Diese Serie ist inspiriert durch die Wiwi-Blogparade im Februar, die das Thema hat “Ist ökonomische Ungleichheit ein (Haupt?)Grund für die ökonomische Krise”. Im ersten Teil habe ich mich mit “fairem Verhalten” und alltäglichen Regelverstößen befasst, um sich daraus Vorteile zu erschleichen, die zu einer nicht leistungsgerechten Umverteilung führen können.
Unequal Influence (Foto: flickr/Truthout.org) |
Wer kalkuliert und vorsätzlich gegen Regeln verstößt, der erwartet daraus einen Vorteil für sich. Er sorgt damit aber auch für mehr Ungleichheit, denn der persönliche Vorteil einer Person wird verteilt auf kleine Nachteile für viele andere Personen oder einen großen Nachteil für wenige andere Personen.
In der Wirtschaftspraxis, das hat der erste Teil deutlich machen sollen, existieren zwischen regelwidrigen, unfairen und regelkonformen Verhalten breite Graubereiche. Die persönliche Vorteilsname aus Regelverstößen zu Lasten Dritter funktioniert nur, wenn sich hinreichend viele Personen an geschriebene oder ungeschriebene Regeln halten und der eigene Regelverstoß nicht entdeckt bzw. nicht sanktioniert wird. Ein Verstoß gegen gesetzliche Regeln ist außerdem riskant. Daher bedarf es eines “Systems”, dass bestimmte eigentlich als “unfair” angesehene Verhaltensweisen nicht sanktioniert, sondern als regelkonform ansieht. Um solche Verhaltens- bzw. Kooperationsregeln durchzusetzen, müssen Interessengruppen die Regeln, aus denen sie sich Vorteile versprechen, entsprechend begründen. Herangezogen werden dazu u.a. die Wissenschaft, Religion oder Mythen.
Mythos Neoklassik
Zu diesen gesellschaftlichen Mythen[1] gehört die neoklassische Wirtschaftstheorie und die auf ihm basierende politische Ideologie, die ich hier bewusst vereinfachend mit einem orthodoxen Neoliberalismus[2] gleich setze.
Auf Basis neoklassischer Modelle sind etwa Regeln konstruiert worden, die den privaten Vorteil maximierende Verhaltensweisen rechtfertigen. Frank Schirrmacher hat gerade sein neuestes Buch “EGO” dazu veröffentlicht. Die Neoklassik hat eine Welt geschaffen, die wie selbstverständlich davon ausgeht, dass es rational sei, nur an sich zu denken, andere über den Tisch zu ziehen und das soziale Leben selbst immer mehr zu Geschäft und Auktion wird. Es ist eine “Welt der Ich-Vermarktung, die glasklaren ökonomischen Regeln folgt. Misstrauen, Unterstellung, Bluffs, Ablenkungsmanöver sind in dieser Welt normativ und sei es nur, um, wie ein oft gehörter Satz lautet, »die Märkte zu beruhigen«.” (siehe Einleitung von EGO).
Ich teile zwar die zum Teil düstere Grundstimmung nicht, die Schirrmacher vermittelt, finde jedoch seine spieltheoretischen Interpretationen spannend und passend. Die Feststellung aber, dass Fairness und Kooperation zu Gunsten der “EGO-Automaten” zurückgedrängt werden, ist keine neue Erkenntnis von Frank Schirrmacher. Die “Homines oeconomici” sind, so schrieb etwa Peter Ulrich seiner “Integrativen Wirtschaftsethik”, “wechselseitig desinteressiert; ihnen geht es nur um die möglichst reibungslose, kostengünstige Durchsetzbarkeit ihres Eigeninteresses. Ihre Bereitschaft zur Kooperation mit anderen bleibt daher stets bedingt durch ihr egoistisches Nutzen/Kosten-Kalkül.”
