Das „Muppet-Problem“ bezeichnet die Schwierigkeit „faires“ und „unfaires“ Verhalten“ in Einklang mit der herkömmlichen ökonomischen Theorie zu bringen. Die moderne Evolutionstheorie leistet hier zusammen mit der Neurobiologie ein viel besseres Verständnis. (Dieser Beitrag ist @TeraEuro alias Frank Neumann gewidmet*)
Unfair zur Natur: Abfälle im Tortuguero Nationalpark in Costa Rica
Über das Muppet-Dilemma habe ich in meinem Blog vor 6 Jahren unter den Fragestellungen „Ist Fairness nur für Muppets?“ in neun Beiträgen den “fairen” Umgang in der Wirtschaft analysiert und die Erzeugung von Ungleichheit, die durch kleine oder große Regelverstöße erzielt wird. Damals konnte ich die Reihe nicht abschließen, weil ökonomische Modelle keine hinreichenden Erklärungen für unfaires und ungerechtes Verhalten liefern. Es sei denn man verwendet die typische, aber inhaltsleere, Erklärung mit einem solchen Verhalten werde der eigene Nutzen maximiert[1]. Ich hatte damals im letzten Beitrag der Reihe angedeutet, eine Idee für eine Lösung bekommen zu haben. Da hatte ich gerade das Buch “Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen” von Edward O. Wilson gelesen, das mich zu dieser Beitragsreihe inspiriert hat.
Mit dem in dieser Beitragsreihe vertretenen Ansatz aus Evolutionsbiologie und Neurowissenschaften wird die Erklärung des Muppet-Problems viel klarer, denn die aus Evolutionstheorie und Neurobiologie abgeleiteten Handlungsmotive erklären sowohl prosoziales als auch egoistisches Verhalten.
1. Was ist das Muppet-Problem?
Die Bezeichnung “Muppet-Problem” ist an eine Wordschöpfung eines Mitarbeiters der Investmentbank Goldman Sachs angelehnt[2]. Danach gäbe es bestimmte Typen von gutmütigen, vertrauensselige und vor allem schlecht informierten Personen, Unternehmen oder andere Institutionen, die durch „unfaire“ (nicht unbedingt illegale) Handlungen übervorteilt werden können.
Dabei verschwimmen oft die Grenzen und sind nicht so eindeutig, wie das öffentliche Debatten gern zuspitzen, denn manchmal kommen die “Puppenspieler” in feiner Erscheinung und tadellosem Ruf und nutzen ihre Vertrauensposition aus. Manchmal sind es sogar diejenigen, die den Puppenspielern auf die Finger schauen sollen und die Puppenspieler selbst zu Muppets machen[3].
Es gibt Milliarden Beispiele, wie sich Menschen durch Unfairness persönliche Vorteile verschaffen. Manchmal nennen wir dieses Verhalten verharmlosend Dreistigkeit. Das reicht vom Vergessen der Rückzahlung von Schulden, über die Vortäuschung eines Livegesangs, dem Schmücken mit fremden Federn im Büro, dem unfairen Ausbooten von Wettbewerbern oder dem Auspressen von Geschäftspartnern durch unfaire Zahlungs- und Lieferbedingungen. In allen Fällen werden Ressourcen mit als “unfair” angesehenen Mitteln umverteilt.
Es geht dabei nicht nur um die Einhaltung in Gesetzen geregelter Normen, sondern auch darum, was eine Gesellschaft unter fair versteht. Zwar verurteilen wir unfaires Verhalten in immer neuen Empörungswellen. Gleichwohl ist die kleine und große Täuschung (= der versteckte oder offene moral hazard) zur Normalität unseres Wirtschafts- und Wertesystem geworden. Bewegt sich unfaires Verhalten innerhalb kodifizierter Normen, wird es in bestimmten Gruppen sogar bewundert.
Wenn jemand durch eine vorsätzliche und kalkulierte Überschreitung dessen, was im jeweiligen Umfeld als “anständiges Verhalten” angesehen, sich Vorteile verschafft, spricht man von Unfairness oder Opportunismus. Vorsätzlich, weil den Personen bewusst ist, dass sie gegen ungeschriebene Regeln eines “guten Verhaltens” verstoßen. Kalkuliert, weil die Regelbrecher nicht oder nur mit geringen Sanktionen rechnen. Ökonomisch könnte man sagen, die persönlichen Kosten aus erwarteten finanziellen (ggf. strafrechtlichen) oder gesellschaftlichen Sanktionen sind geringer als der persönliche Nutzen aus dem Regelverstoß.
