpsrechenden Beispielen belegt.
Mein Prof in Macro – economics gehörte glücklicherweise auch zu jener intellektuell redlichen Gattung. Zufall oder nicht, er war, ehe
er die akademische Laufbahn einschlug, Pilot bei der Airforce, ein Training, das ihn offensichtlich mit jeder Menge an Lebenstauglichkeit
in jeder Hinsicht versorgte. Er hatte keinerlei Probleme, dem Leben, und den Menschen, ganz einfach so zuzusehen, das alles rein zum
Vergnügen, mit Sinn für Humor, zu beachten. Zu den besseren Momenten des Studiums gehörte denn auch, nach dem Unterricht, es sich etwa
in einem Strassencafe gemütlich zu machen und das vorbeiflanierende Volk zu beachten. Das ergab jede Gesprächsstoff, man kam vom Hunderten
ins Tausende.

Es gibt dann noch einen weiteren Ansatzpunkt zur Kritik an der Ökonomie, und zwar im Hinblick auf die reale Wirtschaftsgeschichte.
Da kommt es m. E. dann voll zutage, dass die Ökonomen oft genug auf dem Mond leben.
Ein drastisches Beispiel ist beispielsweise die Kriegswirtschaft des Zweiten Weltkrieges und das, was manche Ökonomen aus jener
Zeit machen. Da werden dann Vergleiche mit den realen Gegebenheiten und z.B. Statistiken, die sich auf jene Zeit beziehen und
als DIE Erleuchtung dienen sollen, wirklich interessant. Unter anderem haben „diese“ Ökonomen nicht mal die leiseste Ahnung von
den vielen Zwangsmassnahmen und Zwangsverordnungen der Hitlerzeit.
Ein Wirtschafthistoriker, um das zu untermauern, den ich sehr interessant fand, ist Willi A. Boelcke, insbesondere dessen:
„Die Kosten von Hitler’s Krieg“ wie auch @Der Schwarzmarkt von 1945 – 1948″.
http://www.amazon.de/s/ref=nb_sb_noss?__mk_de_DE=%C5M%C5Z%D5%D1&url=search-alias%3Dstripbooks&field-keywords=Willi+A+Boelcke&x=18&y=19

Das ist natürlich meine subjektive ansicht, wie ohnehin klar gemacht.

dels September 24, 2010 um 07:43 Uhr

@enigma
Heute verstehe ich Ihren Kommentar nicht. Sind Sie der Auffassung, die VWL ist auf der Höhe der Zeit? Vielleicht habe ich aber auch die feine Ironie am frühen Morgen nicht verstanden.

enigma September 24, 2010 um 05:20 Uhr

Mal ganz sachlich: warum soll, nach dem verlinkten Artikel, die VWL sich damit beschäftigen, wie und warum Unternehmen entstehen, sich entwickeln und wieder vergehen? Man kann ja von Spin-Offs schwadronieren, das hat aber mit Nationalökonomie (um mal den alten Begriff wieder zu verwenden) nichts zu tun!

Und was Schumpeter angeht: natürlich hatte er ein Gleichgewicht im Kopf und zwar ein sehr prominentes: nämlich das langfristige zinslose Gleichgewicht! Erinnerungszitat: „Die langfristige Wirtschaft kennt keinen Produktivzins!“ Und die störende Energiequelle, der dynamische Unternehmer, muß sich im langfristigen Gleichgewicht auch dieser Nullzinssituation beugen, weil Schumpeter seine Profittheorie auf Quasirenten aufgebaut hatte, die definitionsgemäß temporär sind.

Und in einem solchen (schon deswegen) unsäglichen Artikel auch noch den Bio – Hype unterzubringen, ist der Gipfel an Unterwürfigkeit.

Die Maturana/Varela Richtung ist ja in Ordnung. Die erfordert Nachdenken. Darwin – Schwadroniererei ist nichts weiter als Volksverdummung! Malte Buhse halt.

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