Aus der Neoklassik werden Interpretationen für Signale abgeleitet, wie etwa, dass für die beste und am meisten nachgefragte Leistung der höchste Preis gezahlt wird[3]. In ökonomischen Betrachtungen wird dies übrigens gern gedreht, nämlich, dass derjenige, der den höchsten Preis erhält (z.B. die höchste Bezahlung[4] oder den höchsten Gewinn erzielt), auch die beste Leistung bietet und damit fair belohnt wird. Und aus der Neoklassik wird gern der Leistungs- und Chancengleichheitsmythos abgeleitet, für den es kaum haltbare Belege gibt. Ich halte diesen Mythos für schlicht falsch. Er hat nie existiert, selbst wenn Untersuchungen zeigen, dass wir in unserer Gesellschaftsform deutlich mehr Leistungs- und Chancengleichheit vorfinden (Stichwort: Das System ist durchlässiger geworden) als in vielen anderen Gesellschaftsformen.
Ich will hier aber nicht die eingeschlafene Debatte über den Wertewandel aufrollen. Beobachten kann man aber täglich die Entlarvung des neoklassischen Mythos in Berichten über die Wirtschafts- und Politikpraxis, aber natürlich auch im eigenen Arbeitsumfeld. Ginge es nach dem neoliberalen Dogma, dann stünden die jeweils besten Unternehmen und Personen an der Spitze. Opportunistisches Verhalten, wie Betrug, Kartelle, Erpressung, Bestechung oder Verstöße gegen Lebensmittel- oder Umweltgesetze existieren in solchen Welten nicht. Die optimale Allokation spült die Unternehmen, Personen oder ganze Länder nach oben, die am besten wirtschaften, für die jeweilige Position am besten geeignet oder am wettbewerbsfähigsten sind. Zwar gelingt dies oft durch wie auch immer ermittelte gute Leistungen, in vielen Fällen beobachten wir aber auch Unfairness in Form eines rücksichtslosen Opportunismus zu Lasten Dritter.
80 Mio. Bonus für einen Betrüger?
Es spricht also viel dafür, dass nicht immer die “Leistungsbesten”, sondern oft die stärksten “Ego-Vermarkter” und machbewusste Personen mit unfairen Verhalten Institutionen in ihrem Interesse steuern. Anschauungsmaterial dafür liefern einmal mehr die Finanzmärkte, wobei sich ebenso leicht Fälle aus anderen Wirtschaftssektoren, der Politik und aus jedermanns Alltag finden ließen.
Die Neoklassik geht davon aus, dass ein Unternehmen ein zu maximierendes Ziel hat, übersieht aber, dass Unternehmen von Menschen betrieben werden, die eigene Ziele verfolgen, die nicht kompatibel mit den Unternehmenszielen sind. Deutlich wird das an einem aktuell öffentlich gewordenen Beispiel.
Die Deutsche Bank hat einem Händler einen Bonus (recherchiert vom Stern) in Form eines bestimmten Gewinnanteils vertraglich zugesichert, wenn er bestimmte Ergebnisse liefert. Offenbar hat der Händler wie auch immer gemessene Ergebnisse geliefert, die 2009 einen Bonus in Höhe von 80 Mio. Euro rechtfertigten[5]. Der Händler wurde im Dezember 2011 entlassen, weil er an Manipulationen des Libor-Zinssatzes beteiligt gewesen sein soll.
Es ist bekannt, dass sich Mitarbeiter, deren Bonus an exakten Kennzahlen orientieren, genau darauf konzentrieren. In vielen Fällen ist das genau so vom Management gewollt[6]. Solche Ziele vernachlässigen aber, dass damit erhebliche Anreize geschaffen werden, auch mit versteckten unfairen oder verschleierten illegalen Handlungen diese Ziele zu erreichen. Mit den Geschichten aus der Finanzkrise lassen sich ganze Bibliotheken mit ähnlichen Fallbeispielen füllen.
Die Neoklassik stellt solche Zahlungen nicht in Frage, sondern rechtfertigt sie mit einem Leistungsäquivalent bzw. einem “Markpreis”.