2. Multilevel Selektion
Aus moderner Evolutionstheorie und Neurobiologie leiten sich wichtige Erkenntnisse über das menschliche Verhalten ab: Zu den grundlegenden Antrieben von Lebewesen gehört der Wille physisch zu überleben und sich mit Hilfe geeigneter Partner fortzupflanzen. Menschen sind dazu biologisch so disponiert, die Kooperation in verschiedenen Gruppen[4] zu suchen. Beide Ziele werden neurobiologisch dadurch gestützt, dass bestimmte als unangenehm empfundene Emotionen vermieden und angenehme gesucht werden. Unser Gehirn, schreibt Robert Sapolsky, bildet Wir/Sie-Dichotomien, d.h. wir teilen die Menschen in „Wir“ und „Sie“ auf.[5] Die Bruchlinie unseres Gehirns macht Sapolsky dabei im Botenstoff Oxytocin aus[6]. Dieses Hormon fördert Vertrauen, Großzügigkeit und Kooperation gegenüber dem „Wir“ und gemeineres Verhalten, präventive Aggression gegenüber „Sie“. [7]
Diese „Wir/Sie-Dichotomien“ zeigen, dass Menschen nicht Kooperationen mit allen anderen Menschen suchen. Vielmehr konkurrieren Menschen mit ihren eigenen Gruppen gegen andere Gruppen. Gegenüber bestimmten, sehr nahestehenden (inneren) Gruppen können Menschen sogar altruistisches Verhalten zeigen.
Eine der großen Entwicklungen der Evolutionswissenschaften in den letzten Jahrzehnten ist die mehrstufige Selektionstheorie, die auch auf die Evolution der Menschen angewendet werden kann. Dieses Modell hilft auf der Ebene von Gruppen auch die kulturelle Evolution des Menschen zu verstehen.[8]
Menschen handeln sowohl aus Ich-bezogenen Gründen, verfolgen aber auch unter Zurückstellung persönlicher Interessen Gruppenziele, so dass Gruppen auch auf Kosten der sie fördernden Individuen überleben. Der zentrale Grundsatz der mehrstufigen Selektionstheorie ist, dass Selektion nicht nur auf Individuen wirkt, sondern (gleichzeitig) auf mehreren Ebenen biologischer Organisationen. Danach gibt es Verhaltensweisen, die der eigenen Gruppe zugutekommen, aber für handelnde Individuen nachteilig sein können. Altruismus zum Beispiel ist für den altruistischen Menschen kostspielig, aber Gruppen mit einem höheren Anteil an altruistischen Individuen haben in der Regel einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Gruppen, die meist aus egoistischen Individuen bestehen (z.B. weil altruistische Gruppen in direkten Konfrontationen produktiver oder besser sind). In solchen Situationen kann sich der Altruismus durch einen Auswahlprozess zwischen den Gruppen entwickeln – auch vor dem Hintergrund der Selektion, die den Egoismus innerhalb jeder Gruppe begünstigt.[9]
Zum Kern der Multilevel-Selektions-Theorie gehört, dass sich Menschen verschiedenen Gruppen zuordnen mit einem unterschiedlichen Grad der Verbundenheit.
Quelle der Abbildung: M Pacheco, Jorge; C Santos, Francisco; A. C. C Chalub, Fabio (2013)[10]
Die einzelnen Paletten in der obigen Grafik repräsentieren jeweils eine Gruppe mit den einzelnen durch farbige Punkte gekennzeichneten Mitgliedern. Jede Gruppe wird von verschiedenen sozialen Normen (repräsentiert durch die Hintergrundfarbe) beeinflusst. Personen können Mitglieder mehrerer Gruppen sein. Menschlich gesehen kann das, was gut für mich ist, schlecht für meine Familie sein; was gut für meine Familie ist, kann schlecht für meinen Clan sein; bis hin zu dem, was gut für meine Nation oder Firma ist, kann schlecht für das globale Dorf sein. Dies ist übrigens zutiefst widersprüchlich zur von Adam Smith, dem Urvater der Ökonomie, aufstellten Metapher der „unsichtbaren Hand“ [11].
