Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie (17): Neurobiologie, Genetik und Verhalten

by Dirk Elsner on 12. März 2018

2017 ging der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften an den US-Ökonomen Richard H. Thaler. Er wurde für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Verhaltensökonomie ausgezeichnet[1]. Die Würdigungen von Thalers Arbeit auf dem Gebiet des ökonomischen Verhaltens betonten, dass sich Menschen nicht so verhalten, wie sie es nach der ökonomischen Theorie eigentlich sollten[2]. Der Ökonom und Wirtschaftsforscher Clemens Fuest betonte in seinem Kommentar, Thaler habe gezeigt, dass Menschen häufig nicht vollständig rational handeln, sondern eher einfachen Entscheidungsregeln folgen.[3]

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Ein Ort langsamer Evolution: Deadvlei, Namibia bei Sossusvlei.

Diesen Würdigungen setzen damit einen bestimmten Maßstab für rationales Handeln voraus. Bei Ökonomen ist dies meist das Bild vom Homo Oeconomicus. Längst zweifeln aber selbst viele Ökonomen an dieser “Musterfigur” und entwickeln alternative Ansätze. Ich habe bereits im vorhergehenden Abschnitt darauf hingewiesen, dass der US-Ökonom Andrew Lo in seiner in Deutschland bisher kaum beachteten Arbeit herausgearbeitet hat , dass der Rationalitätsbegriff der Ökonomen zu eingeschränkt ist. Die Evolution habe uns Menschen nämlich mit vielen nützlichen Verhaltensmustern ausgestattet, die unserer Überlebenschancen unter bestimmten Umweltbedingungen erhöhen. Dazu gehören auch Gefühle wie Angst und Gier[4].

Nach Lo sind Emotionen sogar erst eine Voraussetzung dafür, dass der Mensch sich überhaupt verhalten kann. Ohne die Emotionen Angst und Gier könnten nicht einmal ökonomische Entscheidungen getroffen werden[5]. Lo schreibt:

“From a neuroscientific perspective, emotions help to form an internal reward-and-punishment system that allows the brain to select an advantageous behavior. From an economic perspective, emotions help to provide a basic currency or Standard of value for animals—again, including humans—to engage in a cost-benefit analysis of the various options open to them. But if emotion isn’t the source of our irrationality—if emotion is, in fact, necessary for our rationality—what, then, is the source of irrationality? The neuroscientific perspective provides a hint. Neuroscientists have shown that emotion, especially fear and the fight-or-flight response, is our “first responder.” We exhibit emotional reactions to objects and events far more quickly than we can articulate them, as in Robert Thompson’s case.”[6]

Lo favorisiert eine neurobiologische Erklärung von Rationalität:

“The neurological definition of rationality is inextricably tied to an individual’s environment. When the ability to experience emotions is removed, human behavior becomes less rational. What we consider to be “rational” behavior is actually a complex negotiation among multiple components of the brain. If these components become imbalanced—for instance, too little fear or too much greed—we observe imbalanced behavior, which we call irrational. But these imbalanced behaviors aren’t random. They’re merely inappropriate for the environment in which they are exhibited, like the shark on the beach.”[7]

Die von Andrew Lo entwickelte und aus der Evolutionstheorie und Neurobiologie abgeleitete „Adaptive Market-Theorie“ sehe ich weit vorn, wenn es um alternative Modelle geht. Sein bisher nur in englischer Sprache erschienenes Buch “Adaptive Markets: Financial Evolution at the Speed of Thought” reiht sich nahtlos in die hier vertretene Sichtweise ein. Vielleicht hat „Adaptive Market-Theorie” sogar das Potenzial zum potenziellen Nachfolger der neoklassischen ökonomischen Theorie. Kein mir bekannter Ökonom hat bisher so konsequent das bisher vorherrschende ökonomische Paradigma angegriffen und der Kritik eine brauchbare Alternative vorgelegt.

Bisher erschienen in dieser Reihe “Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie”

In den Beiträgen 10 bis 12 habe ich mich bereits mit der Neurobiologie des Verhaltens befasst. Weil ich aber immer auf für mich weitere neue Erkenntnisse stoße, will ich diese mit diesem und weiteren Einträgen teilen.