Neoklassik kennt keine Opportunisten
Die Neue Institutionenökonomik könnte hier als Korrektiv dienen. Die Institutionenökonomik würde bei solchen Vereinbarungen nach den Anreizen fragen.
Es ist immer wieder erfrischend, sich das klare Opportunismus-Konzept der „Neuen Institutionenökonomik“ erneut ins Gedächtnis zu rufen. UnterOpportunismus versteht Oliver E. Williamson, einer der Pioniere der Neuen Institutionenökonomik, die Verfolgung des Eigeninteresses unter Zuhilfenahme von List. Das schließt krassere Formen ein, wie Lügen, Stehlen und Betrügen, beschränkt sich aber keineswegs auf diese. Häufig bedient sich der Opportunismus raffinierterer Formen der Täuschung. Allgemeiner gesagt, bezieht sich Opportunismus auf die unvollständige oder verzerrte Weitergabe von Informationen, insbesondere auf vorsätzliche Versuche irrezuführen, zu verzerren, verbergen, verschleiern oder sonst wie zu verwirren. Damit ist er auch für Zustände echter oder künstlich herbeigeführter Informationsasymmetrie verantwortlich.
Williamson, der 2009 für seine Arbeiten den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt, unterstellt übrigens nicht, dass sich alle Menschen immer und überall opportunistisch verhalten. Er nimmt „lediglich an, so schreibt H. Döring in einer Dissertation (S. 35), dass manche Menschen zeitweilig opportunistisch sind und die unterschiedliche Vertrauenswürdigkeit selten im Vorhinein klar erkennbar ist.“ Williamson bezeichnet es aber als Vertragsutopie, wenn man davon ausgeht, dass weder die Rationalität der Transaktionspartner beschränkt noch opportunistisches Verhalten zu erwarten sei.
Das aus zunehmendem Opportunismus entstehende Dilemma für die Wirtschaftspraxis ist, dass nicht nur auf unfaire Art umverteilt wird, sondern auch die Kosten für die Transaktionsabwicklung steigen. Wenn Geschäftspartner sich nicht mehr auf in der Vergangenheit übliche kaufmännische Prinzipien verlassen können, dann müssen solche Prinzipien etwa durch umfangreichere Verträge und Kontrollen ersetzt werden, um sich vor einer wie auch immer gearteten „Ausbeutung“ zu schützen. Letztlich erhöht dies die Kosten für beide Parteien.
Eine besondere Grundlage für opportunistisches Verhalten ist Macht und sind die Vorteile, die sich Opportunisten verschaffen können, wenn sich möglichst viele Menschen an Regeln halten. Darum wird es im dritten Teil dieser Reihe gehen.
[1] Ein Mythos ist lt. Wikipedia in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Erzählung, mit der Menschen und Kulturen ihr Welt- und Selbstverständnis zum Ausdruck bringen. Mythen erheben einen Anspruch auf Geltung für die von ihnen behauptete Wahrheit.
[2] Mir ist bewusst, dass man nicht einfach Neoliberalismus und Neoklassik gleichsetzen kann und es sehr unterschiedliche neoliberale Strömungen gibt. Dies hier zu diskutieren und herauszuarbeiten, würde aber den Rahmen dieser Blogreihe vollkommen sprengen. Ismen“ sind oft, so schreiben Thomas Straubhaar, Michael Wohlgemuth, Joachim Zweynert in Rückkehr des Keynesianismus,”vereinfachende und nicht selten bösartige Zuschreibungen der anderen Seite.”
[3] Ökonomen mögen mir die Verkürzung hier verzeihen. Aber ich verspüre wenig Neigung, hier die Grundzüge der mikroökonomischen Theorie zu referieren.
