Prognosen, falsche Sicherheit und die Delegation von Verantwortung auf “Experten”

by Dirk Elsner on 18. Mai 2010

Mehrfach hat der Blick Log in den letzten Monaten über die widersprüchlichen ökonomischen Prognosen geschrieben (siehe unten). Bei der Lektüre der Titelzeile auf FTD.de über den Euro kam mir spontan der Satz in den Sinn: „Experten“ sehen immer das voraus, was gerade passiert: Jetzt den „Run aus dem Euro

Und bei der Recherche zum Beitrag “Griechenland, Euro und die widersprüchlichen Expertenvorhersagen” ging mir die Frage nicht aus dem Kopf, warum trotz so unzureichender Expertenvoraussagen diese weiterhin so populär sind und darüber in einer Form geschrieben wird, die sie fast gegen Zweifel immunisiert.

Eine Vermutung ist, dass sie für Ordnung in unserem Hirn sorgen. Viele Menschen ergreift angesichts der aktuellen Wirtschaftssituation und der kaum noch nachvollziehbaren “Rettung der Eurozone” eine diffuse Furcht, wobei man natürlich auch fragen kann, ob diese Furcht nicht erst durch die schrille Berichterstattung ausgelöst wurde. Unser Hirn jedenfalls mag es nicht, wenn es die Auswirkungen von Aktivitäten auf unser Wohlbefinden nicht vorhersehen kann. Normalerweise nehmen wir Informationen aus unserer Umwelt auf und glauben zu wissen, was passiert bzw. wie können in unserem Alltagsleben ziemlich genaue Vorhersagen auch ohne wissenschaftliche Analyse treffen.

Aktuell gerät dieser Mechanismus gründlich durcheinander. Wir werden täglich überschüttet mit sich widersprechenden Informationen, von denen wir glauben, dass sie erhebliche und zwar negative Auswirkungen auf unser künftiges Wohlbefinden haben könnten. Und weil wir oft selbst nicht in der Lage sind, ein klares Urteil zu fällen, hängen wir uns gern an die Urteile anderen Menschen, am liebsten an diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer zu “Experten” erklärt werden.

So ähnlich formuliert es auch das Zukunftsinstitut von Matthias Horx in einem Arbeitspapier:

Menschen halten Unsicherheiten nur schwer aus. Deshalb ist die erste Funktion einer Prognose immer die der Orientierung: Mit einer (akzeptierten) Prognose wird Verhaltensunsicherheit beseitigt. Und zwar völlig unabhängig vom Wahrheits- und Plausibilitätsgehalt. Prognosen bilden erhaltensbarrieren, die Menschen zu Ordnungen befähigen.

Hier liegt der Grund, warum praktisch alle Kulturen die Funktion der Voraussage kennen und sie in spezifischen Kultursystemen bündeln: Schamanen, Weis-Sager, Propheten, oder Prognostiker in der modernen Kultur, sind Teil eines gesellschaftlichen Immunsystems (Peter Sloterdik).

Mit Prognosen rüstet und immunisiert sich die Kultur gegen allzu große Angst und Unsicherheit; sie strukturiert gleichzeitig ihr Binnenleben in Richtung auf Ziele und/oder Vermeidungsoptionen. Handlungs- und Moraldiskurse werden entlang von prognostischen Diskursen organisiert (z.B.  die „Klimakatastrophen“-Debatte).

Prognosen sind Produkte von mentalen und sozialen  Nachfragesystemen. Sie entstehen in ALLEN Kulturen – vormodernen und modernen – immer entlang eines mehrstufigen Filterprozesses mit folgenden Kategoriesystemen:

  • Autorität: Wer darf sprechen? (Bündelung von prognostischer Kompetenz)
  • Opportunität: Welche Aussage wird gewünscht oder gefürchtet und schließlich als
    Mehrheitsmeinung „zugelassen“? (mediale / kollektive Selektion).
  • Erwartung: Welche „Patterns of Expectation“ herrschen im rezipierenden System?
    („expectation bias“)
  • Relevanz: Wie hoch ist der „kognitive Reiz“ der Aussage? Wird sie als besonders und
    signifikant wahrgenommen. (Reiz / Reaktionsschema).

Folgen wir dem Luhmann´schen Gesellschaftsbild, besteht „Gesellschaft“ ausschließlich aus den Kommunikationen ihrer Mitglieder. Prognosen machen einen wichtigen, womöglich den tragenden Teil des gesellschaftlichen Kommunikationsbetriebes aus.

Der Bezug auf unsichere Prognosen hat aber noch eine weitere Konsequenz, nämlich die Delegation von Verantwortung. Trifft man heute eine Entscheidung, sei es im Unternehmen oder eine persönliche Anlageentscheidung, dann fällt die Rechtfertigung dafür einfacher, wenn man sich auf einen “renommierten Experten” oder eine wissenschaftliche Studie berufen kann.

Ein derartiger Bezug entlastet vermeintlich von der eigenen Verantwortung. Dabei sollte gerade bei ökonomischen Punktprognosen klar sein, dass man sich auf keinen Fachmann verlassen kann. Die letzten Jahre sollten mehr als deutlich gemacht haben, dass ökonomische Prognosen nicht oder besser nur zufällig funktionieren, denn natürlich existieren auch viele Prognosen, deren Vorhersagen tatsächlich eintreffen. Solche Prognosen sind aber nur zufällig richtig, denn zu jedem beliebigen Zeitpunkt findet man beliebige mehr oder weniger fundierte Vorhersagen für die nähere ökonomische Zukunft.

Ökonomische Vorhersagen können daher nicht von der Verantwortung eigener Entscheidungen entlasten. Sie können allenfalls als Fundament eines sachgerechten Risikomanagements dienen, wenn sie Anhaltspunkte über die Bandbreite möglicher künftiger Zustände und ihrer Wahrscheinlichkeit geben. Aber das wäre jetzt ein Thema für einen anderen Beitrag.

Ausgewählte Beiträge im Blick Log zu Prognosen und Experten

Robert Shiller über die Schwächen von Prognosen und fünf enttäuschende Jahre

Schwache Ökonomen und Finanzkrisen

Volker Pispers über Prognosen, Statistiken und Analysen

Vorhersagebörsen stellen Expertentum in Frage

Blasenbildung und Herdenverhalten beim Gold?

Wie man das Risiko in volkswirtschaftlichen Prognosen darstellen könnte

Zum Wettlauf der Negativprognosen: “Eindruck einer Panik”

Von der Penetranz der “Gurus” und dem Glück an der Börse

Über die Zukunft ökonomischer Vorhersagen

Weitere Beiträge über Prognosen

FAZ: Tücken der Konjunkturprognosen – Nur ein bisschen besser als Würfeln (28.3.10): Konjunkturprognosen gehören zu den schlechtesten Prognosen überhaupt: Die große Krise haben Wirtschaftsforscher nicht kommen sehen. Trotzdem haben sie ihre Modelle bisher kaum verbessert – weil sie sich schwer tun, irrationale Verhaltensweisen der Menschen einzubauen.

HB: Ernüchternde Studie: Warum Zinsprognosen nichts taugen (11.3.10): Nur selten gelingt es Finanzinstituten, die Entwicklung der Zinsen vorauszusagen. In einer aufwendigen Langzeitstudie haben Forscher jetzt untersucht, woran das eigentlich genau liegt. Dabei kommen sie zu einem ernüchternden Ergebnis. Link zur Studie (pdf, 20 Seiten)

HB: Nutzlose Prognosen: Die hohe Kunst des Weghörens (2.1.10): Alle Welt starrt auf Prognosen zur Konjunktur- und Börsenentwicklung – obwohl sie alle wenig taugen. Selbst richtige Prognosen sind mitunter nicht viel wert, dafür sorgen extreme Ereignisse wie die momentane Wirtschaftskrise. Warum sich es nicht lohnt, zuzuhören – selbst bei Forschern, die in der Vergangenheit richtig lagen.

Karsten W. Mai 18, 2010 um 23:32 Uhr

Wer sagt denn, dass Prognosen die Zukunft vorhersagen wollen? Oft genug wollen Prognosen aufzeigen, wie die Zukunft aussehen könnte, wenn diese und diese Umstände beibehalten werden/eintreten. Also eine Art Was-wäre-wenn Denken, was als solches sicher einen Wert hat.

enigma Mai 18, 2010 um 04:40 Uhr

Autorität: Regierung

Opportunität: Boulevard – Presse

Erwartung: „goldbugs“ u.a.

Relevanz: Sozio – Pfuscher

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Kompetenz: Bofinger (einer der letzten Aufrechten).

Das Erzeugen von Unsicherheit ist in Verbindung mit der Haßliebe „Geld“ schon immer das beste Mittel gewesen, um Menschen davon abzuhalten, selbständig zu denken. Das ist die gegenwärtige Diagnose für Deutschlands „Sparer“!

Herr Horx: Gibt es aus Ihrer Analyse eine konkrete Handlungsanweisung für die verunsicherte Gesellschaft?

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