“Wir wettern gegen das Laster und versuchen um jeden Preis, es auszurotten – doch andererseits ist es die Quelle unseres Wohlstands.” (Tomas Sedlacek1)
Im Sommer hatte ich den vorerst letzten Teil dieser Reihe veröffentlicht. In dieser Reihe, die auf eine Blogparade im Januar zurückgeht, spielt die Frage nach dem Umgang mit Fairness in der Wirtschaftspraxis eine zentrale Rolle.
Cut the Investigator (Foto: Truthout via Flickr) |
Bisher erschienen |
- Teil 1: Ökonomen-Blogparade zur Ungleichheit: Ist Fairness nur für Muppets?
- Teil 2: Mythos Neoklassik
- Teil 3: Markt und Macht
- Teil 4: Auf dem Weg zu extraktiven Eliten?
- Teil 5: Elite demontiert sich selbst
- Teil 6: Verhaltenstypen und Mimikry-Normen
- Teil 7: Von der Sehnsucht nach Fairness und Macht bis zum Gefangenendilemma
Am Ende des siebten Teils dieser Reihe überkamen mich Zweifel, weil ich Passagen dieser Reihe als zu einseitig empfinde. Und ich frage mich, ob wir uns nicht oft in der Öffentlichkeit zu selbstgerecht verhalten, wenn wir “schlechtes Verhalten” in der Wirtschaft oder Politik kritisieren. Die Zweifel kamen mit der Lektüre von Tomas Sedlacek “Ökonomie von Gut und Böse” und dem Abschnitt über Mandeville, den Sedlacek als Vater der modernen Ökonomie bezeichnete.
Mandevilles Bienen
Sedlacek befasst sich intensiv mit Mandevilles Bienenfabel2 und der Kritik, die er davon von vielen Zeitgenossen – darunter übrigens auch Adam Smith – geerntet hat. Am Beispiel des Bienenstaates will Mandeville zeigen, dass der Wohlstand nicht nur dem tugendhaften Verhalten entspringt, sondern auch aus Leidenschaften und Lastern.
“Intuitiv und durch Beobachtung der Menschen”, so interpretiert Patrick Welter3, “verstand der Arzt Mandeville, daß der Drang des Menschen nach Mehr die entscheidende Antriebskraft für die Wirtschaft ist. Sein Lob des Luxus und der dadurch entstehenden Nachfrage fand noch 1936 die große Zustimmung von John Maynard Keynes.”
Sedlacek schreibt4:
“Im Hinblick auf die Ökonomie von Gut und Böse ist Mandeville ganz offensichtlich überzeugt, dass die privaten Laster zum öffentlichen Wohlstand beitragen und daher von Vorteil sind. … Nach Ansicht von Mandeville sind die Märkte nicht nur Koordinatoren der menschlichen Interaktionen, sondern können auch persönliche Laster in Tugenden und damit in öffentliche Vorteile verwandeln.”
Wir empören uns ständig über das unfaire Verhalten der Puppenspieler, der Gier ganzer Bevölkerungsgruppen und leiten von dort aus oft über zur Kritik am System. Wir stellen aber selten die Frage, ob wir nicht auch gerade von diesem System in welcher Form auch immer profitieren. Mandevilles Verdienst ist es, diese Heuchelei deutlich zu machen. Mandeville hielt der Geselllschaft seiner Zeit einen bitteren Spiegel vor, weil wir gerade den (verhassten) Lastern, mehr zu verdanken haben, als wir das uns eingestehen wollen. Dazu kommt, dass so manch einer, der Gier und Laster kritisiert, sich ebenso unfair verhalten würde, wenn er die Gelegenheit dazu hätte5.