Neurobiologie als ein Scharnier

Wie schon mehrfach in dieser Reihe betont, dient in dieser Reihe die Neurobiologie als ein Scharnier zwischen der modernen Evolutionstheorie und den biologischen Prozessen, die unser Verhalten und Handeln bestimmen und damit auch relevant für das Verhalten in der Wirtschaftspraxis sind. Damit könnte die moderne Evolutionstheorie den von vielen praxisnahen Betriebswirtschaftslehren[8] und vielleicht sogar der heterodoxe Ökonomie vermissten methodologischen Rahmen geben. Dieser neue Rahmen verwirft nicht alles, was Ökonomen gedacht und geschrieben haben, sondern hat in einer speziellen Ausprägung sogar einen Platz für den “Homo Oeconomicus”.

Die Neurobiologie sucht biologischen Erklärungen für unser Verhalten. Dabei haben wir bereits gesehen, dass es u.a. darum geht, wie verschiedenste neurochemische Prozesse und Substanzen in unserem Körper bei der Bildung der Persönlichkeit und Psyche miteinander wechselwirken.[9] Das ist nicht nur faszinierend, sondern hilft auch das eigene Verhalten besser zu verstehen. Die fachwissenschaftliche Tiefe der Literatur zu Neurobiologie oder die biologische Psychologie[10] mit biologischen, medizinischen und psychologischen Fachbegriffen lässt sich hier nur in ausgewählten Facetten betrachten. Zu umfangreich ist einerseits die Literatur zu den neurobiologischen Ursachen des menschlichen Sozialverhaltens[11] und zu gering meine persönlichen Vorkenntnisse[12]. Eine Liste mit Literatur, die mir beim Einstieg geholfen hat, habe ich an das Ende des aktualisierten Teil 10 dieser Reihe eingefügt.

Neurobiologischen Faktoren und Umwelt bestimmen Verhalten

Wir Menschen, so schreibt Nicole Strüber “unterscheiden uns nicht nur darin, wie unsere Nervenzellen miteinander verschaltet sind, sondern auch darin, wie sehr bestimmte Moleküle ihre Aktivität beeinflussen: Acetylcholin, Dopamin, Oxytocin, Vaso­pressin sind nur einige von ihnen. Das Gehirn setzt die­se modulatorischen Substanzen immer dann frei, wenn es besonders schnell oder anhaltend reagieren muss, beispielsweise weil etwas gerade sehr wichtig oder po­tenziell gefährlich ist. Das kann eine komplizierte Ver­kehrssituation ebenso sein wie ein Gespräch mit dem Vorgesetzten.”[13] Weiter schreibt sie:

“Entdeckt das Gehirn Hinweise auf ein entsprechendes Ereignis, produzieren spezialisierte Zellen solche Mole­küle – häufig im Hirnstamm oder Mittelhirn. Anschließend gelangen diese über Nervenfasern in ihre Zielregi­onen im Gehirn. Dort angekommen, binden sie an pas­sende Rezeptoren und regulieren darüber die Aktivität anderer Nervenzellen, die gerade mit der Welt um uns herum und unseren Bedürfnissen beschäftigt sind. Das Gehirn kann beispielsweise in gefährlichen Situationen in einen sehr reaktiven Zustand versetzt werden, den Forscher als »wachsam« bezeichnen.”[14]

Kerstin Uvnäs-Moberg, eine Professorin und Biochemikerin aus Schweden, stellt in ihrem Buch über Oxytocin fest, dass wir in unserer modernen Gesellschaft sehr stark auf das Rationale und Intellektuelle vertrauen:

“Wir glauben, wir könnten unser Leben und Wohlbefinden im Wesentlichen mit bewussten Denkprozessen und dem gesunden Menschenverstand steuern. Unser Handeln unterliegt jedoch nicht allein unserem rationalen Denken. Wir besitzen über das bewusste Denken hinaus ein angeborenes Wissen, das uns hilft, mit dem Leben und insbesondere mit unseren sozialen Beziehungen zurechtzukommen. Diese im Grunde instinktiven Fähigkeiten bestimmen das Leben anderer Säugetiere noch stärker als das der Menschen; dennoch sind sie Teil unseres Säugetiererbes und beeinflussen uns mehr, als wir denken.”[15]

Wichtig ist die neuronale Grundlage des Belohnungssystems. Im Nucleus accumbens schütten die Nervenzellen den Neurotransmitter Dopamin aus. Und diese Ausschüttung dient als Verstärkungssignal. Sie bedeutet: Gut gemacht! Weiter so![16]

