Die große Risikoverwirrung Teil 10: Die Alchemie des Risikos

by Karl-Heinz Thielmann on 12. September 2013

Co-Autorin: Prof. Dr. Ekaterina Svetlova

Der „Economist“ hat in seiner letzten Ausgabe eine Analyse veröffentlicht, die sich eingehend mit den Gründen der Finanzkrise befasst. Als offensichtlichster Grund wird genannt: Diejenigen Finanzmarktakteure, die vorgaben, einen Weg gefunden zu haben, Risiken auszuschalten, sie aber tatsächlich nur aus den Augen verloren hatten. („the financers themselves … who claimed to have found a way banish risk when in fact they had simply lost track of it„)

Dies beschreibt sehr zutreffend „die große Risikoverwirrung“ an den Finanzmärkten, die Thema dieser Artikelserie war.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass Kapitalanleger im Umgang mit dem Risiko folgende grundsätzlichen Probleme haben:

• Zum einen gibt es sehr unterschiedliche Formen von Risiken, denen mit einer einheitlichen Methodik nicht beizukommen scheint. Die durch die Modern Portfolio Theory geprägte Sichtweise verengt den Blick auf Preisrisiken. Insbesondere mit Liquiditäts- und Inflationsrisiken hat sich die Wissenschaft bisher kaum beschäftigt und nur sehr wenig zu sagen. Aber gerade dies sind für Anleger sehr relevante Risiken.

• Des weiteren sind die Ergebnisse der herkömmlichen Verfahren bei der Einschätzung von Preisrisiken und ihrer Zusammenhänge sehr instabil. Dennoch bleiben diese scheinpräzisen Risikomessungen populär.

• Angesichts der Instabilität der beschriebenen Risikomaße bzw. der Abhängigkeit der Ergebnisse von Variationen in den Annahmen muss grundsätzlich die Frage gestellt werden, ob man sich bei der Kapitalanlage nicht generell in einer Situation radikaler Unsicherheit befindet. Dann wäre jeder Versuch einer Quantifizierung schon irreführend.

• Dennoch werden Quantifizierungsversuche der Unsicherheit permanent weiter betrieben. Darüber hinaus dient „Unsicherheit“ immer mehr als Rechtfertigung für Entscheidungsschwäche, Fehler etc., ist also Bestandteil des in diesem Blog immer wieder beschriebenen „Storytelling“ geworden.

Doch Unklarheiten bei der Begriffsbestimmung und der quantitativen Erfassung sind nicht die einzigen Gründe für Verwirrungen, wenn es um das Thema Risiko geht. Eine erhebliche Mitverantwortung für die Konfusion der Anleger tragen aber auch die praktischen Umstände und Zwänge, denen sich diejenigen ausgesetzt sehen, die täglich mit Risiko und Unsicherheit an den Kapitalmärkten zu tun haben.

Daher ähnelt der Umgang mit Risiko an den Finanzmärkten in vieler Hinsicht den Versuchen mittelalterlicher Alchemisten, eine Formel für die künstliche Herstellung von Gold zu finden.

Zum einen kämpfen die Risikomanager unserer Tage genau wie die Alchemisten des Mittelalters mit den unrealistischen Anforderungen ihrer Auftraggeber. Mittelalterliche Fürsten erwarteten von den Alchemisten, dass sie aus normalen Stoffen künstlich Gold herstellen konnten. Moderne Unternehmensleiter und Kapitalanleger erwarten von den Risikomanagern, dass sie Risiken klar bestimmen, einfach darstellen und kontrollieren können, ohne dabei Rentabilität oder Performance zu stark zu begrenzen.

Zum anderen fehlen den Risikomanagern heutzutage genauso wie den Alchemisten früher die richtigen wissenschaftlichen Methoden. An den Kapitalmärkten herrscht nach wie vor ein grundsätzliches Unverständnis über die Zusammenhänge zwischen Risiken, Unsicherheiten und möglichen Renditen, das dem Nichtwissen der Alchemisten über die elementaren Grundlagen der Welt sehr ähnlich ist. Im Umgang mit finanziellen Risiken wird nach wie vor sehr mechanistisch vorgegangen, obwohl spätestens nach der Finanzkrise jedem Experten klar geworden sein müsste, dass Kapitalmärkte komplexe adaptive Systeme sind, die sich permanent durch Anpassung verändern und zudem auch noch böse Überraschungen produzieren können. Nur eine Methodik, die auf dieser grundlegenden Erkenntnis aufbaut, kann das Umgehen mit der unsicheren Zukunft verbessern. Hiervon sind wir aber noch sehr weit entfernt. Nassim Taleb hat mit seinen Büchern „Der schwarze Schwan“ und „Anti-Fragilität“ wichtige Denkanstöße geliefert, die aber bisher von etablierten Risiko-Forschern kaum aufgenommen wurden. Stattdessen arbeiten weltweit Tausende von Mathematikern weiter unverdrossen an der Verbesserung von immer komplizierteren Modellen, die im Krisenfall aber dann wieder versagen werden, weil so banale Dinge wie die eingehenden Korrelationskoeffizienten sich kurzfristig ändern oder sie schlicht und einfach den Liquiditätsaspekt vernachlässigen.