Von konstruierten Gegensätzen zwischen “Marktvolk” und “Staatsvolk”
Wir konstruieren oft Gegensätze zwischen den “bösen Märkten” und den “guten Bürgern” bzw. zwischen “Marktvolk” und “Staatsvolk”, wie in Wolfgang Streecks Kapitalismuskritik.6 An dieser Gegenüberstellung stört sich Michael Brie in seiner Kritik an Streecks Buch zu Recht, wie ich finde. Brie schreibt:7
“Den hochdynamischen eigeninteressierten Kapitaleigentümern wird ein passiviertes Staatsvolk gegenübergestellt, dass höchstens durch die Staatsmacht zur Kraft wird.” Brie stört sich an dem Gegensatz der zentralen Denkfigur von “Staatsvolk” und “Marktvolk”: Hier das agile Kapital, dort die passiven Bürger? Streek und viele andere Systemkritiker erzählen oft die “Opfergeschichte”, in der das „Staatsvolk“ vom „Marktvolk“ über den Tisch gezogen wird.”
Brie schreibt weiter: “Der neoliberale Kapitalismus konnte sich also durchsetzen, weil er diese neuen Lebensmöglichkeiten in sein Projekt integrierte und ihnen damit eine Ausstrahlungskraft gab, die der Nachkriegskapitalismus nicht hatte. Für große Teile der Bevölkerung bedeutete er den Aufstieg in eine Welt sprunghaft erhöhter Vielfalt und Chancen. Dies hieß aber auch: Der Kampf gegen den entfesselten Finanzmarkt-Kapitalismus kann die neuen Erwartungen, Lebensstile und Kommunikationsweisen nicht rechts liegen lassen. … Doch wo real eine Vielfalt herrscht, konstruiert Streeck zwei „Völker“ – Staats- oder Marktvolk –, die sich feindlich gegenüberstehen wie im orthodoxen Marxismus Arbeit und Kapital.”
“Würden die Bürgerinnen und Bürger in ihrer Rolle als „Staatsvolk“ dem „Marktvolk“ die Gefolgschaft aufkündigen, müssten sie sich selbst ändern. Die Mittelschichten sind zugleich „Staatsvolk“ und „Marktvolk“. Und die Klasse der Industriearbeiter ist über die exportorientierten Unternehmen vom Erfolg dieser Unternehmen auf den globalisierten Märkten abhängig. Nur die Gruppe jener, die ganz von Sozialhilfe abhängt, könnte man überhaupt fast völlig Streecks Kategorie des Staatsvolkes zuschlagen.
Aber die Daseinsvorsorge dieser sozialen Gruppen hängt völlig von den Steuereinnahmen des Staates ab und davon, wie viel nach Bedienung der Staatsschulden noch bleibt, also vom Markterfolg des Wettbewerbsstaats. Dies gilt auch für die Angestellten im öffentlichen Dienst, wie gerade die Journalisten des staatlichen Rundfunks und Fernsehens in Griechenland erfahren. Am anderen Pol bekennt sich der erfolgreiche Finanzspekulant George Soros offen zu „schizophrenem Verhalten“: Einerseits profitiert er rücksichtslos von der „Freiheit“ der Finanzmärkte und andererseits setzt er sich als Weltbürger für deren konsequente Regulierung und offene demokratische Gesellschaften ein.”
Heucheln wir uns unsere Empörung?
Es mag uns unbequem vorkommen, aber wir können Mandevilles Konzept, dass moralische Laster des Einzelnen dem Ganzen wirtschaftlichen Wohlstand bringen können, nicht einfach ignorieren. Ganz nebenbei bemerkt bezeichnet Sedlacek übrigens Mandeville als wahren Vater der Idee der unsichtbaren Hand des Markt, die oft Adam Smith zugeschrieben wird8.
Wir heucheln zu oft unsere Empörung hinaus, weil wir es nicht mögen, wenn jemand gegen Regeln verstößt und sich unfair verhält, gleichwohl profitieren wir oft davon. Gleichzeitig sind wir aber auch bereit, kollektiv unsere Augen zu verschließen, wenn wir davon profitieren.
Die Welt ist jedenfalls nicht Schwarz und Weiß. Das ließe sich beispielhaft an einzelnen Personen, aber auch kollektiven Verhalten in der Wirtschaft zeigen. Als Einzelperson nenne ich hier mal den weithin nicht nur in Wirtschaftskreisen bewunderten Steve Jobs. Wer Walter Isaacsons autorisierte Biografie über den Apple-Gründers gelesen hat, der weiß, wie wenig sich Jobs für Fairness interessiert hat.
