Ist Fairness nur für Muppets (Teil 4)? Auf dem Weg zu extraktiven Eliten?

by Dirk Elsner on 22. April 2013

Eigentlich hoffen viele Menschen, schreibe ich hier in Anlehnung an Peter Ulrichs Buch “Integrative Wirtschaftsethik” (S. 27), dass die wechselseitigen moralischen Erwartungen tief in der Conditio humana verankert sind und dass wir aus der moral community unserer Lebenswelt niemals total “aussteigen” können. Nassim Taleb bezeichnet es allerdings als eine naive Form der Utopie und von Blindheit gegenüber der Geschichte, wenn wir auf die vernunftgeleitete Eliminierung von Habgier und anderer menschlicher Schwächen setzen, die die Gesellschaft fragilisieren[1]. Er dürfte damit Recht haben.

Tatsächlich verhält sich nämlich eine scheinbar immer größer werdende Gruppe unser Gesellschaft parasitär durch selbstsüchtige Neigungen als moralische Free Rider («Trittbrettfahrer»). Dieser Typus profitiert aber nur, wenn eine möglichst große Gruppe moralisches Bewusstsein und Verpflichtungsgefühl ernst nimmt und sich entsprechend sozial und konformistisch verhält[2].

Im zweiten Teil dieser Reihe habe ich mich mit dem Mythos der neoklassischen Theorie befasst, der trotz aller Kritik das ökonomische Weltbild und die öffentliche Debatte weiterhin stark prägt. In dieser Theorie tauchen Gerechtigkeit und Fairness gar nicht erst auf. Die neoklassische Theorie ist gegenüber Macht nahezu blind, wie der Ökonom Manfred Tietzel bereits 1985 feststellte[3]. Im dritten Teil ging es darum, wie Macht Ungleichheit verstärken kann. Secret Donors

Secret Donors (Foto: flickr/Truthout.org)

Der Mythos der Neoklassik besagt u.a., dass die “optimale Allokation” jeweils die Unternehmen, Personen und Länder an die Spitze spült, die am besten wirtschaften, für die jeweilige Position am besten geeignet oder am wettbewerbsfähigsten sind. Die Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise aber auch unzählbare weitere Ereignisse bestätigen dauernd, dass Teile der an der “Spitze” stehende “Elite” es geschickt versteht, ihre eigenen Interessen durchzusetzen.

Inklusive und “extraktive Eliten und deren Institutionen

Der Ökonom am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Johannes Erber hat auf Ökonomenstimme auf das Buch “Warum Nationen scheitern von Daron Acemoglu und James A. Robinson verwiesen. “Ihre zentrale Kernthese lautet,” so Erber, “dass das Kernproblem in der Herrschaft von Eliten und deren Institutionen liegt, die entweder extraktiv das Land und die Bevölkerung zu ihrem eigenen Vorteil ausbeuten oder inklusiv durch eine partizipatorische Beteiligung aller Bürger dem Gemeinwohl verpflichtet sind und damit letztendlich auch Wirtschaftswachstum und Wohlstandsmehrung ankurbeln.

Acemoglu und Robinson verwenden dabei die Begriffe von den “inklusiven” und “extraktiven” Institutionen, die durch Eliten gesteuert werden. Das sind Bezeichnungen, die in dieser Zusammensetzung für mich neu sind. Aber sie beschreiben treffend die auch in dieser Reihe herausgestellten Verhalten. Extraktiv (im Sinne von: ausbeuterisch)erklärt Gerald Braunberger im letzten Jahr in einer Buchbesprechung[4] “beschreibt alle politischen – meist oligarchischen – Herrschaftsformen, in denen sich eine kleine Zahl von Menschen über die Ausübung von politischer und wirtschaftlicher Macht zulasten der Masse der Menschen bereichern[5].

Als „Inklusive” bezeichnet Braunberger “die Demokratie als einzige Herrschaftsform und als Voraussetzung für wirtschaftlichen Wohlstand.” Ich halte das Merkmal der Demokratie zwar für notwendig, jedoch nicht allein für ausreichend, denn es kommen noch weitere Faktoren hinzu, die Braunberger ebenfalls skizziert wie einer “sich als Bürgergesellschaft verstehenden Demokratie, die nicht de facto durch stabile Eliten beherrscht wird”, weil sie den politische Rahmen für eine große Zahl von Menschen zur Entfaltung wirtschaftlicher Initiative ermöglicht.

