Ist Fairness nur für Muppets (Teil 6)? Verhaltenstypen und Mimikry-Normen

by Dirk Elsner on 17. Juni 2013

Über die Sünde der Habgier wurden Tausende von Büchern geschrieben, dennoch greift diese Gier alle paar Jahre in einer selbstzerstörerischen Weise um sich.” (David Brooks)[1]

Kochs (Shady)

Kochs (Shady) (Foto: Truthout via Flickr)

Im Kern dieser Beitragsreihe, dessen fünfter Teil im April erschien, steht das “Muppet-Phänomen”. Damit ist in Anlehnung an einer Wordschöpfung gemeint, die auf Mitarbeiter der Investmentbank Goldman Sachs zurück geht[2], dass bestimmte Typen von Menschen gutmütige, vertrauensselige und vor allem schlechter informierte Personen, Unternehmen oder andere Institutionen durch „unfaire“ (nicht unbedingt illegale) Mittel übervorteilen und damit für “ungerechte” Umverteilung sorgen.

Dabei verschwimmen oft die Grenzen und sind nicht so eindeutig, wie das öffentliche Debatten gern zuspitzen. In unserer Welt gibt es nicht einfach schwarz und weiß, es dominieren viel mehr die. Manchmal kommen die “Puppenspieler” im edlen Zwirn und scheinbar tadellosem Ruf und nutzen gerade ihre Vertrauensposition aus. Manchmal sind es sogar diejenigen, die den Puppenspielern auf die Finger schauen sollen und die Puppenspieler selbst zu Muppets machen[3].

Panta rhei oder die Verhaltenstypen der Kooperation

 

Panta rhei, “Alles fließt”, soll einst der griechische Philosoph Heraklit gesagt haben. Die Grenzen der Fairness und des kooperativen Verhalten fließen ebenfalls zwischen den verschiedenen handelnden Typen in unserer heutigen Welt. Carsten Vogt schildert in der Einleitung seiner Dissertation vier Verhaltenstypen,[4] die ich passend für meine Überlegungen hier finde[5]:

  1. einen stark defektiven Typus,
  2. Mimikry-Typen, die Kooperation vortäuschen und dann die Kooperativen ausbeuten,
  3. einen (schwach oder bedingt) kooperativen Typus,
  4. einen unbedingt kooperativen Typ, der immer kooperiert, unabhängig vom Verhalten seiner Mitspieler.

Typ 1 hat weist dabei zwar Merkmale des “neoklassischen Agenten” auf, der stets in jeder Situation darauf achtet, seinen persönlichen Nutzen zu maximieren und dies rational durchkalkuliert. Dazu gehört aber auch Kooperationsbereitschaft, die hier aber nur dann zu finden ist, wenn dieser Typ einen Nutzen daraus ziehen kann. Er verhält sich außerdem opportunistisch im Sinne von Williamson[6].

Vogt führt im 2. Kapitel seiner Arbeit zahlreiche Studien an, die zeigen, dass sich Versuchspersonen in Dilemmaspielen, entgegen der Prognose der ökonomischen Standardtheorie, kooperativ verhalten. Er schreibt weiter: “Zwar schwankt das Ausmaß der beobachteten Kooperation, das qualitative Phänomen einer signifikant positiven Kooperationsbereitschaft konnte jedoch, trotz teils intensiver Bemühungen vor allem von ökonomischer Seite nicht zum Verschwinden gebracht werden.”[7]

Die Studien unterstreichen aber auch, dass es stets nicht kooperative Typen gibt. Interessant ist darunter der so genannte Mimikry-Typ[8] (= Typ 2), der Kooperation vortäuscht und dann die Kooperativen ausbeutet. Dazu könnte man z.B. auch Personen rechnen, die in der öffentlichen Darstellung eine hohe Glaubwürdigkeit genießen und in Bezug auf die Einhaltung von Regeln glaubhaft hohe Standards vertreten[9], gleichzeitig aber diese besondere Stellung auszunutzen verstehen.