Ein Beispiel für kollektive Ignoranz ist unser Vogel-Strauss-Verhalten gegenüber dem Finanzsektor bis zum heißen Ausbruch der Finanzkrise 2007 bzw. spätestens 2008. Und wir haben auch deswegen unsere Augen zugedrückt, weil viele, sehr viele davon profitiert haben.
Ich vertrete die These, dass wir mehr als wir akzeptieren wollen, von den Puppenspielern profitieren. Mandeville wurde vielleicht für sein unbequemes Bekenntnis auch deswegen angefeindet, weil seine Gegner ahnten, dass er richtig lag. Eine Rechtfertigung für unfaires Verhalten lieferte Mandeville damit freilich nicht, er sprach lediglich eine unbequeme Wahrheit aus, die wir auch heute gern verdrängen.
- Tomas Sedlacek “Ökonomie von Gut und Böse”, Pos. 3796.
- Dies Fabel gibt es in verschiedenen Versionen, hier die, Fassung die 1705 anonym als Flugblatt erschienen sein soll.
- Patrik Welter in: Der Sonntagsökonom Gier ist gut – sonst müßt Ihr Eicheln essen, FAZ Online am 1.5.2005.
- Tomas Sedlacek “Ökonomie von Gut und Böse”, Pos. 3873
- Einen Anhaltspunkt dafür mag die Studie The Cheater’s High: The Unexpected Affective Benefits of Unethical Behavior. Das Fazit der Studie unter von Nicole E. Ruedy von der Universität von Washington und ihrem Team nach einer Reihe von Experimenten: Schummeln hebt die Stimmung (vgl. Harvard Business Manager Online v. 30.9.13)
- Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Suhrkamp 2013
- Vgl. Michael Brie, Vorwärts in die Vergangenheit? in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2013
- Tomas Sedlacek “Ökonomie von Gut und Böse”, Pos. 3723
Die Irrelevanz der Moral
„Die größte Tragödie in der Geschichte der Menschheit ist wohl die, dass die Moral von der Religion mit Beschlag belegt wurde.“
Arthur C. Clarke
Eine Moral beschränkt den Frieden auf eine dörfliche Urgemeinschaft von bis zu 150 menschlichen Individuen, die sich alle noch gegenseitig kennen. Wird die Gemeinschaft größer, sofern die natürlichen Ressourcen in der Umgebung das erlauben, fällt die Gemeinschaft in zwei benachbarte Gruppen auseinander, weil das menschliche Gehirn nicht mehr als die komplexen sozialen Verhaltensmuster von 150 Mitmenschen verarbeiten kann. Auf dieser Basis des Urkommunismus lebte der Homo sapiens über einen Zeitraum von etwa 150.000 Jahren, während die Arbeitsteilung – und damit auch die kulturelle Entwicklung – auf jeweils 150 Menschen beschränkt blieb.
Erst in den letzten Jahrtausenden kam es zu einer nennenswerten Kulturentwicklung, nachdem der Mensch gelernt hatte, sich andere Menschen oder Menschengruppen untertan zu machen. Dabei ist es allein eine Frage der Sichtweise, ob der Kulturmensch die Götter oder die Götter den Kulturmenschen erschufen, so wie es allein eine Frage der Sichtweise ist, ob der Homo sapiens die Werkzeuge oder die Werkzeuge den Homo sapiens erfanden. Beides bedingte sich gegenseitig, um eine halbwegs und zeitweilig funktionierende Arbeitsteilung nicht nur zwischen 150, sondern zwischen vielen tausend, vielen Millionen, einigen Milliarden Menschen aufzubauen. Begreiflicherweise wird das Zusammenleben dann nicht mehr von einer „Moral“, sondern von den Regeln einer makroökonomischen Grundordnung, auf die sich alle einigen müssen, bestimmt.
