Wikileaks Angriff auf Funktionselite und Spiel mit Realität, Wahrnehmung und Kommunikation

by Dirk Elsner on 6. Dezember 2010

Wikileaks: History Is The Only Guidebook Civilization Has (Daniel Schmitt at re:publica 2010)Aufmerksamkeit und die offizielle Empörungen sind groß zu den Veröffentlichungen von Wikileaks. In Deutschland sieht man mit Blick auf die Veröffentlichungsinhalte keine besondere Sensation, denn hier wurden nur bekannte Banalitäten an das US-Außenministerium getickert. Die Empörung der politischen und sicher auch bald der wirtschaftlichen Champions League rührt daher, dass hier eine Organisation der „Funktionselite“ ihr wichtigstes Machtinstrument entreisst: Informationen.

Hier geht es um deutlich mehr als nur um in einer gänzlich undiplomatischen Sprache veröffentlichte interne und wenig schmeichelhafte Einschätzungen von Botschaftsangestellten.

Der Hype um Wikileaks, die übrigens kein echtes Wiki ist, werfen ein spannendes Schlaglicht auf die Unterschiede zwischen Realität, Wahrnehmung und Kommunikation in unserer Gesellschaft, denn Wikileak wirft die Interpretations- und Deutungshoheit der “Funktionselite” über den Haufen (zum Hintergrund über die informellen Machtstrukturen der Politik hier in:  Informationsmanagement durch Maklermacht). Und das kann der durch die Finanzkrise ohnehin angeschlagene “Funktionselite” natürlich überhaupt nicht gefallen.

Eines der mächtigsten Instrumente der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen „Führungselite“ (grundlegender zur „Elite“ der Artikel: Über die Legitimation einer Machtelite) sind bekanntlich Informations- und Deutungsmonopole, die vor allem deswegen gefestigt sind, weil viele Sachverhalte einfach nicht bekannt sind und sich daher einer unabhängigen Beurteilung entziehen. Wenn uns etwa Politiker und Bankenvertreter mitteilen, diese oder jene Rettungsaktion sei erforderlich, weil es eine systemrelevante Bank sei oder zum EURO-Schuldner-Rettungsfonds es keine Alternative gäbe, dann haben wir kaum Möglichkeiten deren Informationsgrundlagen zu überprüfen. Und so wurde auch von fast jedermann geglaubt und im Zweifel nachgeplappert, dass die Hilfe für die Hypo Real Estate notwendig war, um das Bankensystem und damit die Wirtschaft zu schützen.

Wikileaks strengt sich nun an, dies grundlegend durch die Bereitstellung interner Informationen zu ändern. Ob dies gelingt, ist freilich auch ob der internen Probleme der Plattform nicht klar. Die Bedeutung dieses Aufrisses der Informationsoligopole lässt sich noch gar nicht wirklich absehen und wird weiter lebhaft diskutiert.

Zu einem wirklichen Knalleffekt könnten die Veröffentlichungen von Wikileaks führen, wenn offenbar dort ebenfalls bereits vorliegende Informationen aus der Wirtschaft, insbesondere aus dem Finanzsektor veröffentlicht werden (skeptisch dazu Egghat). Die ganz spannende Entwicklung dabei ist, dass Wikileaks die drei Welten zwischen Realität, Wahrnehmung und Kommunikation kräftig durcheinander wirbelt. Ich will kurz skizzieren, was ich damit meine. Die teilweise Anlehnung an Poppers Drei-Welten-Lehre ist dabei nicht zufällig.

Reale Welt

Es existiert eine ganz reale Welt, in der wir uns bewegen, in der wir handeln, in der bestimmte Dinge vollkommen unabhängig davon passieren, wie sie wahrgenommen und interpretiert werden. Dies sind all die physikalischen Abläufe sowie Handlungen von Menschen, die sich tatsächlich irgendwo ereignen und von denen nur ein geringer Teil beobachtet werden kann.