Andererseits darf aber auch nicht übersehen werden, dass im Mittelalter das erfolglose Herum-Gemurkse der Alchemisten die Grundlagen für die moderne Chemie gelegt hat. Ihnen sind nebenbei einige wichtige Entdeckungen geglückt. Aus ihren methodischen Fehlern haben die ersten richtigen Chemiker viel gelernt. Nur eines ist ihnen nicht gelungen: Gold herzustellen. Insofern muss auch anerkannt werden, dass vor allem die Modern Portfolio Theory und ihre Weiterentwicklungen vieles geleistet haben, um die Visibilität einiger Teilaspekte des Risikos und damit auch das Risikomanagement zu verbessern. Sie ist allerdings nicht, wie viele ihrer Anhänger unbeirrt behaupten, eine universelle Theorie zum Umgang mit Kapitalanlage-Risiken. Begrenzt man die Modern Portfolio Theory allerdings auf die Betrachtung der Kursrisiken von liquiden Wertpapieren innerhalb relativ kurzer Zeiträume, sind manche Kennzahlen oder Aussagen durchaus noch brauchbar. Für alles, was darüber hinaus geht, wie langfristige Ausfallrisiken, Liquiditätsrisiken und vor allem auch Inflationsrisiken gibt es nach wie vor keinen wissenschaftlich validen Ansatz.

Das Eingeständnis der Unvollkommenheit des bisherigen Umgangs mit dem Risiko würde schon viel dazu beitragen, die bestehenden Risikoverwirrungen aufzulösen. Ein sich bewusst werden der Tatsache, dass man nicht in die Zukunft sehen kann und auch meistens nicht zukünftigen Entwicklungen Wahrscheinlichkeiten zuordnen kann, würde auch Anlegern sehr viel weiterhelfen. Gerade die Schwierigkeiten, finanzielle Schocks vorherzusagen, die für die Wertentwicklung eines Anlageportfolios aber zentrale Bedeutung haben können, sind eminent.

Anleger müssen daher damit leben, dass es zu unvorhersehbaren Ereignissen kommen kann. Wir haben drei Vorgehensweisen vorgestellt, mit denen man sich hierauf einstellen kann. Entweder, man geht den Weg von David F. Swensen mit seinem Multi-Asset-Ansatz und versucht, durch maximale Diversifikation die Angriffsfläche zu minimieren. Oder, man versucht wie Warren Buffett, mit analytischer Kompetenz Investments herauszufiltern, die operativ potenzielle Schocks möglichst gut überstehen. Eine dritte Variante ist Talebs Barbell-Strategie, die sehr sichere mit sehr spekulativen Anlagen vermischt, um so von Schocks sogar zu profitieren, ohne in „normalen“ Zeiten sein Kapital aufs Spiel zu setzen.

Eine alchemistische Formel, mit der sich die Risiken an Kapitalmärkten genau bestimmen und kontrollieren lassen, gibt es hingegen nicht und wird es nie geben; genau so wenig wie ein Rezept zur Herstellung von synthetischem Gold.

Die vorherige Folge mit dem Thema „Kapitalanlage in einer unsicheren Welt“ erschien am 10.9.2013 in blickog.com.

Die Reihe: „Die große Risikoverwirrung“ basiert auf einer Artiklelserie, die in „Mit ruhiger Hand“ zwischen Mai und Juli 2013 erschienen ist. Sie wurde für „blicklog“ noch einmal überarbeitet. Die Orginaltexte stehen in einer Sonderausgabe als Download zur Verfügung. Zu diesem Thema haben beide Autoren auch in der Reihe „Karlsdialoge“ ein Gespräch mit Patrick Breitenbach geführt, das als Podcast zum Download zur Verfügung steht.

Das einleitende Zitat stammt aus dem Artikel „Crash course“ aus dem Economist vom 7. September 2013

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