Der Neurobiologe Konrad Lehmann weist darauf hin, dass der Verlauf der Dopaminkonzentration bei einer erwarteten Belohnung einer beschleunigt ansteigende Kurve entspricht, “wie man sie durch eine Hyperbel oder eine Exponentialfunktion beschreiben kann, und wie sie von Motivationstheorien seit langem postuliert wird: Der Wert einer Belohnung hängt davon ab, wie weit sie

in der Zukunft liegt. Sie wird "zeitlich diskontiert", kaum anders, als das ein Kaufmann bei der Entscheidung über eine langfristige Investition tun würde. Je ferner der erwartete Ertrag liegt, desto größer muss er sein, damit es sich lohnt.”[17] Damit erhält die These vom “Zeitwert des Geldes” eine neurobiologische Grundlage.

Diese Beispiele unterstreichen die Relevanz der Neurobiologie. Kein modernes Lehrbuch der Psychologie kommt mehr damit aus, die biologischen und evolutionären Grundlagen des Verhaltens darzustellen. Aber erst im 19. Jahrhundert, in Zusammenhang mit Charles Darwins Evolutionstheorien, “begann man darüber nachzudenken, dass menschliches Verhalten biologisch erklärt werden könne.”[18]

Mittlerweile besteht weitestgehend Einvernehmen[19] darüber, dass das menschliches Verhalten von neurobiologischen Faktoren und der Umwelt mitbestimmt wird. Myers schreibt dazu in der Einleitung seines Kapitels über Neurowissenschaft und Verhalten:

“Alles, was psychisch ist, ist gleichzeitig auch biologisch. Jede Idee, die Sie haben, jede Stimmung und jedes Bedürfnis ist ein biologisches Geschehen. Sie lieben, lachen und weinen mit Ihrem Körper. Ohne Ihren Körper, d. h. ohne Ihre Gene, Ihr Gehirn, ohne die inneren chemischen Vorgänge und ohne Ihre äußere Erscheinung, sind Sie einfach niemand, ein »nobody«.”[20]

Die Neurobiologie, biologische Psychologie bzw. Hirnforschung[21] zeigen, “dass psychische Prozesse genauso wie Prozesse der Wahrnehmung, der Kognition und der Motorik aufs Engste mit der Aktivität von Nervenzellen in unterschiedlichen Regionen des Gehirns verbunden sind.”[22] Der Hirnforscher Gerhard Roth schreibt:

“Das Nervensystem ist das wichtigste und schnellste informationsübertragende System des Körpers, in Sekundenbruchteilen können Informationen von der Peripherie – z.B. der Haut oder den Sinnesorganen – ins Gehirn gelangen, dort verarbeitet werden und Reaktionen darauf ausgelöst werden. Die Leistungen des menschlichen Nervensystems werden durch das Zusammenwirken von schätzungsweise 100 Milliarden Nervenzellen innerhalb eines komplexen Netzwerks ermöglicht. Dieses Netzwerk ist so engmaschig, dass eine einzelne Nervenzelle bis zu einige Tausend Kontakte mit anderen Nervenzellen besitzen kann.”[23]

Das Informationssystem unseres Körpers ist aus Milliarden von miteinander verbundenen Zellen, den Neuronen, aufgebaut. Um unsere Gedanken und Handlungen, Erinnerungen und Stimmungen zu ergründen, müssen wir verstehen, wie Neuronen funktionieren und untereinander kommunizieren.[24] Unser Gehirn steuert dabei körperliche Vorgänge über zwei Wege[25]:

  1. über Nervenbahnen (zentrales und peripheres Nervensystem);
  2. durch Hormone, die über den Blutkreislauf an die Zielorgane gelangen.

