Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie (13): Emergenz und komplexe Systeme

by Dirk Elsner on 5. Oktober 2016

Im Mittelpunkt dieser Beitragsreihe steht nicht die Kritik am neoklassischen ökonomischen Paradigma (und seinem politischen Pendant des Neoliberalismus), sondern seine Ablösung als theoretischer Rahmen[1] durch die moderne Evolutionstheorie in der Ausprägung der Multilevel-Selektionstheorie (MLS).

clip_image002

Mich begeistern derzeit die bisher bei der Lektüre der verschiedenen Texte gewonnenen Erkenntnisse derart, dass ich versuche sie in dieser Beitragsreihe zu strukturieren.

Die MLS hat eine außergewöhnliche Bandbreite von Anwendungen in der Biologie gefunden und fängt an auf den Radarschirmen der Sozial- und Verhaltenswissenschaften zu erscheinen.[2] Die MLS erklärt die Welt nicht neu. Sie entwirft aber einen neurobiologisch (siehe dazu die letzten drei Beiträge) fundierten Rahmen für zahlreiche Anwendungsbereiche. Sie könnte damit auch der Ökonomie ein wesentlich stabileres Fundament bieten als das bisher verwendete simple Modell, das auf ein paar Annahmen ruht, von denen die meisten längst als empirisch widerlegt sind.

Bisher erschienen in dieser Reihe “Moderne Evolutionstheorie schlägt Ökonomie”

Betrachte ich mit diesem Rahmen die Wirtschaftspraxis, dann erklären sich damit viele Verhaltensweisen besser und genauer als mit Hilfe herkömmlicher ökonomischer Modelle.

Daneben stellt die MLS die aus der neoklassischen Wirtschaftstheorie geförderte Kultur in Frage, die die soziale Verantwortung im Zusammenhang mit der Verwaltung eines modernen Unternehmens ignoriert und eine Ethik des gierigen Materialismus fördert, in der Anreize nur über persönliche finanzielle Belohnung gesetzt werden und menschliche Charaktereigenschaften wie Ehrlichkeit und Anstand eine untergeordnete Rolle spielen.[3]

Neoklassik ist kein Naturgesetz

Die Ökonomie formuliert kein Naturgesetz, sondern bestenfalls eine interkulturelle Vereinbarung von Fachleuten, Politikern und Interessenvertretern. Gebremst wird das längst überfällige Verschwinden des neoklassischen Paradigmas vor allem durch den Konsens “renommierter” Neoklassiker gegen neue Erkenntnisse. Noch zu viele traditionell orientierte Ökonomen halten am gelernten Paradigma fest und beeinflussen wichtige Schaltstellen der Scientific Community wie Fachzeitschriften, Besetzung von Lehrstellen, Forschungsanträge und mehr. Zur Beruhigung der Neoklassik-Fans sei hier aber noch einmal gesagt, dass mit der Ablösung des Paradigmas m. E. viele ökonomische Erkenntnisse nicht zwingend überflüssig sind, sondern sich als Spezialfall interpretieren lassen.

Klar ist, dass Kooperation genauso wie Opportunismus und Betrug zentrale Verhaltensoptionen für alle sozialen Spezies sind.[4] Aber ohne den Rückgriff auf biologischer Grundlagen lassen sich viele wirtschaftspraktische Phänomene nur unzureichend oder mit Verhaltensanomalien erklären. So ist etwa die Idee des nutzenmaximierenden Individuums (eine zentrale Annahme der Ökonomie) mit dem evolutionären Rahmen nicht vereinbar.[5] Akzeptiert man dies, dann ist auch die Verwendung von Begriffen fragwürdig wie “Verhaltensanomalien” oder “kognitive Verzerrungen”, wie sie die Verhaltensökonomik (Behavioural Economics) gern verwendet[6]. Wir brauchen also ein Paradigma, das nicht von Anomalien spricht (also beobachtetes Verhalten außerhalb des ökonomischen Modell sieht), sondern diese beinhaltet (also das ökonomische Modell ausweitet).[7]

