Ökonomen-Blogparade zur Ungleichheit: Ist Fairness nur für Muppets? (Teil 1)

by Dirk Elsner on 27. Februar 2013

Stephan Ewald hat Ende Januar dem Wirtschaftsphilosophen für die Wiwi-Blogparade als Thema “Ist ökonomische Ungleichheit ein (Haupt?)Grund für die ökonomische Krise” vorgeschlagen. In der vorgeschlagenen Form war mir die Debatte zu makroökonomisch und abstrakt. Außerdem sollte man zunächst beantworten, welche Ungleichheit eigentlich gemeint ist[1]. Ich konnte und wollte mich den vieldiskutierten Ursachen und Folgen der Ungleichheit nicht in einer Form nähern, die es schon gegeben hat und war kurz davor die Blogparade zu überspringen.

The Divide Between Rich and Poor in the Developed World is Opening Up Fast The Divide Between Rich and Poor in the Developed World (Foto: Flickr/David Blackwell, Lizenz CC BY-ND 2.0 )

Das Thema hat mich dennoch inspiriert über eine bestimmte Form der Ungleichheit nachzudenken, nämlich darüber, wie wir in unser Gesellschaft durch kleine oder große Regelverstöße für Ungleichbehandlung und dadurch für Umverteilung sorgen. Das ist zwar ebenfalls nicht neu, hilft mir aber ein paar Gedanken zu sortieren, die mir schon länger durch den Kopf gehen. Es geht dabei in diesem und zwei Folgebeiträgen um durch individuelles Verhalten verursachte Ungleichheit. Um zu verdeutlichen, was ich damit meine, starte ich gleich mit einem Beispiel, das viele Leser kennen dürften und von Zeitumverteilung handelt. Die Bezeichnung “Muppets” geht bekanntlich auf Greg Smith und Goldman Sachs zurück. Nach Angaben von Smith sollen Direktoren der Investmentbank Kunden als Muppets bezeichnet haben, weil die Kunden bestimmte Geschäfte nicht durchschauen und deswegen zu viel Geld zahlen.

Staumogler als Symbol für das Verhalten in der Wirtschaft

Wenn ich auf einer Autobahn im Stau stehe, ärgere ich mich über die Fahrer, die sich auf der Standspur rechts an der Schlange vorbeimogeln, um sich wahlweise über einen Rastplatz oder eine Ausfahrt weiter nach vorn zu schummeln. Manche dieser Fahrer halten sich trotz des Regelverstoßes für clever, einige jubeln gar innerlich und manchmal sichtbar über die “Muppets”, die sich an die Regeln halten und brav auf der regulären Fahrbahn warten (siehe auch diesen Thread im Verkehrsforum). Von einem Polizisten habe ich einmal gehört, dass die von der Polizei gestoppten Regelbrecher selten um eine Begründung verlegen sind. Einige versuchen also ihren Regelstoß mit Gründen zu rechtfertigen, an die manche sogar selbst glauben[2].

Jeder Staumogler kommt deutlich schneller am Stau vorbei und jeder sich an die Regeln haltende Fahrer benötigt für den ersten Schummler nur ein kaum messbares Quäntchen mehr Zeit. Im Ergebnis wird durch das unfaire Verhalten Zeit umverteilt. Mit der Anzahl der Regelbrecher verlängert sich freilich jeweils die Wartezeit der sich kooperativ verhaltenden Fahrer. Kommen immer mehr Rowdys auf die gleiche Idee, dann verringern sich auch deren Zeitersparnisse. Das kann so weit gehen, dass viele Mogler auf der Standspur genauso lange warten, wie auf der normalen Fahrbahn. Im Klartext: Mit Anzahl der Fahrer, die gegen die Regeln verstoßen, nimmt ihr Vorteil aus dem Verhaltensdefekt ab.