Niels Birbaumer und Jörg Zittlau betonen in ihrem Buch über Hirnforschung, dass wir kein »Wesen« und auch keinen unveränderlichen Charakter haben, “der uns durch das Leben führt. Es ist vielmehr so, dass wir in bestimmter Weise funktionieren und uns dabei beobachten können. Unser Gehirn prüft permanent, ob unsere Aktionen den gewünschten Effekt haben, ob sie uns einen Gewinn bringen (Anerkennung, Erfolg, Reichtum, Prestige, Liebe), und wenn dem so ist, werden sie wiederholt; und wenn nicht, dann werden sie beizeiten abgestellt. Das hat in der Natur zum Überleben beigetragen. Aber ein »tieferer« Sinn steckt nicht dahinter. Wer aus seinem Funktionieren in bestimmten Situationen den Schluss zieht, dass eben diese Handlungsweise zu seinem persönlichen Wesen gehört, der irrt. Stattdessen spielen äußere Umstände und Zufälle in unserem Leben eine viel größere Rolle, als wir glauben wollen.”[26]

Von Gerhard Roth und Nicole Strüber lernen wir, dass differenzierte Gefühle und komplexes Verhalten infolge einer engen Wechselwirkung neurochemischen Systeme entstehen.[27] Niels Birbaumer und Jörg Zittlau schreiben, das das Gehirn Effekte will, die als emotional positiv bewertet werden. Dabei ist es prinzipiell gleichgültig, wodurch diese Effekte ausgelöst werden.

“Hirnregionen im Orbitofrontalkortex und im limbischen System bewerten die ablaufenden Ereignisse und Situationen im Hinblick auf den belohnenden und bestrafenden Effekt, den sie in der Vergangenheit hatten oder der aktuell erwartet wird. Diese Erwartungen steuern unsere Annäherung oder Vermeidung: Glückt die Annäherung bzw. Vermeidung wie erwartet, wird das jeweilige Verhalten eingeprägt und stabilisiert. Auf hirnphysiologischer Ebene sind daran Neurohormone und Transmitter beteiligt, die auch bei der Sucht eine zentrale Rolle spielen.”[28]

Manchen mag die Ansicht nicht gefallen, aber das Gehirn, so Birbaumer und Zittlau, ist offen für alles, “sofern es nur einen erwünschten Effekt bringt. Denn für das Überleben nützt eine unveränderliche Persönlichkeit wenig, vielmehr muss man flexibel auf sich verändernde Situationen reagieren können.” Für die Menschen habe die Evolution für sein Überleben den die herausragende Plastizität seines Gehirns vorgesehen. “Es kann sich immer neuen Anforderungen anpassen und sich umorientieren, sich neuen Werten und Inhalten öffnen und sie für sich übernehmen.”[29]

Das Verhalten des Menschen wird beeinflusst durch eine bestimmte genetische Ausstattung, frühkindliche oder spätere Einflussfaktoren. Gehirn, Gene und Umwelt interagieren hier miteinander. “Gene und Erfahrungen beeinflussen die synaptischen Verknüpfungen und legen fest, wo und in welcher Menge bestimmte Neuromodulatoren ausgeschüttet werden und sich deren Rezeptoren ausbilden.”[30]

Die Hirnforschung hat herausgearbeitet, “dass die individuellen Gene der neurochemischen Systeme die Empfindlichkeit gegenüber den Auswirkungen früher Erfahrungen vorgeben und so die Psyche schützen oder gefährden können. Die Erfahrungen können ihrerseits in einem epigenetischen[31] Prozess auf die Gene zurückwirken und deren Umsetzung in Proteine, d. h. in Komponenten der neurochemischen Systeme beeinflussen. Damit ist zumindest im Prinzip hinsichtlich des Psychischen das uralte »Gen-Umwelt«-Problem gelöst, und es bestätigt sich die Anschauung, dass psychische Gesundheit ebenso wie psychische Erkrankungen durch spezifische Gen-Umwelt-Interaktionen bestimmt werden.”[32]

Epigenetische Einflüsse

In dieser Reihe war bereits die Rede von epigenetischen Einflüssen auf unser Verhalten. Es wird Zeit die Epigenetik etwas genauer zu betrachten.