Die Mimikry-Typen zeichnet ein Drang zur Heuchelei aus. Das, so definiert Robert Shiller, „ist eine spezifische Manifestation kognitiver Dissonanz, bei der ein Mensch Meinungen der Einfachheit halber übernimmt und irgendwann tatsächlich daran glaubt. … Kognitive Dissonanz ist ein Phänomen, das wirklich existiert und regelmäßig zu menschlichen Fehlleistungen führt – und manchmal eben auch zu Handlungen, die wir als fragwürdig bezeichnen.“[10] Shiller ist der Überzeugung, wenn Heuchelei fest im Gehirn verankert ist, dann ein Potenzial für menschliche Fehlleistungen vorliegt, das von enormer wirtschaftlicher Signifikanz sein kann[11].

In Typ 3 könnte man vielleicht auch den Modellmenschen des Homo Oeconomicus finden. Er ist schwach bzw. bedingt kooperativ, weil er sich an die vereinbarten Regeln hält. Unter Typ 4 könnte man vielleicht sogenannte “Gutmenschen”[12] eingruppieren.

Mimikry-Normen: Komplizierte Regeln erleichtern Verstöße

 

Ich habe im ersten Teil dieser bereits festgestellt, dass Regelverstöße Ungleichheit erzeugen. Das ist eine Binsenweisheit. Ich gehe daher noch einen Schritt weiter. Regelverstöße werden erleichtert durch möglichst komplizierte Regeln, die kaum einer versteht. Vielleicht wird sogar formale Konformität für eigene Regelverstöße dadurch zu erreichen versucht. dass etwa versucht wird, die Anpassung von Regeln im eigenen Interesse zu beeinflussen (vulgär nennt man das Lobbyarbeit[13]). In der wirtschaftspolitischen Praxis sind dazu außerökonomische, mehr oder weniger plausible Rechtfertigungen (z.B. “Systemrelevanz”, “freie Wirtschaftsordnung”[14]”, “Alternativlosigkeit”, “Erhalt von Leistungs- und Investitionsanreizen”)salonfähig geworden[15].

Ich weiß nicht, ob es einen Begriff für Normen gibt, die gegen das gesellschaftliche Fairness-Verständnis verstoßen, gleichwohl bestimmte unfaire Praktiken quasi juristisch legalisieren. Ich nenne sie Mimikry-Normen.

Der Begriff Mimikry stammt aus der Biologie und bezeichnet laut den Autoren der Wikipedia Verhaltensweisen, “woMimikry die Ähnlichkeit von Tieren einer bestimmtenArt mit denen einer zweiten Art bezeichnet, so dass Tiere einer dritten Art die beiden anderen Arten nicht sicher voneinander unterscheiden können und miteinander verwechseln.” Mimikry-Normen sind danach Rechtsvorschriften, die „vortäuschen“ im Recht zu sein.

Vorteilsnahmen durch Mimikry-Normen sind häufig versteckt und oft nur für Spezialisten erkennbar. Vergleichsweise bekannte Mimikry-Normen sind etwa die Ausnahmeregelungen für die Industrie von der Öko-Stromumlage[16]. Als Mimikry-Normen könnte man auch die impliziten Staatsgarantien für große Banken, die Haftungsbeschränkungen für Atomkraftwerksbetreiber[17] und tausende weiterer Regeln benennen, die für eine offene oder meist verdeckte Umverteilung sorgen. Aber man muss gar nicht auf die Big Shots schauen. Mimikry-Normen gibt es auch im Kleinen, etwa in Allgemeinen Geschäfts- oder Versicherungsbedingungen, die gern Risiken umverteilen zu Lasten der Kunden. Der Mimikry-Charakter viele Regeln lässt sich oft nur nach intensiver Analyse oder durch Spezialisten erkennen.

Zu den Mimikry-Normen rechne ich auch Regeln, die es erlauben, dass sich Institutionen trotz Regelbruchs von weiteren Strafen bzw. Prozessen „freikaufen“. Im Finanzsektor haben diese “Ablasszahlungen” an Aufsichtsbehörden (aktuell LIBOR-Skandal), Verstöße gegen Steuervorschriften und Geldwäsche die vor weiteren Untersuchungen schützen sollen, inflationäre Größenordnungen angenommen. Die Leittragenden dieser Regelverstöße (z.B. Kreditnehmer, deren Zins an den LIBOR gekoppelt ist) gehen dabei leer aus oder können nur unter Inkaufnahme hohen (Kosten-)Risiken ihre Rechtsansprüche durchsetzen[18].