[4] Dazu hat jüngst die Deutsche Bank wieder ein Beispiel geliefert. Sie hat einem Mitarbeiter einen Bonus von 80 Mio. Euro genehmigt. “Der Händler, gegen den inzwischen wegen der Manipulation des Referenzzinses Libor ermittelt wird, wurde 2011 entlassen.” (Handelsblatt Online v.13.2.13)
[5] Der Bonus-Anspruch soll sich nach stern-Informationen aus einer vertraglichen Formel, nach der dem Investmentbanker ein fixer Prozentsatz der von ihm erzielten Spekulationsgewinne zustand. Der Gewinn soll in einem Jahr 500 Millionen Euro betragen haben. Der Vorstand akzeptierte Anfang 2009 den Bonus-Anspruch und beschloss lediglich, die Auszahlung über mehrere Jahre zu strecken.
[6] Solche Zielvereinbarungen berücksichtigen freilich nicht die Nebenwirkungen durch Vernachlässigung anderer Aufgaben.
@Stich
„Das gilt natürlich nur, solange auch das Risiko der Fehlentscheidung möglichst bei dem Entscheider verbleibt.“
Ist dieses an den Tag gelegte Verhalten nicht ein Teil des „homo oec.“?
Ist und/oder Soll Beschreibung. Dem „homo oec.“ werden bestimmte Verhaltensweisen zu geordnet, jeder ist sich selbst der Nächste, ohne irgend welche Rücksicht, egal auf was, wem zu nehmen.
Wieso gibt es dann in jeder Gesellschaft, egal, ob im Dschungel von Borneo oder in Europa, dem Islam, Buddhismus immer so etwas wie die zehn Gebote bzw. die sieben Todsünden in der katholischen Kirche?
Die „Verkürzung“ der Wirtschaftstheorie wird zwar in Fußnote [3] kurz entschuldigt, bildet aber leider die schwankende Basis für die weiteren Ausführungen.
Zunächst einmal ist der Anspruch der Neoklassik (oder irgendeiner anderen Wirtschaftstheorie) ja nicht, zu sagen wie wir handeln sollen, sondern ein Modell zu finden, dass möglichst gut beschreibt, wie wir tatsächlich handeln und wie wir unter anderen Bedingungen handeln würden. Das heißt, wir sollten nicht Wirtschaftsprofessoren dazu fragen, ob eine bestimmte Regelung „fair“ oder „unfair“ ist. Damit sagt natürlich auch der hohe Lohn des Börsenhändlers nichts über seinen gesellschaftlichen Wert aus, sondern erst einmal nur, dass a) jemand bereit ist, diesen Lohn für diese Arbeit zu zahlen und b) dass offenbar nicht genügend andere bereit sind, diese Arbeit für weniger anzubieten.
Gleichzeitig sagt uns unsere historische Erfahrung, dass wir im Mittel gut damit gefahren sind, die Preisbildung dezentral durch die Personen, die auch die Konsequenzen tragen, vornehmen zu lassen, da nur so die vielen Informationen, Meinungen und Einschätzungen aggregiert werden. Auch der im Artikel besprochene „Opportunismus“ erhöht erst einmal nur die Transaktionskosten (für Recherchen und Verträge) und die Wahrscheinlichkeit einer Fehleinschätzung, beantwortet aber nicht die Frage, ob es ein besseres System zur Preisfindung als den freien Markt gibt. (Ich glaube übrigens nicht, dass Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit früher häufiger anzutreffen waren, eher das Gegenteil.) Sie persönlich (und ich auch) mögen eine andere Einschätzung des „Wertes“ der Börsenhändler-Tätigkeit haben, aber warum sollte unsere Meinung dazu wichtiger sein, als die der Person, die diesen Händler einstellt?
Das gilt natürlich nur, solange auch das Risiko der Fehlentscheidung möglichst bei dem Entscheider verbleibt. Und hier (und nicht in irgendeinem seit neuem geförderten Egoismus) liegt die Krux der ganzen Rettungsaktionen, nämlich dass das Risiko am Ende der Allgemeinheit aufgebürdet wurde, statt es bei den Eigentümern und Gläubigern der Banken und Staaten zu belassen.
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