Methodologischer Individualismus ist unzureichend

Ein weiterer wesentlicher Unterschied der neoklassischen Ökonomie zum evolutionsbiologischen Modell liegt in der Verwendung des methodologischen Individualismus, der für Ökonomen eine wichtige Untersuchungsbasis darstellt. Grob verkürzt analysieren vielen Ökonomen und auch die in meiner ökonomischen Denke bisher favorisierte Neue Institutionenökonomik die verschiedensten Institutionen der Wirtschaftspraxis aus dem Blickwinkel des methodologischen Individualismus. Das bedeutet, von Menschen erdachte soziale Gebilde wie Unternehmen oder Staaten werden nicht als eigenständig betrachtet, sondern aus der Perspektive des einzelnen in ihnen handelnden Individuen untersucht. Das Handeln einer Organisation oder eines Kollektivs als solches kann nicht die Hauptursache für etwas sein. Vielmehr müsse eine Theorie sozialer Erscheinungen mit ihren Erklärungen bei den Ansichten und Verhaltensformen der Einzelpersonen ansetzen, deren Handlungen die zu untersuchenden Erscheinungen überhaupt erst entstehen lassen.[8]

Ich habe das bisher grundsätzlich für einen richtigen Ansatz gehalten. Allerdings wird dabei auf die Ziele des Individuums abgestellt ohne zu berücksichtigen, dass seine Ziele sehr stark von der sozialen Interaktion beeinflusst werden. Und daneben kommt ein weiterer Angriff auf den methodologischen Individualismus durch die Theorie komplexer Systeme.

Emergenz und die Theorie komplexer Systeme

In den bisherigen Beiträgen habe ich einen Aspekt der neuen Denkrichtung bisher ausgeklammert, nämlich die Komplexitätstheorie oder besser die Theorie komplexer Systeme. Sandra Mitchell hat in ihrem herausragenden Buch über Komplexität (Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen, Frankfurt 2008.) geschrieben, dass niemand heute mehr allein in der Lage ist, komplexe Systeme und Sachverhalte – und dazu rechne ich die praktische Ökonomie – zu besetzen. Mitchell schreibt:

“Komplexe Systeme entziehen sich einfachen Untersuchungsmethoden und einer einfachen Logik der Schlussfolgerungen. … In Wirklichkeit hat unsere Welt viele Formen und Größen, und ihre Strukturen unterscheiden sich im Ausmaß ihrer Stabilität, so dass sich mehr oder weniger kontingente Wahrheiten ergeben, die wir kennen und im Sinne unserer Ziele und Bestrebungen nutzen können.”

Insbesondere die Autoren auf Evonomics bzw. die Teilnehmer an einem offenbar sehr fruchtbaren Treffen des “Ernst Strungmann Forums” im Februar 2015” sehen die neue Fundierung der ökonomischen Theorie auf einer Kombination aus Komplexitäts- und Evolutionstheorie[9]. David Sloan Wilson bezeichnet diese Überlegungen in einem Gespräch mit Eric Beinhocker als noch nicht abgeschlossen.

“One barrier to creating a new foundation for economics is that the integration of complexity theory and evolutionary theory is still a work in progress. This is something that I have long known and was evident during the Ernst Strungmann Forum.”[10]

Abgrenzung: kompliziert und komplex

(Working Paper von Mirko Slavik, Komplexe System)

“Im bisherigen technischen Denken wurden und werden die Begriffe komplex und kompliziert meistens als gleichwertig betrachtet. In den Naturwissenschaften jedoch hat sich in den letzten Jahrzehnten offensichtlich ein Paradigmenwechsel vollzogen, was die Interpretation der Komplexität von künstlichen und natürlichen Systemen betrifft. Im Ergebnis dessen steht eine klare Trennung in der Benutzung der Termini "komplex" und "kompliziert".

Ein kompliziertes System erscheint in seinem Gesamtbild verworren, kann jedoch mittels Aufschlüsselung in kleinere, überschaubare Teile relativ einfach dechiffriert werden. Hingegen hat ein komplexes System Merkmale, die seine Einzelteile ursächlich nicht in sich selbst tragen müssen. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Bestandteile. Derartige Phänomene versucht man in der zeitgenössischen Wissenschaft mit dem Begriff der Emergenz … zu erfassen. Es wird deshalb auch von den emergenten Merkmalen (emergent property) eines komplexen Systems gesprochen.