Ungleichheit durch Regelverstöße und Mimikry-Normen

 

Teile der Gesellschaft fördern ein System der Ungleichheit, aus dem sich “moralische free rider” durch Regelverstöße oder über die Rechtfertigung durch Mimikry-Normen gut ernähren können. In Sonntagsreden und Talkshows wird für kulturellen Wandel, faires Miteinander und Einhaltung von Regeln gestritten. Im stillen Kämmerlein, wird aber das breite Publikum als “Muppets” verlacht, wenn es sich konformistisch an Regeln orientiert. “Faires Verhalten” wird so instrumentalisiert für den eigenen Regelbruch, durch den wiederum finanzielle Mittel und Macht in ihre Richtung umverteilt und die Ungleichheit verstärkt wird.

Im siebten Teil wird es um die Sehnsucht nach Fairness gehen und darum, was uns das Gefangenendilemma lehrt.

 


[1] Aus: David Brooks, Das soziale Tier, S. 198.

[2] Der ehemalige Goldman Sachs Mitarbeiter Greg Smitz hatte quasi sein Kündigungsschreiben auf der Meinungsseite der New York Times veröffentlicht. Er war der Bank moralischen Verfall vor. „Die Interessen der Kunden werden in der Art und Weise, wie die Gesellschaft wirtschaftet und über das Verdienen von Geld denkt, kontinuierlich zur Seite gestellt“, schrieb Greg Smith, der fast zwölf Jahre für Goldman arbeitete und zuletzt in London im Vertrieb von Derivaten tätig war. Leitende Angestellte hätten Kunden wiederholt als „Muppets“ tituliert, fasste die FAZ Passagen zusammen. Vgl. Norbert Kuhls, Manager wirft Goldman moralischen Verfall vor, FAZ Online am 14.3.12.

[3] Dabei denke ich vor allem an einen Skandal aus dem Medienbereich. Reporter der Nachrichtenagentur Bloomberg sollen ausgerechnet die Informationsterminals wichtige Händler einiger Wall Street Banken elektronisch beobachtet haben und dabei Informationen gewonnen haben, die sie für weitere Recherchen nutzen konnten. Vgl. Norbert Kuls in: Schnüffelaffäre um Datenanbieter Bloomberg, auf FAZ Online v. 12.5.13

[4] Kooperation im Gefangenen-Dilemma durch endogenes Lernen, VDM-Verlage, 2008, S.3. Vogel extrahiert diese Typen mit Blick in die experimentelle Literatur, die “in der Tat eindeutige Hinweise darauf gibt, dass reale Experimentalpopulationen äußerst heterogen sind. Menschen scheinen sich systematisch hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Verhaltensorientierungen zu unterscheiden. Während lange Zeit in der experimentellen Ökonomik eine ausschließlich aggregierte Betrachtung im Vordergrund stand zeigen neuere Studien, die sich explizit mit der Analyse von Individualverhalten beschäftigen, dass es insgesamt zwei bis drei Type gebe.”

[5] Mir ist dabei durchaus bewusst, dass die (Wirtschats-)Psychologie mit vielen anderen Menschenbildern bzw. Typengruppierungen arbeitet.

[6] Siehe dazu Teil dazu Dirk Elsner, Blick Log, Ist Fairness nur für Muppets (Teil 2): Mythos Neoklassik.

[7] Carsten Vogt, Kooperation im Gefangenen-Dilemma durch endogenes Lernen, VDM-Verlage, 2008, S. 7.

[8] In einem Forschungsprojekt der DFG zu den “Grenzen der Absischtlichkeit” heißt es: “In der So­zi­al­psy­cho­lo­gie gibt es ei­ne Rei­he von Stu­di­en, die zei­gen, dass Mi­mi­kry in so­zia­len In­ter­ak­tio­nen ei­nen we­sent­li­chen po­si­ti­ven Ein­fluss auf die Eta­blie­rung ge­mein­sa­mer Über­zeu­gun­gen, Wer­te und Ab­sich­ten hat (»Cha­mä­leon­ef­fekt«). Wäh­rend Mi­mi­kry ge­ne­rell mit po­si­ti­ven Kon­se­quen­zen (z.B. Un­ter­stüt­zung beim Auf­bau po­si­ti­ver Be­zie­hun­gen) ver­bun­den ist, kann sie auch ma­ni­pu­la­tiv zur Per­sua­si­on (Über­re­dung) von Per­so­nen ein­ge­setzt wer­den.”

[9] Als Beispiel mögen hier die ehemalige Bildungsministerin Annette Schawan und der Fußballmanager Uli Hoeneß dienen. Schawan giftet gegen den ehemaligen Verteidigungsminister zu Guttenberg und wurde später selbst des Plagiats beschuldigt und trat zurück. Ulli Hoeneß legte in seinen öffentlichen Äußerungen hohe moralische Maßstäbe an, die im Nachhinein durch seine Steueraffäre unglaubwürdig werden. Vgl. zum Fall Hoeneß WSJ v. 20.4.13.

[10] Robert Shiller, Märkte für Menschen, S. 223

[11] Shiller schreibt in seinem Buch (s. 223) über neurologische Nachweise, nach denen bestimmte Bereiche des Gehirns nachweislich angesprochen werden, wenn Menschen lügen. Probanden mit stärkerer Aktivität in bestimmten Hirnarealen sollen danach eine ausgeprägte Tendenz zeigen, ihre eigentlichen Überzeugungen zu verändern, damit sie mit denen übereinstimmen, die sie vertreten sollten.

[12] Ich will den Begriff des “Gutmenschen nicht überstrapazieren, weil ich ihn für ziemlich unscharf halten. Der Blog Scienesfiles versucht eine Definition, über die man vermutlich richtig streiten kann. Der Autor versteht darunter Individuen, die “ein Überzeugungssystem haben, auf dem sie den Glauben an bestimmte Dinge gründen … und das ist das Entscheidende für Gutmenschen, sie losmarschieren, um andere zum Heil zu bekehren. Das Kriterium, das den “Gutmenschen” ausmacht, ist somit sein missionarischer Eifer, der sich wiederum aus der eingebildeten Überlegenheit des eigenen Überzeugungssystems speist.” Vgl. ohne Verfasser, Sciencefiles, Wahnsinn mit Methode – Von den Ursachen des Gutmenschentums, auf Sciencefiles.org am 5.04.12.

[13] Anfang Februar hatte das Handelsblatt dazu in der Printausgabe vom 8.2. eine entsprechende Titelstory nach der eine Anwaltskanzlei einen Entwurf für die Aktienrechtsnovelle geschrieben haben soll, der den Squeeze-Out von Kleinaktionären erleichtert und damit deren Rechtsposition verschlechtert.

[14] Eine möglichst von staatlichen Einflüssen freie Wirtschaftsordnung wiederum kann aus der neoklassischen Wirtschaftstheorie abgeleitet werden.

[15] Siehe dazu auch Wolfram Bernhardt, Tina – Königin der Krise, auf Blick Log am 29.5.13

[16] Mit Hinweis auf Einschränkungen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit sieht das Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) Ausnahmeregelungen für energieintensive Unternehmen vor. Mittlerweile geht es bei den Ausnahmen um Milliardenbeträge, die mittlerweile auch die EU-Kommission auf den Plan gerufen haben. Vgl. auch Andreas Mihm und Hendrik Kafsack, EU-Kommission geht gegen Stromsubventionen vor, auf FAZ-Online a, 29.11.12

[17] Siehe dazu Dirk Elsner, Probleme der Kernkraft lässt sich ordnungspolitisch lösen: Versicherungspflicht für die “wahren Kosten” auf Blick Log v. 1.4.2011

[18] Schaut man auf die verschiedensten Verfahren der letzten Jahre, dann fällt auf, dass sich Banken immer wieder von durch Strafzahlungen vor weiteren Verfahren versuchen zu schützen. Vgl. z.B. Handelsblatt Online a. 21.9.2011: Die Ablasshändler. Siehe auch Peter J. Henning, In Bank Settlements, Fines but No Accountability, New York Times-Dealbook am 12.12.12. Eine Übersicht mit Artikeln zu verschiedensten Rechts- und Streitfällen gibt es im Blick Log.

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