Die aktuelle Tendenz in der westlichen Welt, so verstehe ich Erber, zeichnet aber trotz Demokratie eher eine Hinwendung zu extraktiven Eliten und Institutionen aus. Er untermauert das mit aktuellen Beispielen:

“Steuerflucht ist zu einer endemischen Geisteshaltung, insbesondere großer internationaler Unternehmen und reicher Vermögens- und Einkommensbezieher, geworden. Bisherige Versuche dies nachhaltig einzudämmen, können auf wenig Erfolg zur Einsicht bei den Adressaten rechnen. Managergehälter und Boni von Investmentbankern in Europa und den USA sind weiterhin nicht unter Kontrolle. Die soziale Symmetrie gerät immer mehr aus dem Gleichgewicht. Die jüngsten Studien zurVermögensverteilung innerhalb Europas von derEZB und der Deutschen Bundesbank haben hier weiteres aktuelles Material zur Verfügung gestellt …. Offenbar führen die derzeitigen institutionellen Rahmenbedingungen nicht mehr ausreichend zu einer Gesellschaft in der die Grundsätze einer Meritokratie[ 1 ] Gültigkeit beanspruchen können.”[6]

Ausflucht Steuerflucht

Bereits in einem Beitrag zu Offshore-Leaks habe ich deutlich gemacht, dass diese großformatige Aufdeckung mutmaßlicher Steuerflucht zeigt, wie breite Gesellschaftskreise zu Muppets degradiert werden. Ich schrieb darin u.a.: “Ärgerlich ist, dass erneut eine immer größer werdende Gruppe wie im Gefangenendilemma sich zu Lasten der übrigen (auch wohlhabenden) Gesellschaftsmitglieder unkooperativ verhält. Jeder solcher bekannt gewordenen Fall erhöht letztlich die Erosion unserer Gesellschaftsordnung. Jeder Steuerflüchtling sorgt auch dafür, dass der Risikoanteil der Steuerehrlichen für die Haftungsrisiken der Europäischen Union noch größer wird. Wenn nun noch bekannt werden würde, dass die Steuersünder auch noch von den Rettungsgeldern profitieren (was ich nicht ausschließe), dann wird spätestens auch der deutsche Muppet sich nicht mehr zurückhalten. … Ein Teil der wohlhabende technokratische Elite hat bisher geglaubt, clever genug zu sein, um persönlicher Vorteile in einer Weise zu verschleiern, dass niemand bemerkt, wie sie Wähler, Kunden und Bewunderer zu Muppets machen. Diese Illusion hätte aber eigentlich schon mit den Steuerdaten-CD und vielen anderen Enthüllungen geplatzt sein müssen. Der eigentliche Skandal liegt nicht nur darin, dass hier Teile der Gesellschaft Steuerbelastungen umgehen, sondern vor allem auch darin, dass sie vor den gewachsenen Haftungsrisiken für Europa fliehen.”

Bemerkenswert übrigens ein Beitrag im Handelsblatt von Wolfram Weimer, der versucht dieses Verhalten von Teilen der Elite zu rechtfertigen erklären. Er meint, die “Debatte um Steueroasen” funktioniere wie mediale Lynchjustiz und kommt dann mit einer typischen neoliberalen Schablone: “Keiner fragt mehr danach, ob das nicht vielleicht ganz legal ist, was Sparer da tun? Ob nicht unser Steuersystem so miserabel kompliziert und ungerecht ist, dass man es lieber verbessert, anstatt immer nur die Steuerzahler zu malträtieren. Ob nicht die eigentliche Gier unserer Zeit bei Staaten liegt, die mit keinem Geld der Welt auskommen, die Billionen Schulden auftürmen, als gäbe es kein Morgen, und die am Ende immer neue Steuern und Steuerjagden brauchen, um ihr eigenes Versagen zu kaschieren.” Nach Weimar trage die Staatsbürokratie durch die “Gier nach Transparenz” zumindest eine Mitverantwortung: “Was vermeintlich demokratisch daherkommt ruiniert in Wahrheit einen Grundwert der Demokratie: die Integrität des Privaten. In der schönen, neuen Welt der Transparenz verschlingt das Öffentliche geradezu das Private. Der Überwachungsstaat wühlt sich mit Lauschangriffen, Onlineüberwachungen, Bankkontenchecks und Millionen von Videokameras in das Privatleben der Menschen. Der Fiskus holt sich – neben dem Geld – auch Detaileinblicke unserer Lebensumstände. Der Sozialstaat macht aus souveränen Bürgern lauter gläserne Systemlinge des Gesellschaftlichen.”