Auch die Neurobiologie zeigt, dass neben anderen Einflussfaktoren unseres Verhaltens die Zugehörigkeit zu Gruppen eine wichtige Rolle spielt. In ihren sozialen Bezugsgruppen neigen Individuen zu kooperativen Verhaltensweisen in einer Weise, die sich nur schwer mit persönlicher Nutzenmaximierung erklären lässt. Dazu gehört auch Altruismus, also Handlungen, die anderen auf eigene Kosten zugutekommen. Dieses prosoziale Verhalten kann die ökonomische Theorie nicht erklären. Die verstorbene Ökonomieprofessorin Lynn Stout drückte das so aus:
„The problem with the homo economicus theory is that the purely rational, purely selfish person is a functional psychopath. If Economic Man cares nothing for ethics or others’ welfare, he will lie, cheat, steal, even murder, whenever it serves his material interests. Not surprisingly, although homo economicus is alive and well in many economics departments, many experts today prefer to embrace behavioral economics, which relies on data from experiments to see how real people really behave. Behavioral economics confirms something both important and reassuring. Most of us are not conscienceless psychopaths.”[12]
3. Verhalten in Gruppen
Die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen und Kooperation innerhalb und außerhalb von Gruppen spielt also eine zentrale Rolle für unsere Evolution. Friedrich Thießen unterscheidet in „Die Evolution von Gut und Böse in Marktwirtschaften“ z.B. Verwandte, innere Gruppen, äußere Gruppen und Fremde.[13]. Tatsächlich sind die Gruppen, denen wir angehören und ihre emotionale Nähe nicht trennscharf zu differenzieren. Außerdem variieren die Zughörigkeiten permanent. Hilfreich ist es dennoch, sich eine Skala vorzustellen mit einer (oder mehreren) innerer(n) Gruppe(n), zu der auch Verwandte gehören können, äußere Gruppen und Menschen bzw. Gruppen außerhalb der eigenen Gruppe (Fremde). Nahezu alle Menschen sind in verschiedenen inneren und äußeren Gruppen eingebunden und verhalten sich sowohl in den verschiedenen Gruppen als auch gegenüber Mitglieder innerhalb und außerhalb dieser Gruppen unterschiedlich unter sonst identischen Rahmenbedingungen.
Von einer inneren Gruppe spricht Thießen, wenn sich Menschen längerfristig immer wieder gegenseitig zuarbeiten und gemeinsam ein Gruppengut erzeugen. Dieses kann in den Früchten der Arbeitsteilung bestehen, einem “Mehrprodukt durch koordiniertes Agieren”. Menschen der “inneren Gruppen kennen sich sehr gut und agieren längere Zeit miteinander. Dabei zeigen sie das sogenannte reziprok altruistische Verhalten. Das bedeutet: Man hilft sich (Altruismus), erwartet aber später Hilfe in ähnlicher (reziproker) Größenordnung zurück.“[14]
Das Verhalten ist jeweils durch ein Set sozial anerkannte Verhaltensregeln bestimmt (Gruppenmoral), „die erzwingt, dass die Gegenleistung irgendwann kommt und zwar in der richtigen Höhe. Das wird als „gerecht“ bezeichnet. Es entstehen Fairness- und Gerechtigkeitsnormen. … Verstöße werden … sanktioniert. …. Ziel der Gruppe ist es, durch gemeinsames Agieren Vorteile zu erreichen.“ [15]
In vielen Gruppen bilden sich Rangfolgen (Status). Im Status aufzusteigen hat sich in vielen modernen Gesellschaften zu einem wichtigen Ziel entwickelt. [16] Dazu Thießen:
“Aus Gründen der Steigerung der „Fitness“ ist es vernünftig, mehr vom Gruppengut zu erhalten und weniger zur Erstellung des Gruppengutes beizutragen. Die Moral mit ihren Gerechtigkeits- und Fairnessnormen formuliert die Mindestansprüche an das, was man abgeben bzw. bekommen sollte. Es ist rational zu versuchen, diese Normen zu unterbieten, nicht öffentlich, aber immer da, wo man unbeobachtet ist (Opportunismus im Sinne von Williamson). … In überschaubaren Gruppen, die über längere Zeiträume Zusammenarbeiten, fällt es demgegenüber längerfristig eher auf, wenn Leistungen unter der erwarteten Norm liegen.
Eine interessante Besonderheit haben kleine stabile Gruppen: Da man längere Zeit zusammenbleibt und immer wieder austauscht, braucht man nicht marktmäßig zu tauschen. Eine Leistung muss nicht hier und heute mit einem Preis final abgegolten werden, weil man über längere Zeiträume in Kontakt steht und über längere Zeiträume einen Ausgleich herstellt. Einen Markt kann man sich sparen – und die schwierige kurzfristige Bewertung von Leistungen und die Preisfindung ebenso.“ [17]
4. Verhalten gegenüber „Fremden“
Anders verhalten wir uns Fremden gegenüber, also den Sie-Gruppen, wie Sapolsky sagen würde. Friedrich Thießen schreibt, dass die Gruppe der Fremden bei Bereicherungsstrategien eine wesentliche Rolle spiele.