Ich habe in meinem Blog in den vergangenen Jahren in verschiedensten Beiträgen das Thema Komplexität aufgegriffen:

 

Auf das Denken in Emergenzen stößt man beispielsweise bei der Lektüre von David Brooks “Das soziale Tier”. Brooks steigt in das Thema “Emergenz” mit einer Kritik am Reduktionismus ein. Dem Reduktionismus liegt die Annahme zugrunde, dass wir glauben, große und komplexe Probleme leichter begreifen und erklären zu können, sobald wir die Teile verstanden haben. Daher, so Brooks, versuchen wir große Zusammenhänge in ihre Bestandteile zu zerlegen und diese dann zu verstehen. Brooks schreibt:

“Diese Sichtweise verleitet Menschen zu dem Glauben, sie könnten ein Problem verstehen, indem sie es in seine Einzelteile zerlegen. Sie könnten die Persönlichkeit eines Menschen verstehen, wenn sie nur alle seine genetischen und umweltbeeinflussten Eigenschaften herauspräparieren und untersuchen würden.”[11]

Die Schwäche dieser Art des Denkens liegt darin, “dass sie dynamische Komplexität, die das zentrale Merkmal jedes Menschen, jeder Kultur und jeder Gesellschaft ist, kaum erklären kann.”[12] Das ist schon einmal eine wichtige Erkenntnis, die man durchaus auf Finanzmärkte und ökonomische Systeme übertragen kann. Auch hier glauben wir, man könne die Aktivitäten auf den Finanzmärkten mit einfachen Modellen in Teilprobleme zerlegen.

In anderen Wissenschaftszweigen hat man dieses Defizit erkannt und der Struktur emergenter Systeme größere Beachtung geschenkt.Brooks erklärt das wie folgt:

“Emergente Systeme liegen vor, wenn verschiedene Elemente zusammenkommen und ein Ganzes bilden, das größer ist als die Summe seiner Teile. Oder, um es anders auszudrücken, die Bestandteile eines Systems beeinflussen sich gegenseitig und aus ihrer Interaktion geht etwas völlig Neues hervor. So kann es zum Beispiel passieren, dass solche an sich harmlosen Dinge wie Luft und Wasser aufeinandertreffen und, aufgrund eines bestimmten Interaktionsmusters, ein Hurrikan entsteht. Laute und Silben kommen zusammen und erzeugen eine Geschichte, die eine emotionale Wucht hat, welche nicht auf ihre Bestandteile zurückgeführt werden kann.

Emergente Systeme haben keinen zentralen Steuerungsmechanismus. Vielmehr ist es so, dass ein bestimmtes Interaktionsmuster, sobald es sich herausgebildet hat, das Verhalten der Bestandteile beeinflusst.”[13]

Er erläutert dies dann plastisch am Beispiel einer Ameisenkolonie, die sich komplett neu organisieren kann, wenn sich das Wissen eines einzelnen Mitglieds ändert, etwa weil es auf eine neue Nahrungsquelle gestoßen ist. Sie ändert dann nämlich ihre Richtung, was von anderen Ameisen registriert wird, die sich dann ebenfalls anpassen und ihre Richtung ändern, ohne alle Informationen der ersten Ameise zu haben. Immer mehr Ameisen folgen schließlich der Richtungsänderung. Brooks zitiert dazu Steven Johnson: “Lokale Information kann zu globalem Wissen führen.”

Brooks zählt in der Folge diverse Beispiele für emergente Systeme auf: Das Gehirn, Kulturen, die Ehe oder Armut. Wichtig ist, dass die Eigenschaften eines emergenten Systems nicht bzw. nicht vollständig auf die Eigenschaften der Bestandteile zurückgeführt werden können, wenn man diese isoliert betrachtet. Brooks nennt weitere Beispiele für emergente Systeme[14]:

  • das Gehirn
  • die Ehe
  • Kulturen
  • Armut
  • menschliches Verhalten

Die Existenz emergenter Eigenschaften widerspricht damit dem methodologischen Individualismus, weil “das Ganze etwas anderes ist als die Summe seiner Teile“, wobei dieses „Andere“ eben diese emergenten Eigenschaften sind.[15]

Das Problem mit der Emergenz besteht nach David Brooks darin, “dass es in emergenten Systemen sehr schwierig ist, die »eigentliche Ursache« eines

Problems aufzuspüren.”[16] Vielleicht glauben vielen Menschen deswegen einfachen und deterministischen Welterklärungen.