Die Epigenetik fragt danach, wie Erfahrungen während des Lebens eines Individuums auf die phänotypische Ausformung eines bestimmten Merkmals, dessen Ausbildung eigentlich im Erbgut festgelegt ist, einwirken können. Es geht hierbei um bestimmte Zelleigenschaften, die zwar nicht in der DNA-Sequenz selbst festgelegt sind, aber dennoch an eine Tochterzelle weitergegeben werden können. Man kennt bestimmte molekulare Prozesse, die steuern, welche Erbinformation sich tatsächlich im Merkmal zeigt und welche nicht. Dies hängt überwiegend von der Gegenwart bzw. Aktivität bestimmter Transkriptionsfaktoren ab, die das Ablesen eines Gens steuern. … Mittlerweile gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass etwa psychischer Stress auf die Vorgänge von Methylierung bzw. Acetylierung und damit auf die Genexpression einwirkt. Letzteres ist eines der wichtigsten Themen epigenetischer Forschung.[33]

Die menschliche Persönlichkeit wird nach Roth und Strüber bestimmt durch die Interaktion zweier Faktoren:[34]

  1. individuelle genetische Ausstattung einschließlich der Genvarianten, die Art und Ausmaß der Expression bestimmter Gene festlegen,
  2. die Umweltbedingungen im engeren Sinne (frühkindliche familiäre Bedingungen) wie im weiteren Sinne (Bedingungen der Sozialisation).

Diese Faktoren sind verzahnt. So seien zwar die Gene in der Regel über wenige Generationen unveränderlich, werden aber als väterliche und mütterliche Allele bei jedem Zeugungsakt neu gemischt. Daneben verändern teils vorgeburtlich und teils früh nachgeburtlich Umwelteinflüsse über epigenetische Prozesse die Genexpression. Diese Veränderungen können teilweise sogar an die nächste Generation weitergegeben werden.[35]

Roth und Strüber betonen das Zusammenwirken von Genetik, Epigenetik und Umwelt:

“Die genetisch-epigenetische Ausstattung eines Menschen und der Verlauf der Ontogenese von Nervensystem und Gehirn geben den Rahmen vor, in dem die vorgeburtliche und nachgeburtliche Umwelt auf die sich entwickelnde Psyche und Persönlichkeit einwirken kann. Dass diese Umwelteinflüsse zum Teil verändernd in die epigenetische Ausstattung eingreifen und so an die nächste Generation weitergegeben werden können, eröffnet eine völlig neue Sicht der Entwicklung von Psyche und Persönlichkeit.”[36]

Die aktuelle Literatur scheint mittlerweile einig zu sein, dass die DNA ihre frühere Vormachtstellung für den Einfluss auf das menschliche Verhalten verloren hat.[37]

Verhaltensgenetik

Die Verhaltensgenetik ist nach Darstellung von Martin Melchers mittlerweile ein zentraler Bestandteil der neurobiologischen Forschung, weil der menschliche „Bauplan“ mitbestimmt, wie individuelle Körperparameter (zum Beispiel die Aktivität von Neurotransmittern oder Hormonen) ausgeprägt sind. Melchers differenziert die Verhaltensgenetik, um unterschiedliche Teilfragen beantworten:[38]

Quantitative Genetik

“Die quantitative Genetik ist der Teil der Verhaltensgenetik, der nach dem generellen Einfluss genetischer Faktoren auf Eigenschaften und Verhaltensmuster von Menschen fragt. Hier geht es nicht um das Verständnis des Beitrags einzelner Genorte, sondern um eine globale Schätzung des Einflusses aller Gene auf eine definierte Eigenschaft oder ein definiertes Verhalten.”[39]

Molekulargenetik

“Die Molekulargenetik ist die Wissenschaft, die Struktur und Funktion von Genen auf molekularer Ebene, das heißt auf Ebene der einzelnen Erbinformation, betrachtet. In der Psychologie stellt sie im Gegensatz zur quantitativen Genetik die Frage nach der Assoziation einzelner Genorte, beziehungsweise der verschiedenen dort möglichen Ausprägungen eines Gens (Allele), mit einer Eigenschaft oder einem Verhaltensmuster (Phänotyp).”[40]

Was müssen wir wissen?

Die Haltepunkte meiner Reise durch die Neurobiologie haben hier nur ausgewählte Facetten aufgreifen können. Die moderne Hirnforschung entwirft kein deterministisches Modell vom menschlichen Verhalten, wie es etwa die Ökonomen mit ihrem “homo oeconomicus” machen. Mittlerweiler kann die Neurobiologie “bis in die zellulären und molekularen Details hinein zeigen, wie bestimmte genetische-epigenetische Anlagen und Umwelteinflüsse sich durchdringen”[41] und unser Verhalten beeinflussen.