„Als Fremde werden all diejenigen bezeichnet, mit denen man keinen reziproken Altruismus pflegt und nicht verwandt ist. Fremde waren in der Vorzeit eine Bedrohung für jede Horde von Jägern und Sammlern. Sie trugen nichts bei und nahmen nur Ressourcen weg. Fremde wurden vertrieben oder getötet. … Auch heute noch ist die Aversion gegen Fremde tief verwurzelt. Elias Canetti hat dies in seinem Buch „Masse und Macht“ eindrücklich geschildert.“[18]
Personen außerhalb der eigenen Gruppen begegnen Menschen oft mit Distanz. Wenn es nützlicher ist, kauft man ihnen etwas ab, oder verkauft ihnen Dinge, aber zu einem möglichst vorteilhaften Preis. „Wenn man sie dabei übers Ohr hauen kann, ist es für das eigene Wohl günstig. Erbringt man für Fremde Leistungen, dann möglichst schlecht, d. h. „schlicht“, „unter der Norm liegend“. Fremde sind nicht in der eigenen Gruppe. Es gilt nicht die Gruppenmoral, es gibt nicht die Norm, die man untereinander anerkennt. [19]
Mensch bauen also in unseren arbeitsteiligen Ökonomien mehrere Typen sozialer Beziehungen auf. „Fairnessnormen regeln das Verhalten in jeder Gruppe. In jeder Gruppe ist der Mensch den anderen Menschen auf eine unterschiedliche Art und Weise verpflichtet. Die Gesellschaft bestimmt die Normen akzeptablen Verhaltens.“ [20] Wir mögen es bedauern, dennoch scheint es ein untrennbarer Bestandteil der menschlichen Natur zu sein, sich einer Gruppe oder Gesellschaft[21] „zugehörig zu fühlen und sie zu idealisieren, während man Fremde nur allzu häufig geringschätzt und herabwürdigt, ihnen misstraut oder sie manchmal sogar hasst.[22]
5. Opportunismus in der Ökonomie
Wer kalkuliert und vorsätzlich gegen Regeln verstößt, der erwartet daraus einen Vorteil für sich. Er sorgt damit aber auch für mehr Ungleichheit, denn der persönliche Vorteil einer Person wird verteilt auf kleine Nachteile für viele andere Personen oder einen großen Nachteil für wenige andere Personen.
Ökonomen verwenden für dieses Verhalten den Begriff, den Opportunismus. Oliver Williams definiert Opportunismus als „egoistisches Handeln verbunden mit List. Das schließt krassere Formen ein, wie Lügen, Stehlen und Betrügen, beschränkt sich aber keineswegs auf diese. Häufig bedient sich der Opportunismus raffinierterer Formen der Täuschung. Allgemeiner gesagt, bezieht sich Opportunismus auf die unvollständige oder verzerrte Weitergabe von Informationen, insbesondere auf vorsätzliche Versuche irrezuführen, zu verzerren, verbergen, verschleiern oder sonst wie zu verwirren. Damit ist er auch für Zustände echter oder künstlich herbeigeführter Informationsasymmetrie verantwortlich. Der Opportunismus ist in die Ökonomie gekommen über die Neue Institutionenökonomik und hier vor allem in die Prinzipal-Agent-Theorie.[23]
Oliver Williamson versucht in seinem Buch „Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus“ „die zwei grundlegenden Institutionen von Marktwirtschaften, nämlich den „Markt“ und das „Unternehmen“, aus dem Opportunismus der Akteure heraus zu erklären. Williamsons Theorie war eine Sensation. Denn dass sich zwei zentrale marktwirtschaftliche Institutionen (Markt, Unternehmen) mit dem „Bösen“, d. h. mit dem Opportunismus der Menschen erklären ließen, war vorher nicht bekannt. Es zeigte, wie wichtig die Beschäftigung damit ist. Williamson leitete den Opportunismus nicht ab, sondern nahm ihn an. Und er beschränkte sich auf die Erklärung der Institutionen von Markt, Unternehmen sowie einige vertragsgebundene Zwischenformen. Seine Theorie weckte daher den Bedarf, mehr zu erklären. Vor allem wurde der Bedarf erkennbar, den Opportunismus nicht nur anzunehmen, sondern ihn abzuleiten. Er sollte auf ein übergeordnetes Prinzip zurückgeführt werden.“ [24]
Auf Basis neoklassischer Modelle sind Regeln konstruiert worden, die den privaten Vorteil maximierende Verhaltensweisen rechtfertigen. Der leider viel zu früh verstorbene Frank Schirrmacher hat in seinem Buch “EGO” darauf hingewiesen, dass die Neoklassik eine Welt geschaffen hat, die wie selbstverständlich davon ausgeht, dass es rational sei, nur an sich zu denken, andere über den Tisch zu ziehen und das soziale Leben selbst immer mehr zu Geschäft und Auktion wird. Es ist eine “Welt der Ich-Vermarktung, die glasklaren ökonomischen Regeln folgt. Misstrauen, Unterstellung, Bluffs, Ablenkungsmanöver sind in dieser Welt normativ und sei es nur, um, wie ein oft gehörter Satz lautet, »die Märkte zu beruhigen«.”