Wahrgenommene Welt

Darauf setzt eine wahrgenommene Welt auf. Wir beobachten die reale Welt und versuchen das was wir beobachten zu verstehen und zu erklären. Dafür verwenden wir im Idealfall wissenschaftlichen Theorien oder im Alltag Heuristiken, mit denen wir Zusammenhänge zwischen Ursachen und Wirkungen herstellen. Wir filtern diese Wahrnehmung durch unsere subjektive Brille mit unseren Interessen und persönlichen Zielen.

Kommunizierte Welt

Schließlich kommunizieren wir mit anderen Menschen über das, was wir wahrnehmen. Hier filtern wir erneut, weil wir nicht immer das kommunizieren können, was wir denken und erreichen wollen. Täten wir dies, würden wir wohl häufig bei unseren Kommunikationspartnern keine Akzeptanz erzielen oder sogar ungewollte Reaktionen verursachen. So schönen wir etwa negative Informationen, verpacken unsere Bedürfnisse in Nutzen für andere oder verschleiern die eigenen Vorteile. Die Wirtschaftspraxis liefert dazu täglich unzählige Beispiele. So kann etwa die offene und ehrliche Information, eine Bank leide an Liquiditätsproblemen, einen Bankrun auslösen und so das Haus erst recht in die Insolvenz treiben.

Einer der große Schwächen, insbesondere von Mediendarstellungen ist, dass trotz der doppelten Filter (eingeschränkte Wahrnehmung, interessengeleitete Kommunikation) die kommunizierte Welt beansprucht, wesentlich die reale Welt zu erklären. Aus vielerlei Gründen (mangelnde Zeit, mangelndes Wissen, kein Interesse etc) konsumieren wir mehr oder weniger unkritisch diese kommunizierte Darstellungen. Da aber, wie wir gesehen haben, ein doppelter Filter auf dieser Kommunikation liegt, sind wir hochgradig anfällig für “Manipulationen” oder “Fehlinformationen”, die manchmal sogar in unserem Interesse liegen können (siehe Beispiel Verhinderung eines Bankruns durch Zurückhaltung von Informationen).

Diese Gefahren von Manipulationen und Fehlinformationen werden umso bedeutsamer, je schwieriger es ist, sich selbst Informationen zu bestimmten Themen zu beschaffen, um Informationsasymmetrien abzubauen. Erhält man aber die für die eigene Urteilsbildung erforderlichen Daten nicht  bzw. ist die Beschaffung zu aufwendig, dann schließt sich die herrschende Meinung in der Deutung und Kommunikation den Informationsoligopolisten an.

Kommuniziert also etwa ein Unternehmen oder politische Entscheidungsträger Informationen zum eigenen finanziellen Zustand, dann können weder wir Medienkonsumenten, noch Medienprofis diese Informationen direkt verifizieren. Sie können lediglich auf Basis von Recherchen und Plausibiltätschecks prüfen, ob kommunizierte Inhalte ihnen hinreichend glaubhaft erscheinen.

Und genau diese kann die Funktionselite für die eigenen Interessen in Politik und Wirtschaft nutzen. Man lässt nur so viele an Informationen zu, dass Plausibiltätschecks möglich sind und kommunizierte Sachverhalten glaubhaft wirken. Richtig und vollständig müssen diese Informationen damit nicht sein.

Und genau hier setzt Wikileaks ebenso an, wie soziale Netzwerke und Blogs. Diese und andere Plattformen ermöglicht plötzlich die Glaubwürdigkeit von Informationen der Funktionselite und damit auch ihre Autorität und Zuverlässigkeit zu überprüfen. Damit erhalten all jene Probleme, die verbreitete Informationen zu stark zu ihren Gunsten gefiltert und kommuniziert haben bzw. wesentliche für eine Urteilsbildung relevante Informationen weggelassen haben.

Für die Funktionselite rächt sich nun ihr digitaler Analphabetismus. Seit Jahren unterschätzen sie das Web 2.0 (siehe dazu auch Lothar Lochmaier in „Stopbanque trifft Wikileaks„) als anarchistische Spielwiese. Trotz diverser Netzaktivitäten in den letzten Jahren schaffen es freilich jetzt erst die Wikileaks-Veröffentlichungen das ohnehin angekratze Vertrauen in die Spitzen von Politik und Wirtschaft durch erhebliche Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Und gerade in der Finanzwelt kann dies sogar zum Tod eines Unternehmens führen.