Derartige Defekte sind freilich nicht auf den Straßenverkehr beschränkt, sondern in allen Bereichen des Lebens zu beobachten. In der Abwandlung der Staumogler gibt es Milliarden Beispiele, wie sich Menschen durch Unfairness persönliche Vorteile verschaffen und damit für Umverteilung sorgen. Manchmal nennen wir dieses Verhalten verharmlosend Dreistigkeit, eine Eigenschaft über die 1live kürzlich einen Themenvormittag gestaltete und fragte “Kommt dreist weiter?”. Das reicht vom Vergessen der Rückzahlung von Schulden, über die Vortäuschung eines Livegesangs, dem Schmücken mit fremden Federn im Büro, dem unfairen Ausbooten von Wettbewerbern, dem Auspressen von Geschäftspartner oder dem Ausnehmen schwächerer Staaten. In allen Fällen werden Ressourcen mit als “unfair” angesehenen Mitteln umverteilt.

Breite Graubereiche in der Wirtschaftspraxis

Unsere Alltags- und Wirtschaftspraxis ist aber nicht so einfach, wie der Fall der Staumogler. Engel und Teufel lassen sich nicht so einfach unterscheiden, sondern bewegen sich über einen breiten Graubereich.

Unter fairem Verhalten verstehe ich “regelkonformes” Verhalten innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft[3]. Hier soll offen bleiben, was genau mit “regelkonform” gemeint ist. In jedem Fall geht es nicht nur um in Gesetzen geregelte Normen, sondern auch darum, was diese Gemeinschaft unter fair versteht. Über ein Beispiel “regelkonformen” aber als unfair empfundenen Verhaltens hatte ich in der CFO World geschrieben. Vor einiger Zeit philosophierte ich mit einem alt eingesessenen Mittelständler über das Verhalten seiner Kunden und Lieferanten. Er bedauerte, dass man sich im Geschäftsleben immer weniger auf seine Geschäftspartner verlassen könne und das gesprochene Wort kaum noch gelte. Immer mehr würden mit offenen und versteckten Tricks gearbeitet werden. So würden etwa stärkere Unternehmen ihre besseren Verhandlungspositionen (man könnte auch sagen ihre Macht) zunehmend zum eigenen Vorteil ausnutzen. Als Beispiel nannte er einen großen und für ihn wichtigen Kunden, der seine Zahlungsmodalitäten umgestellt hatte. Statt bisher 15 Tage nach Eingang der Rechnung zu zahlen, hatten bei diesem Kunden findige Controller den Vorschlag gemacht, nur noch 4 Zahltermine für Lieferanten pro Jahr durchzuführen[4]. Der mittelständische Maschinenbauer hatte letztlich nur die Wahl, sich entweder auf diese Bedingungen einzulassen oder auf diesen Kunden zu verzichten.

Zwar verurteilen wir unfaires Verhalten in immer neuen Empörungswellen[5]. Dennoch ist die kleine und große Täuschung, der versteckte oder offene moral hazard zur Normalität unseres Wirtschafts- und Wertesystem geworden. Bewegt sich unfaires Verhalten innerhalb kodifizierter Normen, wird es manchmal sogar bewundert.

Betrachtet man dieses Verhalten etwas abstrakter, dann ist es dadurch gekennzeichnet, dass sich Personen, Unternehmen oder Institutionen durch eine vorsätzliche und kalkulierte Überschreitung dessen, was wir als “anständiges Verhalten” ansehen, persönliche Vorteile verschaffen. Vorsätzlich, weil den Personen bewusst ist, dass sie gegen im Sinne “guten Verhaltens” ungeschriebene Regeln verstoßen. Kalkuliert, weil die Regelbrecher nicht oder nur mit geringen Sanktionen rechnen. Ökonomisch könnte man sagen, die persönlichen Kosten aus erwarteten finanziellen (ggf. strafrechtlichen) oder gesellschaftlichen Sanktionen sind geringer als der persönliche Nutzen aus dem Regelverstoß. Solche Regelverstöße verursachen Ungleichheit in Form von Umverteilung zu Lasten der die Regeln (im Sinne “anständigen Verhaltens”) befolgende Teils der Menschen.

