WM 2014 in Brasilien: Die Vorhersagemärkte sehen vor dem Halbfinale Argentinien und Deutschland im Endspiel (+ Update)

by Dirk Elsner on 8. Juli 2014

Ich glaube, ich muss nicht mehr aufpassen, dass dieser Blog zu einem WM-Blog verkommt, denn inklusive heute beschäftigt uns die Fußball Weltmeisterschaft noch 6 Tage (ok, wenn Deutschland den Titel holen sollte, dann wohl noch ein paar Tage mehr). Vier Spiele stehen noch bevor. Drei davon werden mit höchster Spannung verfolgt. Auch heute folgt wieder ein Update der Vorhersagetabelle auf Basis des Wettmarktes von Betfair. Bemerkenswert ist übrigens, dass aus Sicht der Vorhersagen die WM in der KO-Runde bisher ohne Überraschungen verlaufen ist. Im Achtel- und Viertelfinale haben sich in allen 12 Spielen jeweils die Favoriten durchgesetzt. Das halte ich schon für außergewöhnlich, denn selbst bei solchen Prognosemärkten ist stets mit Abweichungen von den Vorhersagen zu rechnen (siehe dazu den Hintergrund unten).

Schauen wir, bevor gleich die aktuellen Daten folgen, zunächst auf die erste Vorhersage vom 10. Juni an. Schon damals stellten Brasilien, Argentinien und Deutschland die Top 3. Sie sind immer noch in den Top 3, haben aber die Plätz getauscht. Auf Platz 4 stand damals Spanien, dessen Rolle nun die Niederlande eingenommen hat. Vor der WM standen die Holländer auf Platz 11, was eigentlich hätte heißen müssen, die Mannschaft scheidet im Achtelfinale aus. Bisher hat es mit Blick auf das Halbfinale also nur eine Überraschung gegeben. Ich hätte mindestens mit einer weiteren Überraschung unter den letzten vier Teams gerechnet.

Hier nun die “Erwartungstabelle” der verbleibenden vier Teams mit den Chancen auf den Titel. Abzulesen sind daraus auch die Veränderungen der Einschätzungen im Turnierverlauf.

Pl Beginn Team 10.06. 18.06. 23.06. 28.06. 02.07. 07.07. Delta
1 2 Argentinien  18,90% 18,47% 18,11% 18,39% 17,73% 27,58% 8,67%
2 3 Deutschland  12,56% 18,47% 18,11% 18,05% 16,84% 26,83% 14,27%
3 1 Brasilien  23,35% 19,57% 21,16% 23,58% 24,74% 25,80% 2,45%
4 11 Niederlande  2,31% 7,75% 7,45% 10,12% 15,41% 19,79% 17,49%
Stand 7.7.2014, 20:30 Uhr

Negativer Neymar-Effekt

Erstmals ist übrigens Brasilien nicht mehr der Top-Favorit, sondern wird von den “Märkten” nur noch als Sieger im Spiel um Platz 3 gesehen. Das dürfte viel damit zu tun haben, dass das brasilianische Team auf seinen Topstar Neymar da Silva Santos Júnior (kurz Neymar) verzichten muss. Diesen bitteren Effekt kann man im Chancen-Chart von Betfair ziemlich gut ablesen.  Nach dem Sieg gegen Kolumbien stieg zunächst die Erwartung auf die Titelchance. Das ist logisch, weil mit Kolumbien ein weiteres Hindernis genommen war. Kurz nach Spielende wurde die Schwere der Verletzung  von Neymars bekannt. Sofort reagierten die “Märkte” und senkten die Titelchancen von fast 35% auf etwa 26%.

image

Brasiliens Chancen auf den Titel

Argentinien und Deutschland rangieren nun also vor Brasilien. Dies hat natürlich auch Auswirkungen auf die Frage, wer ins Endspiel kommt.

Wer kommt ins Finale?

Schaut man auf die Quoten des erst zum dritten Mal bei einer WM überhaupt stattfindenden Spiels Brasilien gegen Deutschland, dann liegt Deutschland mit 51 % im Moment knapp vor Brasilien mit 49 %. Freilich läuft hier ein munterer Handel, in dem sich die Chancen weiter annähern oder auch umdrehen können.

Etwas klarer, die Vorhersagen für das Spiel Niederlande gegen Argentinien. Hier sehen die Märkte Argentinien mit einer Chance von 56,3% vorn.

Deutschlands Chancen auf den Titel waren 2010 nach dem Viertelfinale höher

Fein, dass ich dieses Blog schon länger betreibe. So konnte ich nachschauen, wie denn Deutschlands Chancen auf den WM-Titel nach dem 4:0 Sieg gegen Argentinien waren. Vor dem Halbfinale gegen Spanien sagten die “Märkte” bei Betfair sogar eine 30%-Chance für unsere Elf voraus.