Was Weimar freilich übersieht sind die Ursachen für die 2Gier des Staates2 nach Transparenz. Die liegen nämlich darin, dass stets ein kleiner Teil der Gesellschaft versucht, sich zu Lasten der großen Mehrheit Vorteile zu verschaffen. Wir sind hier wieder beim einführenden Beispiel der Stauschummler. Wenn es im regellosen Urzustand zu wie auch immer definiertem unfairem Verhalten kommt, dann werden Regeln aufgeschrieben und Verstöße sanktioniert. Weil trotz Regeln dann immer wieder neue Verstoßvarianten mit unterschiedlichsten Rechtfertigungen auftauchen, werde diese Regeln immer weiter verfeinert. Wir bräuchten weder Regeln noch Überwachung, wenn es

  1. einen Konsens darüber gäbe, was faires Verhalten ist und
  2. sich alle daran halten würden.

Die Antwort ist Ja

Die Überschrift habe ich noch mit einem Fragezeichen versehen: Auf dem Weg zu extraktiven Eliten? Das ? nehme ich nun weg. Unsere Gesellschaft ist auf dem Weg hin zu einer “extraktiven Elite”. Vielleicht haben sogar die Enthüllungen um Offshore-Leaks mehr dazu beigetragen, als etwa die Aufregungen über das vermeintliche “Diktat der Finanzmärkte”[7]. Es ist einfach die schiere Masse an Daten, wie Bastian Obermayer auf SZ Online feststellte, die hier für großen Druck sorgt. Er schreibt u.a.[8]:

“Erstmals war es möglich, den blickdichten Vorhang der Anonymität wegzureißen, hinter der sich die Welt der Steueroasen verbirgt, und so die Mechanismen der Offshore-Industrie im Detail freizulegen. Und ein enttarntes System kann nicht wieder verschwinden. Man kann es jetzt studieren und verstehen und weiß vielleicht besser, wo sich die Hebel ansetzen lassen.

Was der Vorhang nun nicht länger verdecken konnte, war nicht nur die helfende Hand der Banken oder die Rundumbetreuung von spezialisierten Anwälten. Sondern vor allem eine Abgeklärtheit und Routine aufseiten aller Beteiligter, die auf jahrzehntelanger Duldung dieser Geschäfte gründet.”

Wie die Leser feststellen, habe ich Gefallen an dem Thema gefunden, zumal es mir gestattet, bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen und aktuelle Ereignisse ein wenig zu ordnen. Der 5. Teil dieser Reihe wird da nahtlos anknüpfen.


[1] Nassim Nicholas Taleb, Antifragilität, Position 3889. Taleb hält übrigens wenig vom Moralisieren. Das sei das letzte, was wir brauchen, weil er das für gefährlich hält. Intelligenter (und praktikabler) findet er es, “die Verhältnisse so zu gestalten, dass ihnen Habgier nichts anhaben kann, oder vielleicht sogar die Gesellschaft so umzuformen, dass sie von Habgier und anderen menschlichen Unvollkommenheiten profitieren kann.

[2] Aktuelle Beispiele dafür liefern die unter Offshore-Leaks aufgedeckte “Steuerflucht” einer gut verdienenden “Elite” oder Frankreichs ehemaliger Haushaltsminiter, der Mitte März zurücktreten musste. Er hatte eingeräumt, die Öffentlichkeit und die Regierung monatelang über die Existenz eines Auslandskontos mit 600.000 Euro in der Schweiz belogen zu haben.

[3] Vgl. M. Tietzel, Wirtschaftstheorie und Unwissen: Überlegungen zur Wirtschaftstheorie jenseits von Risiko und Unsicherheit, Tübingen (1985), S. 160. Hans Albert versucht übrigens in dem Aufsatz “Macht, Gesetz und Erklärung im ökonomischen Denken”, dem das Zitat von Tietzel entnommen ist, Wege zu zeigen, wie das “Phänomen” der Macht in Einklang mit der ökonomischen Theorie gebracht werden könnte. Erschienen in: Christian Müller, Frank Trosky und Marion Weber (Hg.) Ökonomik als allgemeine Theorie menschlichen Verhaltens, in: Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft, Band 94, Stuttgart 2012, S. 60 – 78.

[4] Gerald Braunberger, Bücherkiste (3): “Warum Nationen scheitern, faz.net v. 17.4.13.

[5] “In solchen Regimen besitzen die meisten Menschen keine Anreize, sich wirtschaftlich zu engagieren. Diese Regime können zwar vorübergehend wirtschaftliche Fortschritte erzielen, wie etwa die Sowjetunion in ihren ersten Jahrzehnten, aber auf Dauer scheitern sie an ihrer Innovationsfeindlichkeit. Dieses Schicksal sagen die Autoren auch China voraus.” Vgl. Gerald Braunberger, Bücherkiste (3): “Warum Nationen scheitern, faz.net v. 17.4.13.