Es waren kulturelle Zwischenschritte erforderlich, in denen der Kulturmensch durch einen Glauben an die Götter jeweils „wahnsinnig genug“ für eine noch fehlerhafte Arbeitsteilung gemacht wurde. Diese Zwischenschritte waren die zentralistische Planwirtschaft noch ohne liquides Geld (Ursozialismus bzw. Staatskapitalismus, z. B. vorantikes Ägypten) und dann die kapitalistische Marktwirtschaft (Zinsgeld-Ökonomie), in der sich die halbwegs zivilisierte Menschheit bis heute aufhält.
Der bis heute andauernde Eingottglaube befreite den Kulturmenschen aus der unbewussten Sklaverei des Ursozialismus (Vielgottglaube), ließ aber dem „Normalbürger“ wiederum die systemische Ungerechtigkeit der Zinsumverteilung von der Arbeit zum Besitz, sowohl innerhalb der Nationalstaaten als auch zwischen den Staaten, gar nicht oder zumindest nicht als Ungerechtigkeit erkennen, sodass der Kulturmensch zwar halbwegs selbständig, aber auch zu einem selbstsüchtigen Raubtier wurde, das sich seine Freiheit auf Kosten anderer erbeutet.
Damit wurde der Krieg zum Vater aller Dinge – was er aber nur solange sein konnte, wie es noch keine Atomwaffen gab!
http://opium-des-volkes.blogspot.de/2013/10/glaube-aberglaube-unglaube.html
War mein Kommentar nicht treffend genug? Dann bezweifele ich ein wenig, dass Sie bereit sind, die Fragen nach unserem wirtschaftlichen Wohlstands, vor der Hintergrund der globalen wirtschaftlichen Ausbeutung von Mensch und Natur, zu stellen.
Das ist schade, denn der Zusammenhang von ersaufenden Flüchtlingen, verbrannten Näherinnen und unserem materiellen Wohlstand ist eigentlich zu offensichtlich, um diese Ambivalenz unseres Verhaltens nicht genau unter das von Ihnen im Artikel gekennzeichneten Verhalten zu subsumieren.
Im Dezember letzten Jahres habe ich mich auch schon mal mit dem ambivalenten Verhalten in unserer Gesellschaft beschäftigt.
http://www.mister-ede.de/politik/unsere-schuld-und-fremdes-leid/1579
Vielleicht interessant zu diesem Thema:
2009 stritten sich Springer – Chef Döpfner und Arianna Huffington in Monaco.
Döpfner sprach u.a. dabei vom Interesse der Medienkonsumenten, es war eine
Bemerkung die wohl seiner Erfahrung entsprachen:
“ …Es gebe nicht viel, was die Leute wirklich interessiere, so Döpfner weiter. Im wesentlichen seien das Sex und Crime oder, wie er für die „gebildeten Schichten“ hinzufügte, „Eros und Thanatos“. Diese Geschichten müssten gut erzählt und konsumentenfreundlich aufbereitet mit einfachen Bezahlsystemen zur Verfügung gestellt werden, so Döpfner. Dann funktioniere auch Paid Content. …
http://meedia.de/internet/doepfners-streit-mit-arianna-huffington/2009/11/13.html
Es könnte dass immer wieder auch eine gewisse Interessselosigkeit eines
kleineren oder grösseren Teils eines Volkes eine Rolle spielt. Also Leute die
sich aus eigener Entscheidung für eigentlich gar nichts ausserhalb ihrer
unmittelbaren Existenz interessieren, auf die die Bemerkung Döpfners
zutrifft.
Von der Werbewirtschaft weiss man ausserdem dass ein gewisser Teil
der Bevölkerung sich bereitwillig und wissentlich manipulieren lässt
wozu auch Spielsüchtige gehören. Man sprach von zehn bis fünfzehn Prozent.
In den USA hat sich mittlerweile wegen den Auswirkungen der Finanzkrise,
u.a. wegen den „foreclosures“ von Eigenheimen wie auch notorischen
Kreditkartenschuldnern und deren Misere das freilich auch zum Nachteil
der früher von diesem Verhalten profitierenden Medien ausgespielt.
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