Anreiz für Regelverstöße ist größer geworden

Wer vom lieben Gott mit mehr Hirn gesegnet sei als üblich, zitierte die FAZ den Amazon Gründer Jeff Bezos, habe im Leben die Wahl: seine Cleverness auszuspielen auf Kosten anderer oder seinen Nächsten zu lieben. Ein bestimmter Teil an Personen kalkuliert auch diese Form der Unfairness innerhalb seines privaten oder wirtschaftlichen Umfelds stets mit ein. Im Sinne der Logik kollektiven Handelns nach Mancur Olson soll dabei der Anreiz für Regelverstöße abhängig von der Größe der Gruppe sein. Ich würde es allerdings allgemeiner und freier nach Olson formulieren. Je intransparenter die Folgen des persönlichen Handelns in einer Gruppe oder in einem Netzwerk sind, desto größer ist der Anreiz für einzelne Gruppenmitglieder, sich opportunistisch zu verhalten.

Fortsetzungen folgt

Ich habe für das Thema etwas weiter ausgeholt. Der nächste Beitrag beschäftigt sich mit dem Mythos der Neoklassik. Dieses ökonomische Theoriegebäude dient, so eine häufige Aussage, als Fundament neoliberaler Ideologie(n). Diese wiederum tragen maßgeblich dazu bei, bestimmte zur Ungleichverteilung führende Verhaltensformen theoretisch zu rechtfertigen und einen entsprechenden Normenrahmen dafür zu konstruieren.


[1] Eigentlich müsste man hier zunächst einschieben, welche Ungleichheit gemeint ist und welcher “Gerechtigkeitsansatz” diesem zu Grunde liegt. Siehe dazu z.B. im Detail dieses Arbeitspapier der Uni Frankfurt “Ökonomische Ungleichheit und ihre Messung

[2] Das ist übrigens vergleichbar mit dem Reklamieren eines Spielers gegen die Schiedsrichterentscheidungen. Der Habitus ist in jedem Spiel gleich. Kaum ein Pfiff bleibt unreklamiert. Die meisten Reklamationen der verwarnten Spieler, das zeigen die Zeitlupen, sind dabei unberechtigt.

[3] Eine solche Gemeinschaft kann eine Arbeitsgruppe in einem Unternehmen sein, ein ganzes Unternehmen, eine Region, eine Gruppe von Kunden, ein Land und natürlich auch eine Familie.

[4] Der Nachteil liegt auf der Hand. Statt bisher jeweils nach, wenn man sich vorstellt, dass jede Woche Leistungen für 100.000 Euro erbracht werden. Bei Zahlung nach 14 Tagen gehen jede Woche 100.000 auf dem Konto ein, bei der quartalsweisen Zahlung 1,3 Mio. pro Quartal und zwar nach Lieferung. Dem Lieferanten entsteht dadurch eine hohe Liquiditätslücke, die er finanzieren muss. Außerdem trägt er ein höheres Ausfallrisiko.

[5] Gern rauschen diese Empörungswellen auch durch das Netz. Ein aktueller Fall ist Amazon, siehe dazu auch den Beitrag des European “Das Märchen vom bösen Online-Giganten”)

Eric Schreyer Februar 27, 2013 um 21:12 Uhr

Hallo Dirk,

ich hatte heute einen regen Gedankenaustausch mit Lothar Lochmaier. Seine Frau hat ein interessantes Buch veröffentlicht: „Die Sprache des Geldes: Finanzmarktengagement zwischen Klassenlage und Lebensstil“.

http://www.amazon.de/Die-Sprache-Geldes-Finanzmarktengagement-Klassenlage/dp/product-description/3531182064

Jedenfalls lese ich das mal die nächsten Tage durch.

Andreas Buschmeier Februar 27, 2013 um 09:47 Uhr

Zum Thema „Fairness“ habe ich gestern einen sehr interessanten Artikel getweetet.
Dort wird herausgestellt, dass es insbesondere von der jeweiligen Gesellschaft/Kultur abhängt, was als fair betrachtet wird. Und die vornehmlich untersuchten westlichen Gesellschaften scheinen nicht die Regel darzustellen:

„Very interesting! Social sciences, psychology & behavioral economics: We Aren’t the World http://t.co/W53OtrRopD

Dirk Elsner Februar 27, 2013 um 20:35 Uhr

Das würde ich voll unterschreiben. Es gibt wahrscheinlich keine objektiv herleitbare Fairness, sondern fair ist das, was eine jeweilige Gruppe als fair ansieht. Da komme ich noch in einem Folgebeitrag zu.

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