Ich kann auf meiner weiteren Reise nicht alle verzweigten Haltepunkte der Neurobiologie ansteuern. Ökonomen empfehle ich die im 10. Beitrag zusammengestellte Literatur und daraus insbesondere die gut lesbare Einführung vom Bremer Neurobiologen Gerhard Roth, Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, erschienen 2017 in der 12. Auflage. Roth und seine Mitarbeiter haben sich auch mit den Neurobiologische Motivationssystemen befasst. Diese greife ich im Folgebeitrag auf.


[1] Jürg Müller, Mit Thaler wird ein Pionier der Verhaltensökonomie ausgezeichnet, NZZ Online am 8.10.2017.

[2] Vgl., ohne Verfasser, Wirtschaftsnobelpreis geht an Richard Thaler, FAZ Online am 9.10.2017.

[3] Clemens Fuest, Thaler verbindet hochaktuelle Forschung mit praktischer Lebenshilfe, in: Wirtschaftswoche Online am 9.10.2017.

[4] Vgl. Andrew W. Lo, Adaptive Markets: Financial Evolution at the Speed of Thought, 2017, Pos. 2208. Ich war darauf auch bereits in Teil 16 dieser Reihe eingegangen.

[5] Vgl. Andrew W. Lo, Adaptive Markets: Financial Evolution at the Speed of Thought, 2017, Pos. 2256.

[6] Vgl. Andrew W. Lo, Adaptive Markets: Financial Evolution at the Speed of Thought, 2017, Pos. 2221.

[7] Vgl. Andrew W. Lo, Adaptive Markets: Financial Evolution at the Speed of Thought, 2017, Pos. 2287.

[8] Ich denke z.B. an Marketing, Personalwirtschaftslehre und Management.

[9] Gerhard Roth und Nicole Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, Kindle-Edition, 2015, Pos. 2230. Siehe auch Niels Birbaumer u. Jörg Zittlau, Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst: Neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung Kindle Edition 2014, Pos. 144.

[10] Myers definiert Biologische Psychologie (biological psychology) wie folgt: “Teilbereich der Psychologie, der sich mit dem Zusammenspiel von Biologie und Verhalten beschäftigt; auch als physiologische Psychologie bezeichnet. David G. Myers, Psychologie, 3. Aufl. 2014, S. 57.

[11] Für einen gut lesbaren Überblick empfehle ich: Gehirn und Geist Dossier, Die Kraft des Sozialen 2/2014.

[12] Außerdem sind die wissenschaftlichen Texte zu vorsichtig und legen sich, wie bei den Naturwissenschaftlern üblich, nicht auf abschließend Gewissheiten fest. Viele Aussagen werden mit umfangreichen Studienergebnissen belegt, die ich hier weder zusammenfassen noch deren Qualität einschätzen kann. Und natürlich gehört Kritik mancher Fachleute an der Qualität der Neurowissenschaft dazu. Vgl. dazu Memorandum „Reflexive Neurowissenschaft“, in: Psychologie Heute, ohne Datum 2014. Dazu Ulrich Schnabel, Die große Neuro-Show, ZEIT Online am 2.3.2014.

[13] Nicole Strüber, Wie ich wurde, was ich bin”, in: Gehirn und Geist, 7/2017, S. 14

[14] Nicole Strüber, Wie ich wurde, was ich bin”, in: Gehirn und Geist, 7/2017, S. 14

[15] Kerstin Uvnäs Moberg, Oxytocin, das Hormon der Nähe, Kindle Edition 2016, Pos. 375.

[16] Konrad Lehmann, Neues vom Gehirn (Telepolis): Essays zu Erkenntnissen der Neurobiologie, 2017, Kindle Edition, Pos. 62

[17] Konrad Lehmann, Neues vom Gehirn (Telepolis): Essays zu Erkenntnissen der Neurobiologie, 2017, Kindle Edition, Pos. 104

[18] Kerstin Uvnäs Moberg, Oxytocin, das Hormon der Nähe, Kindle Edition 2016, Pos. 375.

[19] Allerdings weist Kerstin Uvnäs Moberg darauf hin, dass es nach wie vor, wenn es um die Analyse menschlicher Beziehungen geht, starke Widerstände gegen biologische Modelle gibt. Sie schreibt weiter: “Dennoch zeigen die Ergebnisse der modernen neurobiologischen Forschung immer deutlicher, dass biologische Mechanismen die Art und Weise, wie wir handeln und unsere Beziehungen zu anderen Menschen gestalten, entscheidend beeinflussen. Vgl. Kerstin Uvnäs Moberg, Oxytocin, das Hormon der Nähe, Kindle Edition 2016, Pos. 540

[20] David G. Myers, Psychologie, 3. Aufl. 2014, S. 56.