Noch ein wenig Hintergrund zur Interpretation der Chancen

Ich hatte in dem Beitrag am letzten Freitag bereits den Hintergrund zu meinen Berechnungen und über die Qualität der Vorhersagen verschiedener Märkte geschrieben.  Eine andere Frage ist, wie man eigentlich eine solche in Chancen umgerechnete Quote interpretieren kann. Machen wir das einfach mal fest am Beispiel Deutschland gegen Brasilien und nehmen an die Chancen für das Weiterkommen liegen bei 51% für Deutschland und 49% für Brasilien. Dann kann man sich das als eine stochastische Simulation vorstellen, bei der unter exakt gleichen Bedingungen der Spielverlauf in einem Experiment simuliert wird. Eine Simulation ist deswegen erforderlich, weil es keine deterministische Formel gibt, um zu einer Vorhersage zu kommen.

Neben bestimmten Abhängigkeiten wie Klima, Spielstärken, Tagesform, Verletzungen spielt beim Sport auch der Zufall eine gewisse Rolle. Viele Teilnehmer an den Vorhersagemärkten (vulgo Wetten) haben daher mehr oder weniger komplexe Modelle entworfen, um zu einer Wahrscheinlichkeitsaussage für einen Spielausgang zu kommen (siehe dazu z.B. den Text unter Literatur “Ist Fußball ein Glücksspiel?”). Diese Modelle kann man in der Realität testen. Vereinfacht funktioniert das so: Wenn ich 100 verschiedene Spiele betrachte, bei denen der Ausgang für eine Mannschaft 51% und für die andere 49% beträgt, dann sollte bei hoher Qualität des Modells tatsächlich auch diese Verteilung der Ergebnisse in der Realität zu beobachten sein.

Oder es lässt sich auch anders betrachten. Deutschlands Chance auf den Titel beträgt nach der Tabelle oben 26%. Würde man die Endrunde des Turniers nun 100 mal simulieren, würde Deutschland 26 Mal Weltmeister werden. Das entspricht etwa einem Viertel. Und genau daraus speisen sich nun viele Hoffnungen. Da Deutschland zum vierten Mal hintereinander das Halbfinale einer WM erreicht, könnte man daraus rein statistisch folgern, nun sei Deutschland auch dran mit dem Titel. Aber nach der Statistik könnte Deutschland auch 6 Mal hintereinander das Halbfinale erreichen und nicht den Titel holen. Wird das Team danach 2 Mal hintereinander Weltmeister, wäre die Verteilung auch gewahrt.

Letztlich ist aber für Außenstehende nicht klar, welche Modelle für die Schätzung der Wahrscheinlichkeiten besonders gut sind. Die Wirkung der Modelle wiederum kann man aber bei den verschiedenen Wettanbietern oder noch bei Wettmärkten wie betdaq oder betfair beobachten. Man muss sich dazu weder registrieren noch selbst wetten, sondern kann aus den veröffentlichten Quoten die Chance ermitteln.  Wissenschaftler der Uni Innsbruck haben sogar in einem Working Paper (siehe unten) 22 Vorhersagemärkte für die Fußball WM analysiert. Tatsächlich liegen die Quoten vergleichsweise dicht beieinander, so dass viele vor der WM zu der Aussage kamen, Deutschland kommt nicht ins Finale. Nun sind fast vier Wochen seit dem Start der Weltmeisterschaft vergangen. Jedes Spiel, jeder Tag bringt neue Informationen, die natürlich auch Auswirkungen auf die Chancen haben (siehe das Beispiel Neymar oben). Und die Quoten sind auch nicht identisch. So quotierte etwa der hier von sportwetten.org betrachtete Anbieter bet-at-home die Titelchancen von Argentinien, Deutschland und Brasilien exakt gleich.

Wie auch immer, wir haben es hier mit geschätzten Wahrscheinlichkeiten zu tun. “Im Gegensatz zum Risiko existiert bei ungewissen Situationen keinerlei Methode, eine objektive und quantitative Eintrittswahrscheinlichkeit anzugeben, da ihr Auftreten einzigartig ist und es wenig Erfahrungswerte gibt.” Ich glaube mit diesem Satz aus dem Text von Boeckelmann und Mildner kann man hier gut zum Ende kommen.

Literatur zum Vertiefen

Ich bin bei der Recherche für diesen Beitrag übrigens über viele interessante Texte gestolpert, die ich hier zwar nicht verarbeitet habe, auf die ich jedoch gern hinweisen möchte.

Nachtrag vom 9.7.2014

Tja, das was sich gestern im Halbfinale in Belo Horizonte ereignete, hatte niemand ernsthaft vorhergesagt. Ein 7:1 für Deutschland (hier die Analyse von Spielverlagerung) ist nicht nur kein knappes Ergebnis, sondern ein historisch hohes. Vor allem war das Spiel aus Sicht der Vorhersagemärkte eine echte Überraschung. Das schreibt auch der amerikanische Vorhersagepapst Nate Silver in “The Most Shocking Result in World Cup History”. Statistisch gesehen war das Spiel nach Einschätzung von Silver ein Black-Swan-Event, weil ein solches Ergebnis außerhalb der bisherigen Ergebnisse einer Fußball WM lag, wenn zwei nahezu als gleich stark eingeschätzte Teams aufeinandertrafen.

Man kann es auch mit Gary Lineker ausdrücken:

Egghat wies mich heute übrigens in einem Telefonat darauf hin, dass als einer der wenigen Goal Impact einen hohen Abstand zu Gunsten Deutschlands geschätzt hat. Dazu müsste man sich aber jetzt noch in die Details dieses Verfahren einarbeiten.

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