Vor diesem Hintergrund wird es interessant zu beobachten sein, wie sich Unternehmen und insbesondere Finanzhäuser positionieren. Gerade Banken wurden ja während der Finanzkrise wegen ihres ausgeprägten Schweigens kritisiert. Von einer US-Bank sitzt Wikileaks offenbar auf einem großen Dokumentenberg (gemunkelt wird über Bank of America und Goldman Sachs). Ich vermute, dass man sich bereits jetzt intensiv auf diesen Informationsgau vorbereiten wird.

Weitere Reaktionen

Spon: Attacken auf WikiLeaks – Mächtige spüren die Macht der Hacker-Ethik (3.12.10): Die Enthüllungsplattform WikiLeaks steht massiv unter Druck. Die Regierungen in den USA und Frankreich versuchen mit Macht, die Betreiber aus dem Web zu verbannen. Ein Ansinnen, das der Ideologie von WikiLeaks und seiner Unterstützer komplett widerspricht. Wer WikiLeaks verstehen will, muss die Hacker-Ethik kennen.

Freitag: Jakob Augstein Wir Untertanen (3.12.10): Wissen ist keine ­Gefahr für die Demokratie, staatliche Desinformation schon. Die Bürger wollen Akteneinsicht und das Internet kann sie gewähren.

Spon: WikiLeaks – Mächtige spüren die Macht der Hacker-Ethik (3.12.10): Die Enthüllungsplattform WikiLeaks steht massiv unter Druck. Die Regierungen in den USA und Frankreich versuchen mit Macht, die Betreiber aus dem Web zu verbannen. Ein Ansinnen, das der Ideologie von WikiLeaks und seiner Unterstützer komplett widerspricht. Wer WikiLeaks verstehen will, muss die Hacker-Ethik kennen.

Telepolis: Lothar Lochmaier – Stopbanque trifft Wikileaks (1.12.10): Bankenhierarchie im Fokus der Netzaktivisten. Wikileaks-Gründer Julian Assange hat bereits angekündigt, als nächstes ein brisantes Datenpaket aus einer amerikanischen Großbank zu veröffentlichen. Derartige Aktionen polarisieren. Neben Wikileaks ist dies auch bei zahlreichen weiteren Kampagnen wie „Stopbanque“ der Fall, eine Aktion, die am 7. Dezember über die Bühne gehen soll.

Joss Dezember 6, 2010 um 12:29 Uhr

Ein Buch, dass m. E. nichts von seiner Aktualität seit der ersten Auflage 1970 verloren hat, ist
Hannah AHrendt’s ‚Macht und Gewalt‘.
Eine der Kernthesen des Buches lautet:
„Wo Gewalt der Gewalt gegenübersteht, hat sich noch immer die Staatsgewalt als Sieger erwiesen. Aber diese an sich absolute Überlegenheit währt nur solange, als die Machtstruktur des Staates intakt ist, das heißt solange Befehle befolgt werden und Polizei und Armee bereit sind, von ihren Waffen Gebrauch zu machen.“ (S. 49)
Unter Macht versteht sie …

„Was den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes, die wiederum nur die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses ist, welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat.“
Und weiter:
„Macht gehört in der Tat zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, […] Gewalt jedoch nicht.“ Gewalt sei instrumental und diene immer einem Zweck. Macht (wie auch Friede) bezeichnet sie hingegen als etwas „Absolutes,“ als „Selbstzweck.“ Die Machtstrukturen gehen danach Zielen voraus und überdauern sie. Wenn der Staat – wie Arendt ihn definiert – organisierte und institutionalisierte Macht ist, hat die Frage nach seinem „Endzweck“ keinen Sinn. Macht bedarf nach Arendt der Legitimität, Gewalt indessen kann nie legitim sein. Gewalt kann zwar Macht „vernichten,“ jedoch keine Macht „erzeugen.“