Rob Atkinson hat in einem Beitrag auf Evonomics noch einmal auf die Notwendigkeit der Verwendung von Komplexität hingewiesen[17], wenn man ein neues ökonomisches Paradigma bauen will:

“If we are to develop such an economic doctrine to guide the current socio-technical economic system, then complexity will need to play a foundational role. But a risk of going down the complexity path is that proponents may substitute one ideology for another. If today’s policy makers believe that economic systems are relatively simple and that policies generate only first-order effects, policymakers who have embraced complexity may believe that second, third, and fourth order effects are rampant. In other words, the butterfly in Mexico can set off a tornado in Texas. If things are this complex, we are better off following Hayek’s advice to intervene as little as possible. At least with a mechanist view, policymakers felt they could do something and perhaps they got it right. Hayekian complexity risks leading to inaction.”

Ob es gelingt, die moderne Evolutionstheorie in der MLS-Variante mit einer Theorie komplexer Systeme zu vereinen, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob dies wirklich für eine finale Attacke gegen die neoklassische Ökonomie notwendig ist. Meines Erachtens bietet MLS zusammen mit den neurobiologischen Grundlagen schon jetzt ausreichend Erklärungsansätze für ein neues ökonomisches Verhaltensmodell. Man darf halt nicht den Fehler machen, einfach deterministische Erklärungen zu erwarten.


[1] Vgl. dazu David Sloan Wilson und John M. Gowdy, Evolution as a general theoretical framework for economics and public policy, in: in Journal of Economic Behavior & Organization 90. Jg. (2013), S. 3 – 10.

[2] Vgl. David Sloan Wilson, Why Groups Fail (Hint: For the Same Reasons that Nations Fail), auf Evonomics am 14.8.2016.

[3] So hart formulieren es Herbert Gintis und Rakesh Khurana in: What Happened When Homo Economicus Entered Business School, auf Evonomics am 14.7.2016

[4] David Sloan Wilson, The Death of the Invisible Hand: Why the Narrow Pursuit of Self Interest Always Fails, auf Evonomics am 6.9.2016.

[5] Vgl. Geoffrey Hodgson, Imagine Economics as an Evolutionary Science, auf Evonomics am 20.09.2016

[6] Das ist keine generelle Kritik an den Behavioural Economics. Dieser Zweig der Ökonomie hat in den letzten Jahren m. E. wesentliche Belege geliefert, die die Neoklassik widerlegen.

[7] Vgl. auch Jason Collins, Please, not another bias! An evolutionary take on behavioural economic, auf Evolving Economics am 30.7.2015.

[8] R. Richter u. E. Furubotn, Neue Institutionenökonomik, Tübingen 1996, S. 3.

[9] Die Ergebnisse dieser Tagung sind dokumentiert in Evolution and Complexity: Toward a New Synthesis for Economics, Published byMIT Press Hardcover ISBN:9780262035385 eBook ISBN: 9780262337700 und auch auf dieser Webseite.

[10] Gespräch zwischen David Sloan Wilson and Eric Beinhocker, dokumentiert in: The Radical Remaking of Economics, auf Evonomics am 29.9.2016.

[11] David Brooks, Das soziale Tier, 2012, Kindle Edition Pos. 2.540.

[12] David Brooks, Das soziale Tier, 2012, Kindle Edition Pos. 2.549.

[13] David Brooks, Das soziale Tier, 2012, Kindle Edition Pos. 2.549.

[14] David Brooks, Das soziale Tier, 2012, Kindle Edition Pos. 2.549 ff.

[15] Vgl. Regina Schwegler, Moralisches Handeln von Unternehmen, 2009, S. 56 f.

[16] David Brooks, Das soziale Tier, 2012, Kindle Edition Pos. 2.622.

[17] Rob Atkinson, Complexity and Evolution Need to Play a Foundational Role in the Next Economic Paradigm, auf Evonomics am 1.10.2016

Previous post:

Next post: