“Macht besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln.” (Jürgen Habermas)[1]
Zum Kern dieser Serie ist die Frage geworden, ob faires Verhalten nicht ein Auslaufmodell ist und gerade von denjenigen ausgebeutet wird, die auf welcher Basis auch immer Regeln setzen und verändern. Im sechsten Teil dieser Serie ging es zuletzt um verschiedenen Verhaltenstypen und vor allem um Mimikry-Normen. Darunter verstehe ich gesetzliche Regeln, die gegen das gesellschaftliche Fairness-Verständnis verstoßen, aber unfaires Verhalten legalisieren[2].
Behind Bars (Foto: Truthout via Flickr)
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Sehnsucht nach Fairness …
Die meisten Menschen sind von einer inneren Sehnsucht nach “Fairness”[3] erfasst. Diese ist u.a. von dem Grundsatz geprägt, die Schwäche oder die Unwissenheit Anderer nicht für den eigenen Vorteil auszunutzen. Gleichzeitig staut sich aber regelmäßig Ärger über wie auch immer definiertes “unfaires” Verhalten auf, egal ob das in der Familie ist, am Arbeitsplatz oder bei der der Lektüre über Fehlverhalten in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Sport[4].
Diese innere Sehnsucht nach Fairness und Kooperation steht im Einklang mit Beobachtungen auf Basis der Spieltheorie[5], den Carsten Vogt so beschreibt[6]: “Das Ausmaß kooperativen Verhaltens ist in den ersten Spielrunden am größten, mit Kooperationsraten, die sich durchaus in der Größenordnung zwischen 40% und 60% aller Beobachtungen bewegen. Die gemessene Kooperation fällt dann mit zunehmender Anzahl von Spielwiederholungen ab und erreicht üblicherweise in der Schlussrunde ihr globales Minimum. Dennoch wird auch in der letzten Runde in statistisch signifikantem Maße kooperiert, was natürlich in besonders krassem Widerspruch zur spieltheoretischen Prognose für endlich iterierte Dilemmata steht.”
Bei von Verhaltensökonomen durchgeführten Experimenten[7] fällt also auf, dass einige Spielteilnehmer von Anfang an nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind, während andere trotz negativer Erfahrungen an der Kooperation festhalten.
… trifft auf Bedürfnis nach Macht
Michael Schmitz arbeitet in seinem unbedingt zu empfehlenden Buch “Die Psychologie der Macht” heraus, dass Macht die Menschen verändert. In der Einleitung des Kapitels darüber schreibt er:
“Überall, wo Macht ist, begegnen wir Korruption. Macht macht korrupt. Heißt es. Doch gibt es Menschen, die auch an der Macht integer bleiben. Womöglich ist es eher so, dass korrupte Charaktere gezielter nach Macht streben und besser dorthin gelangen – um Macht umso ungehemmter zum eigenen Vorteil auszunutzen. Doch Macht verändert auf Dauer fast jeden. Sie verleitet nicht zwangsläufig zu Korruption, aber sie fördert Egomanie und Rücksichtlosigkeit. Mächtige degradieren andere zu Handlangern. Hehre Ziele, wenn es die gegeben haben sollte, bleiben schnell auf der Strecke.”[8]
Er führt dazu viele Beispiele und Studien über die Korrumpierung durch Macht an.
Mächtige, so eine seiner Schlussfolgerungen “sind die besseren Lügner. Was an Mächtigen zu beobachten ist, legt den Verdacht nahe, dass sie gut lügen können. Tatsächlich sind sie sogar die besseren Lügner. Zu lügen fällt ihnen leichter als Menschen mit weniger Macht. Sie geraten dabei nicht so sehr in innere Konflikte, empfinden keinen Stress, denken klarer, wenn sie die Unwahrheit erzählen und geben in ihrer ganzen Erscheinung und ihrem nichtverbalen Verhalten weniger Hinweise darauf, dass nicht stimmt, was sie kühl behaupten.”[9]
Aber Macht ist nicht stets böse. Schließlich unterwerfen wir uns freiwillig der Macht, weil wir ihr viele Annehmlichkeiten zu verdanken haben. Schmitz dazu:
“Menschen begeben sich bereitwillig in die Obhut von Macht, weil sie Schutz und Sicherheit suchen – regelmäßiges Einkommen. Ordnung und Orientierung. Gerade in Zeiten, die als unwegsam und bedrohlich erlebt werden, ist das der Fall. Andere Bedürfnisse werden dem Wunsch nach Schutz und Sicherheit schnell nachgeordnet.”[10]
Schmitz stellt dar, dass Macht auch deswegen akzeptiert wird, weil Mächtige glaubhaft versprechen, sich wirksam für die Ziele und Werte einzusetzen, die ihre Gefolgschaft wichtig findet. Akzeptanz entstehe ohne Druck als ein Gegengeschäft: “nämlich wenn Macht für die, die sich fügen, etwas Lohnenswertes zu bieten hat – Einkommen, attraktive Beschäftigung, Anerkennung, Status, Zuneigung, Zugehörigkeit. Das kann gleichermaßen der Fall sein in politischen, wirtschaftlichen, sonstigen institutionellen oder privaten Beziehungen. Nachgeben, anpassen, Konformität, Unterordnung garantieren Wohlwollen und Gratifikation. Durch Identifikation mit der Macht gelingt das Austarieren von Interessen geschmeidiger, ohne innere Widersprüche.”
Was uns das Gefangenendilemma beibringt
Wir haben schon festgestellt, dass im politischen und wirtschaftlichen Alltag nicht leicht zu unterscheiden ist, ob sich jemand an die Regeln hält hat oder nicht. Öffentlich fallen viele spektakuläre Regelverstöße auf. Diese stellen aber nur die Spitze eines Eisbergs dar. Die meisten Regelverstöße werden gar nicht bekannt, weil die Öffentlichkeit keine Notiz von ihnen nimmt.[11]
Aber, und das ist die gute Botschaft, längst nicht alle nutzen die sich bietenden Gelegenheiten, um sich zu Lasten Dritter Vorteile zu verschaffen. Während nämlich spektakuläre Regelverstöße Gegenstand öffentlicher Aufgeregtheit werden[12], bleibt das Halten an Regeln meist verborgen, weil es als selbstverständlich angesehen wird.
Das spieltheoretische Denkmodell des Gefangenendilemmas[13] (hier im Video erklärt von Julian Nida-Rümelin) lehrt uns, dass “Kooperation”, also die gemeinsame Einhaltung von Regeln die überlegene Strategie ist, wenn es um den gemeinsamen Nutzen geht. Das Dilemma ergibt sich, wenn Partner A weiß, dass Partner B sich an die Regeln hält, für Partner A ein noch größerer Vorteil darin liegt, wenn er selbst unfair handelt. Das Gefangenendilemma zeigt aber auch, dass alle einen Nachteil haben, wenn ähnlich wie bei den Stauschummlern, alle gegen die Regeln verstoßen.
Genau hier liegt die derzeitige Brisanz der aktuellen Krise. Die technokratische Elite fordert die Einhaltung der Regeln, weil dies Vorteile für alle verspricht. Teile der “Elite” verweigern aber die Kooperation, weil sie persönlich mehr Vorteile erlangen, wenn sich die Mehrheit an die Regeln hält und sie selbst die Regeln umgehen bzw. zu eigenen Gunsten biegen.
Nahezu alle bekannt gewordenen Fälle zeigen, dass hier Interessengruppen diesseits und jenseits geschriebener Regeln sich individuelle Vorteile verschaffen, die über das akzeptierte Maß deutlich hinausgehen. Zwar führen besonders krasse Missbräuche zur Nachjustierung kodifizierter Regeln, dennoch bleibt der Beigeschmack, dass sich der “clevere Teile” der technokratischen Funktionselite weiter Vorteile daraus verschaffen kann.
Unbeantwortete Fragen
Überall dort, wo Gelegenheiten bestehen, gibt es Personen, die das Bedürfnis nach Fairness (aus-)nutzen. Die Anreize dazu bestehen nicht nur theoretisch, sondern sind reale Gewissheit. Andernfalls bräuchten wir kein so kompliziertes Rechtssystem, Wirtschaftsprüfer oder so etwas wie Kreditsicherheiten, Garantien oder viele andere Institutionen, die letztlich dazu dienen, uns vor unfairem Verhalten zu schützen.
Zwei Punkte interessieren mich für die Fortsetzung:
- Empören wir uns nicht vielfach zu Unrecht über unfaires Verhalten und als unfair empfundene Behandlung? Wir erheben unsere Zeigefinger gegen diejenigen, die uns zu Muppets degradieren. Aber ist es nicht häufig auch so, dass wir, wie in Mandevilles Bienenfabel, viel öfter von der Gier und unfairen Verhalten profitieren, als wir uns das eingestehen?
- Oben war viel von kooperativen Verhalten und Zusammenarbeit die Rede. Was stimuliert eigentlich die Zusammenarbeit stimuliert und was beeinträchtigt sie?
[1] Jürgen Habermas, Philosophisch-politische Profile, erweiterte Ausgabe, Frankfurt 1981, S. 238.
[2] Ein Beispiel dafür liefert erneut die Finanzbranche mit dem so genannten “Cum-Ex-Skandal”. Dabei geht es um ein mutmaßlich legales Steuerschlupfloch, über das sich Banken Milliardenbeträge für ihre Kunden vom deutschen Staat “erschlichen” haben sollen. Vgl. dazu Martin Greive und Anne Kunz, Finanzämter sind hilflos gegenüber Steuertricks, Welt Online v. 12.7.13 und Volker Votsmeier, Neue Cum-Ex-Fälle: Freshfields-Mandantin Barclays im Visier, HSH untersucht intern mit Clifford, Juve.de v. 26.6.13. Umstritten sind ebenfalls die massiven Umverteilungen, die die Finanzbranche in den letzten Jahren zu ihren Gunsten dadurch herbeigeführt hat, dass staatliche Institutionen direkt und indirekt hohe Haftungsrisiken für Geschäfte der Banken überübernommen haben.
[3] Dabei spielt es keine Rolle, ob man eine definitorische Vorstellung davon hat, was Fairness eigentlich konkret bedeutet. Es handelt sich dabei letztlich um ein bestimmtes Gerechtigkeitsgefühl, das abhängig von den jeweiligen kulturellen Merkmalen ist.
[4] In Brasilien hat erst nach großen Protesten der Bevölkerung die brasilianische Bundesanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen, weil sich die FIFA für die Fußball WM besondere Privilegien hat einräumen lassen. Vgl. DLF, Justizrevolte gegen die FIFA v. 11.7.2013. Siehe auch Ingmar Höhmann, Die Fifa ist Weltmeister im Geldverdienen, Handelsblatt Online v. 12.7.2010.
[5] Genauer für endlich wiederholte Dilemmaspiele.
[6] Carsten Vogt, Kooperation im Gefangenen-Dilemma durch endogenes Lernen, VDM-Verlage, 2008, S. 7, auf den Folgeseite mit ausführlichen Nachweisen.
[7] Siehe dazu auch Jan Verplaetse, Der moralische Instinkt: Über den natürlichen Ursprung unserer Moral, 2011, S. 163 ff. Das Verhalten der Spielteilnehmer ist dabei von verschiedenen Faktoren abhängig, u.a. davon, wie das Spiel konstruiert ist, ob es wiederholt wird, über welche Informationen die Spielteilnehmer verfügen und ob sie sich austauschen können.
[8] Michael Schmitz, Psychologie der Macht: Kriegen, was wir wollen, 2012, Position 1662.
[9] Michael Schmitz, Psychologie der Macht: Kriegen, was wir wollen, 2012, Position 1732. Er verweist dazu auf einer Studie von Forschern der Graduate School of Business an der Columbia University New York: How Power Corrupts
[10] Michael Schmitz, Psychologie der Macht: Kriegen, was wir wollen, 2012, Position 243.
[11] Dies gilt umso mehr je unbekannter diejenigen sind, die gegen die Regeln verstoßen.
[12] Es gibt dauernd Nachschub für weitere Beispiele, wie etwa die Dissertationsplagiate oder “Familienhilfeaffären” von Politikern, die unendlichen Steuerverfahren, die Verfehlungen im Finanzbereich oder Korruptions- oder Kartellfälle in der Politik und Wirtschaft. Die Empörungsberichterstattung über bekannt gewordene Regelbrüche stützt dabei den Anschein von Gerechtigkeit und Fairness in unserer Gesellschaft. Werden von Zeit zu Zeit einzelne Regelbrecher oder gar ganze Wirtschaftszweige öffentlich vorgeführt, dann entsteht daraus freilich nur eine Illusion von Gerechtigkeit, die es den versteckten Regelbrechern und Mimikry-Typen noch einfacher macht. Ein Beispiel ist die Plagiatsdebatte, in der Bildungsministerin Annette Schavan zurückgetreten ist. Schavan hatte sich noch mit großer Chuzpe über das Verhalten von Karl-Theodor zu Guttenberg echauffiert. Aber man kann auch auf das Corporate-Governance-Desaster bei Thyssen-Krupp schauen. Hier gab es massive Verfehlungen in den letzten Jahren. Am Aufsichtsratsvorsitzenden Gerhard Cromme perlten die Vorwürfe in erstaunlicher Weise ab. Cromme, der der erste Vorsitzende der Regierungskommission für den Deutschen Corporate Governance Kodex war, gelang es mehrfach, durch teure Rechtsgutachten zu beweisen, dass er regelkonform gehandelt habe. Erst im März 2013 wurde der Druck so groß, dass Cromme sich zurückziehen musste
[12]Thomas Fromm, Joachim Käppner und Klaus Ott, Es war einmal ein mächtiger Strippenzieher, auf: Süddeutsche Online am 9.3.2013.
[13] Verständlich erklärt auch auf der Internetseite: Professor Rieck´s Spieltheorie-Seite.
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