Ahrendt’s Buch liest sich vierzig Jahre danach, im Hinblick auf u.a. die schlichte Auflösung des kommunisitischen Machtblocks
recht interessant. Ein Machtblock, der durchweg auf staatlicher Gewalt basierte, von vielen deswegen damals als ewig bestehend
angesehen wurde (ein Besuch in einem Zeitungsarchiv wird danach recht interessant, was gab es da doch an Meinungen, unwahrscheinlich
gescheiten Leuten, die aus ihren Redaktionen – Feldherrnhügeln aus eigenen Gnaden – findet, wie diese damalige Wirklichkeit
interpretiert, gedeutet und sonst was wurde.
Nur um dann erleben zu müssen wie sich alles ohne einen Schuss ganz einfach in Nichts auflöst.

Interssant sind Ahrendt’s Aussagen wie etwa:
Gewalt kann zwar Macht „vernichten,“ jedoch keine Macht „erzeugen.“ … u.a., als Beispiel von vielen, im Hinblick auf
islamistische Terrorgruppen (vor Ort), die etwa mittels Autobombem indiskriminiert jede Menschen umbringe, damit eher legitimere
Politik stören, vernichten wollen. Eine Machtbasis, d.h. Akzeptanz, wird damit freilich nicht geschaffen.

Punkto ‚Macht‘ ist Ahrendt m. E. nicht sehr differenziert, das kann man ihr in dem Fall nachsehen.
Weil um ‚Macht@ geht es nun in diesem Fall. Das heisst, um freiwillige Akzeptanz, beruhend auf rationalen Gründen. Und da
wiederum melden sich die „Gefährdeten“ gleich selber sehr lautstark. – Vielleicht mit dem Erfolg dass sie damit die eigene
Machtbasis selber ad absurdum führen helfen. Dass Werbung beispielsweise kontraproduktiv sein kann, insbesondere auch
politische Propaganda, ist allgemein bekannt. Das gab es im Verlauf der Geschichte immer wieder, hier der Willen von
Machthabern einerseits und der Verlauf der Ereignisse andererseits. Da gibt es etwa ein paar französische Minister, die recht
laufstark reagierten. Wer französische Verhältnisse auch nur ein wenig kennt, weiss, dass solche Aktionen zu ordentlichen
Eigentoren werden können, gleich auch noch die Medienkrise in Frankreich weiter beschleunigen. U.a. haben die Franzosen ein
ziemlich langes Gedächtnis haben auf das was die politique mysterieuze nennen kann, einschliesslich des eher langen Sündenregisters
der Aussenpolitik in Afrika.

In der gegenwärtigen WikiLeaks Sache sind die Machtverhältnisse sehr viel sensibler als sie etwa im Fall von Totalstaaten waren.
Da geht es letztendlich vielfach nur um die allgemeine Akzeptanz, die Reputation. Was sich über Nacht in Luft auflösen dürfte
sind u.a. die Erfolge amerikanischer Scheinheiligkeit, eine Krise der Pharisäer. Irgendwie zeichneten sich die Amerikaner ja durch
eine mehr oder mehr minder drastische Scheinheiligkeit aus. Und sie haben das auch durch das martialische Gehaben schon teilweise
selber ad absurdum geführt (der blosse Ruf nach Gewalt reichte aus) und schon ist das alles perdu. Blosses Desinteresse ganz
allgemein reicht aus im Hinblick auf Propaganda, Werbung, und dergleichen, sowohl bei Banken wie in der Politik, um als
Werbefaktor am Ende wie nackte Kaiser dazustehen, allein auf weiter Flur.

Hannah Ahrendts Buch ist, das sei angemerkt, bei manchen „Intellektuellen“ gar nicht gerne gesehen. Man stösst dabei auf
Intellektuelle für die Besitz des Intellekts als solches ein Problem darstellt, ein Zustand mit dem weitere Probleme intellektuell
geschaffen werden und logischerweise in Problemen endet. Das kann man auf die leichte Schulter nehmen, einfach übergehen.

Hier der Wikepedia – Eintrag zu Macht und Gewalt:
http://de.wikipedia.org/wiki/Macht_und_Gewalt

Comments on this entry are closed.

{ 2 trackbacks }

Previous post:

Next post: