Social Forecasting (Teil 2): Wenn der Lagerarbeiter den Absatz besser prognostiziert als der Verkaufsprofi

by Dirk Elsner on 9. März 2012

Social Forecasting basiert auf der Idee der kollektiven Intelligenz (auch Schwarmintelligenz genannt) und dem Prinzip des umfassenden Konzepts des Crowdsourcings (siehe Abbildung). Das bedeutet, es werden die Ressourcen, insbesondere das Wissen vieler Personen eingesammelt. Dazu werden bei Social Forecasting gezielt Fragen auf die Entwicklung zukünftige Ereignisse gestellt. Bei der Anwendung in Unternehmen kommen die Informationen hauptsächlich von Mitarbeitern. Ein weiterer wichtiger Bestandteil von Social Forecasting ist das Setzen entsprechender Anreize, damit die Teilnehmer möglichst wahrheitsgetreue und genaue Prognosen versuchen.

Crowdsourcing Landscape

Die Landkarte des Crowdsourcing (Foto Paolo Massa)

Social Forecasting stellt Expertentum in Frage

Über die Vorhersagefähigkeiten von Experten habe ich hier schon häufiger geschrieben (zuletzt in einem Beitrag über Wirtschaftskrisen). Fachleute können gut Fakten analysieren und strukturieren, ihre Fähigkeit aber gute Prognosen abzugeben sind freilich begrenzt (siehe z.B. Why Most Predictions Are So Bad)[1].

Prognosen[2] werden, so das bisher übliche Verständnis, auf Basis bestimmter Modelle von Fachleuten oder eine Gruppe von Fachleuten abgeben. Die Wissenschaft weiß schon länger, dass Prognosen durch eine größere Masse, darunter auch Nichtfachleute, zu besseren Ergebnissen führen (siehe dazu auch Literaturhinweise am Ende dieses Beitrags, insbesondere die Bücher von Ericsson et al.). Mittlerweile sickert dies immer weiter in die Wirtschaftspraxis ein.

Eine Erklärung, warum “Experten” schlechtere Prognosen abgeben, ist u.a., dass ihre Aussagen untereinander korreliert sind, erklärte mir der Geschäftsführer und Gründer von Crowdworx, AleksandarIvanov, in einem Telefongespräch. Das bedeutet, sie schauen auf eine gewisse Konformität ihrer Annahmen und Schätzungen und beziehen oft nur Aspekte ein, die von anderen Fachleuten akzeptiert werden. Neue Sichtweisen oder gar kreative Gedanken setzen sich so nur sehr zäh durch[3].

Ivanov erläutert dies am Beispiel eines Projekts für Tschibo. Die Lagerarbeiter prognostizierten die Absatzmengen dort besser als die Salesprofis in den Büroetagen. Fälschlicherweise werden die Blue-Collar-Worker eher als Laien betrachtet. Bei entsprechend richtiger Konstruktion eines unternehmensinternen Social Forecastings kann man aber auch ihre Expertise heben. In diesem Fall war es so, dass sie über den Lagerdurchlauf ein sehr gutes Bild darüber hatten, welche Produkte nachgefragt wurden.

Beim Social Forecasting, erklärt Ivanov, steigt die Qualität der Vorhersagen wenn vermeintliche Informationsoutsider in den Vorhersageprozesse eingebracht werden. Gerade sie tragen neue Aspekte in die Vorhersagen, die Fachleute in ihrem Kastendenken nicht berücksichtigen. Diese These wird auch bestätigt durch die meine im ersten Teil erwähnte Twitterumfrage. Auch hier lag die Crowd der Twitterer, darunter auch Fachleute, besser als die Schätzungen der Nur-Experten.

Social Forecasting wird in der Praxis für alle möglichen denkbaren Vorhersagen eingesetzt. Der in Deutschland führende Anbieter Crowdworx hat auf einer Seite fünf Fallbeispiele veröffentlicht, in denen namhafte Unternehmen die Intelligenz ihrer Mitarbeiter heben für Absatzprognosen, Preisentwicklungen oder Chancen neuer Produkte.

In den veröffentlichten Fällen wurde die Qualität der Prognosen erheblich erhöht und die Kosten für die Prognose bzw. die Marktforschung gesenkt[4]. Das Potential zur Kostensenkung liegt auf der Hand. Je genauer etwa der Absatz prognostiziert wird, desto besser kann eingekauft werden und je weniger Abschreibungen gibt es auf zu viel bestellte Ware. Auch zu geringe Bestellmengen können ein Problem werden, weil dann sogenannte Stockouts entstehen und Kunden auf die Produkte der Konkurrenz zurückgreifen, wenn sie nicht warten wollen oder können.

Die Ursache für die hohe Treffergenauigkeit des Social Forecasting beschrieb Ralf Grötker in brand eins vor einigen Jahren indem Beitrag Schlaue Menge:

“Gut 30 Jahre beschäftigt das Phänomen die Psychologen, doch die Forscher tappen völlig im Dunkeln, was die Ursache dieses ungewöhnlichen Erfolges ist. Von synergetischen Effekten ist die Rede, von einem kreativen Überschuss, der das Ganze über die Summe seiner Teile erhebt. Sehr viel unromantischer ist die Erkenntnis, die sich schließlich durchsetzt: Ein schlichtes mathematisches Gesetz ist der Grund für den überraschenden Ausgang der Versuche. Nennen wir es das Prinzip des Mittelmaßes. Lass eine Gruppe von Menschen irgendeine Menge, ein Gewicht oder eine Zahl schätzen. Berechne das Mittelmaß, genauer: den Durchschnitt der Tipps und Schätzungen. Immer wird er mindestens so nahe am Ziel liegen, meist sogar näher als der durchschnittliche Einzelne – selbst, wenn die Gruppe aus nur zwei Teilnehmern besteht.

Und das ist nicht alles. Liegt nämlich der wahre Wert zwischen den Schätzwerten, dann ist die Zielgenauigkeit des Mittelmaßes sogar immer besser als jene des durchschnittlichen Einzelnen. Es ist demnach also wahrscheinlich, dass der Durchschnitts-Schätzwert näher an der Wahrheit liegt als der Tipp eines beliebigen Einzelnen und auch besser als die Schätzungen der meisten Wett-Teilnehmer.”

Im nächsten Teil dieser Reihe schaue ich auf einige Aspekte der Umsetzung in Unternehmen.

Lesehinweise

Ich habe bei der erneuten Recherche zu dem Thema und einem ausführlichen Gespräch mit Aleksandar Ivanov gemerkt, dass sich vermutlich 10 Beiträge allein zu den verschiedenen Aspekten des Social Forecasting füllen lassen. Weil ich den vollen Umfang nicht abdecken kann, gibt es hier weitere Literaturhinweise zur Vertiefung.

Brandeins: Schlaue Menge (8/2005): Wer hätte das gedacht: Der Durchschnitt ist cleverer als viele Experten. Aus mathematischen Gründen.

Ericsson et al. 1991,Toward a General Theory of Expertise: Prospects and Limits, Cambridge, 1991

Ericsson et al. 2006, The Cambridge Handbook of Expertise and Expert Performance, Cambridge, 2006

Lydia Pintscher: Schwarmintelligzenz (ohne Jahresangabe): Dieses Paper soll die Grundgedanken der Schwarmintelligenz erläutern und wie sie genutzt werden kann um Probleme in einer immer komplexer werdenden Welt zu lösen. Dabei wird sowohl auf Beispiele aus der Natur als auch deren Anwendung in der Informatik eingegangen.

Handelsblatt: Prognosebörse Der Mechanismus ist richtig “ (08.11.10): Seit einem Jahr gibt es auf der Handelsblatt-Prognosebörse die Möglichkeit, Prognosen über die Entwicklung wichtiger Konjunkturdaten über virtuelle Aktien zu handeln. Im Interview erklärt Holger Fahrinkrug, Chefvolkswirt der Westdeutschen Landesbank warum er mitspielt, welche Parallelen es zur Wirklichkeit gibt und worauf es ankommt.

BL: Je renommierter der Fachmann, desto schlechter die Prognose oder im Prophetengeschäft gibt es keine Qualitätskontrolle (27.5.11): Zwei interessante Artikel habe ich jüngst über Philip Tetlock gelesen. Der amerikanische Politologe hat sich intensive über die Qualität und Treffsicherheit von Fachleuten geforscht. Tetlock fand heraus, so schrieb John Kayin der Printausgabe für des Handelsblatts:

James Surowiecki Die Weisheit der Vielen: Warum Gruppen klüger sind als Einzelne (Amzon Link)

Philip E. Tetlock: Wie zuverlässig sind Ihre Lieblingsexperten? (10.5.06):

WSJ: Evaluating Political Pundits (6.1.06)

 

Ein Füllhorn an zusätzlicher und vertiefender Literatur stellt Crowdworx zur Verfügung. Selten habe ich von einem Unternehmen ein so umfassende Literaturzusammenstellung gesehen. Im Download-Center findet man:

  • Fallstudien mit Klientenbeispielen aus der Arbeit in verschiedenen Branchen mit Ausgangssituation vorher und Impact durch CrowdWorx nachher.
  • White Papers mit Hintergrundwissen, Anwendungsbereiche und Best Practices bei der Einführung von Web2.0 in Unternehmen.
  • CrowdWorx Library mit einer breiten Auswahl an wissenschaftlicher Literatur zu den Themen Kollektive Intelligenz, Crowdsourcing und Prognosebörsen.


[1] Man müsste jetzt hier eigentlich noch differenzieren. Die mangelnde Vorhersagefähigkeiten von Fachleuten bezieht sich auf nicht deterministische bzw. nicht lineare Zusammenhänge. Das wird z.B. vertieft in ErwecktdasEchtzeitwebdenLaplaceschenDämon.

[2] Eine Vorhersage oder Prognose ist lt. GablersWirtschaftslexikon eine Aussage über zukünftige Ereignisse, besonders zukünftige Werte ökonomischer Variablen, beruhend auf Beobachtungen aus der Vergangenheit und auf theoretisch fundierten objektiven Verfahren. Prognose richtet sich v.a. auf Variablen, die nicht oder kaum durch denjenigen gestaltbar sind, der die Prognose vornimmt.

[3] Daneben könnte man auch Phänomene angeben, die die Behavioral Economics untersuchen, wie den OverconfidenceEffekt oder die Kontrollillusion.

[4] Basis für diese Aussage sind stets mit Vorsicht zu genießende Angaben kommerzieller Unternehmen. Ich habe freilich keine Forschungsarbeit gefunden, die zu dem Ergebnis kommt, Expertenvorhersagen sind besser als die des Social Forecasting.

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