[5]

[6] Johannes Erber, Vom inklusiven zum extraktiven Kapitalismus, Ökonomenstimme am 12.4.2012. Zur kritischen Betrachtung der Vermögensstudien der EZB siehe Jens Berger, Arme Deutsche? Wie eine Statistik zur Meinungsmache verbogen wird auf NachDenkSeiten am 10.4.13 und Dieter Myeer, Sind wir Deutschen jetzt arm? Oder nicht? auf Die Wunderbare Welt der Wirtschaft am 10.4.13

[7] Bei Kapitalmärkten handelt es eindeutig um extraktive Institutionen. Das ist nicht als Vorwurf, sondern als Feststellung zu verstehen. Im Gegensatz zu vielen anderen Institutionen und Personen sind die Signale der “Märkte” ganz klar vom Eigeninteresse der Teilnehmer geprägt.

[8] Bastian Obermayer, Offshore-Leaks Wenn der Vorhang fällt, Süddeutsche Online am 13.4.2013

Frank Reinartz April 25, 2013 um 22:00 Uhr

Da ist es, das neue Zeitgeistthema der Ökonomen: Extraktive Eliten.

Der Autor hat keinen roten Faden und versucht hier die Thesen von Acemoglu und Robinson mit der aktuellen Steuerdiskussion zu vernüpfen, was Ihm nicht wirklich gelungen ist.

1. Hohe Steuern sind Wirtschaftsgeschichtlich eher Ausdruck extraktiver Eliten gewesen (siehe Beispiele im Buch „Why Nations Fail“).

2. Wenn Steuervermeidung und Steuerbetrug Ausdruck einer extraktiven Elite sind, dann gehören ca. 70 % der Steuerzahler zu dieser Elite. Auch der Klein- und Mittelverdiener nutzt diese Schlupflöcher, wo es sich lohnt.

Die extraktive Elite ist dadurch gekennzeichnet, dass Sie Marktveränderungen verhindern oder Privilegien zementieren will. Beispiel ist das Konkurrenzverbot von Fernbussen zu DB Linien. Dort hat sich jahrzehntelang eine „Elite aus Bahnmanagern, Gerwerkschaften und (verbundenen) Politikern, gegen Privatisierung und Konkurrenz abgeschottet. Letztendlich hat aber die aktuell regierende „Elite“ dem ein Ende gesetzt und die -ich nenne sie jetzt mal- alte „Bahnelite“ hat das im Endeffekt akzeptiert (und plant nun selbst den Einstieg ins Geschäft).
Es gibt noch andere Beispiel aus dem Handwerksbereich im Verbund mit den Hartz IV Reformen, die ähnlich „inklusiven“ Charakter hatten.

Zurück zur Steuerhinterziehung: Herr Hoeneß und die anderen Steuerhinterzieher haben niemanden verboten auch ein Konto in der Schweiz anzulegen und steuern zu hinterziehen (oder mit Tricks zu vermeiden). Insofern hat solches handeln nichts mit abgeschotteter Elite zu tun.

Robert Michel April 22, 2013 um 19:53 Uhr

„Was Weimar freilich übersieht sind die Ursachen für die 2Gier des Staates2 nach Transparenz. Die liegen nämlich darin, dass stets ein kleiner Teil der Gesellschaft versucht, sich zu Lasten der großen Mehrheit Vorteile zu verschaffen. “

Das finde ich an den Haaren herbei gezogen. Es ist doch evident, dass die „Gier des Staates“ nach Transparenz seine Ursache im Interesse des Staates hat, ein hohes Einkommen auf Kosten der Bürger zu erzielen.

marsman April 22, 2013 um 08:55 Uhr

Erlaube mir einen Buchtipp zu dem angesprochenen Punkt „Warum Nationen
scheitern“:

Stefan Zweig: Die Welt von Gestern (1942)

Stefan Zweig beschreibt darin den Untergang der Habsburger Monarchie, den
Untergang jener Welt in der aufwuchs, zur Schule ging, seine Bildung erhielt
und wie vertrackst diese Welt, die Monarchie in praktisch jeder Hinsicht war.
Das Buch gibt keine Antworten oder Diagnosen auf die gegenwärtigen Probleme,
aber einmal über den Untergang einer Monarchie, einer Nation, samt ihrer
Gesellschaft, einer Welt der Uniformen, Borniertheiten und massivster Sexualneurosen, gelesen zu haben ist sicherlich kein Nachteil. Zudem schrieb
Zweig ausgesprochen kurzweilig.

Hier das Buch im Gutenbert Projekt.
http://gutenberg.spiegel.de/buch/6858/1

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