[21] Die Abgrenzung der verschiedenen Wissenschaftszweige ist mir nicht klar, für meine hier verfolgte Darstellung aber auch nicht relevant. Zur Einordnung der Biologische Psychologie siehe Rainer Schandry, Biologische Psychologie, in: Lexikon der Psychologie, Spektrum.de, 2000.

[22] Gerhard Roth und Nicole Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, Kindle-Edition, 2015, Pos. 669.

[23] Vgl. Rainer Schandry, Biologische Psychologie, 4. überarbeitete Aufl. 2016, S. 46. Siehe ebd. und ff ausführlich zu den Bausteinen des Nervensystems.

[24] David G. Myers, Psychologie, 3. Aufl. 2014, S. 57. Vgl. dort und die folgenden Seiten zur Einführung in die neuronale Kommunikation.

[25] Kerstin Uvnäs Moberg, Oxytocin, das Hormon der Nähe, Kindle Edition 2016, Pos. 707. Ausführlich dazu David G. Myers, Psychologie, 3. Aufl. 2014, S. 56 ff.

[26] Niels Birbaumer u. Jörg Zittlau, Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst: Neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung Kindle Edition 2014, Pos. 318.

[27] Gerhard Roth und Nicole Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, Kindle-Edition, 2015, Pos. 6182 f.

[28] Niels Birbaumer u. Jörg Zittlau, Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst: Neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung Kindle Edition 2014, Pos. 341.

[29] Niels Birbaumer u. Jörg Zittlau, Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst: Neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung Kindle Edition 2014, Pos. 349.

[30] Gerhard Roth und Nicole Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, Kindle-Edition, 2015, Pos. 3936.

[31] Unter Epigenetik versteht Spektrum der Wissenschaft “molekulare Mechanismen, die zu einem stärkeren oder schwächeren Ablesen von Genen führen, ohne dass die dort gespeicherte Information verändert wird. Dabei markieren Enzyme bestimmte Abschnitte der DNA. Der Eingriff betrifft nicht die Nukleotidsequenz des DNA-Strangs, sondern spielt sich "oberhalb" von ihr ab – daher die Bezeichnung Epigenetik (von griechisch: epi = über).“ ohne Verfasser, Epigenetik, ohne Datum. Siehe dort auch die Verweise mit weiteren Erklärungen.

[32] Gerhard Roth und Nicole Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, Kindle-Edition, 2015, Pos. 309.

[33] Vgl. Rainer Schandry, Biologische Psychologie, 4. überarbeitete Aufl. 2016, S. 44.

[34] Gerhard Roth und Nicole Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, Kindle-Edition, 2015, Pos. 2987 ff.

[35] Gerhard Roth und Nicole Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, Kindle-Edition, 2015, Pos. 2990. Hier wird übrigens deutlich, dass das Gesetz der Nichtvererbbarkeit erworbener Eigenschaften nicht ganz hält. Manche sagen sogar, dass die zu Recht sehr umstrittene These Lamarcks von der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften ein wenig rehabilitiert werde. Siehe dazu auch Volker Henn, Epigenetik: Lamarck hatte (teilweise) recht, o. Jg. Wissenschau.de.

[36] Gerhard Roth und Nicole Strüber, Wie das Gehirn die Seele macht, Kindle-Edition, 2015, Pos. 3150.

[37] Ich kann das hier nicht vertiefen, empfehle aber Interessierten das Buch von Bernhard Kegel Epigenetik: Wie unsere Erfahrungen vererbt werden, 2015.

[38] Martin Melchers, Neurobiologische Grundlagen interindividueller Unterschiede in Empathie, Bonn 2016, S. 29. Siehe dort 29 ff. auch zur Vertiefung.

[39] Martin Melchers, Neurobiologische Grundlagen interindividueller Unterschiede in Empathie, Bonn 2016, S. 29 f.

[40] Martin Melchers, Neurobiologische Grundlagen interindividueller Unterschiede in Empathie, Bonn 2016, S. 29 f.

[41] Gerhard Roth, Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, 12. Auflage 2017, S. 396.

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