Williamson, der 2009 für seine Arbeiten den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt, unterstellt übrigens nicht, dass sich alle Menschen immer und überall opportunistisch verhalten. Er nimmt lediglich an, so schreibt Döring in seiner Dissertation (S. 35), dass manche Menschen zeitweilig opportunistisch sind und die unterschiedliche Vertrauenswürdigkeit selten im Vorhinein klar erkennbar ist. Williamson bezeichnet es aber als Vertragsutopie, wenn man davon ausgeht, dass weder die Rationalität der Transaktionspartner beschränkt noch opportunistisches Verhalten zu erwarten sei.
Das aus zunehmendem Opportunismus entstehende Dilemma für die Wirtschaftspraxis ist, dass nicht nur auf unfaire Art umverteilt wird, sondern auch die Kosten für die Transaktionsabwicklung steigen. Wenn Geschäftspartner sich nicht mehr auf in der Vergangenheit übliche kaufmännische Prinzipien verlassen können, dann müssen solche Prinzipien etwa durch umfangreichere Verträge und Kontrollen ersetzt werden, um sich vor einer wie auch immer gearteten „Ausbeutung“ zu schützen. Letztlich erhöht dies die Kosten für beide Parteien.
6. Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse?
In der Einleitung zum 24. Kapitel über den Ursprung von Moral und Ehrbegriff fragt Edward O. Wilson in seinem Spätwerk “Die soziale Eroberung der Erde, ob der Mensch von Natur aus gut oder von der Macht des Bösen verdorben ist. “Oder ist er vielmehr von Natur aus verschlagen und nur durch die Macht des Guten zu retten?” Wilson interpretiert Moral nicht als eine religiöse oder philosophische Errungenschaft, sondern leitet die Natur des Menschen aus der Biologie ab. Seine klare Antwort auf das Muppet-Problem bzw. die Frage ob wir gut oder böse sind war bereits in Teil 15 dieser Reihe: „Ökonomie von Gut und Böse“ zu lesen:
“Beides trifft zu. Und wenn wir nicht unsere Gene verändern, wird es auch immer dabei bleiben; denn das menschliche Dilemma wurde in unserer Evolution festgelegt und ist mithin ein unveränderlicher Teil der menschlichen Natur.“[25]
Daher hilft auch nicht die Ausrufung eines „Zeitalters des allgemeinen »Gutmenschentums“. Joachim Bauer stellt dazu fest:
„Die Fairness-Messfühler seines Gehirns machen den Menschen … keineswegs zu einem »guten« Wesen. Sie erweisen sich jedoch als ein sensibler neurobiologischer Apparat und üben massiven Einfluss auf unsere alltäglichen Entscheidungen aus. Dies zeigt sich selbst dann, wenn das Insistieren auf Fairness zur Folge hat, dass dafür ein eigener (z. B. finanzieller) Nachteil in Kauf genommen werden muss. Experimente belegen, was war aufgrund unserer Alltagserfahrungen intuitiv schon lange wissen: Zwar verhält sich das menschliche Gehirn gegenüber einer maßvollen Ungleichverteilung von Ressourcen durchaus tolerant (es folgt insoweit also keineswegs einem kommunistischen Dogma). Wer jedoch bei der Verteilung einer Ressource in massiver Weise benachteiligt werden soll und die Möglichkeit hat, die Verteilungsaktion insgesamt zu blockieren, der wird dies auch tun, selbst dann, wenn damit auch der Verlust der eigenen – als zu klein betrachteten – Zuweisung verbunden ist.”[26]
Nassim Taleb bezeichnet es als eine naive Form der Utopie und von Blindheit gegenüber der Geschichte, wenn wir auf die vernunftgeleitete Eliminierung von Habgier und anderer menschlicher Schwächen setzen, die die Gesellschaft fragilisieren. Er dürfte damit Recht haben.[27] Tatsächlich verhalten sich immer einige Menschen parasitär mit selbstsüchtigen Neigungen als moralische Free Rider («Trittbrettfahrer»). Dieser Typus profitiert aber nur, wenn eine möglichst große Gruppe moralisches Bewusstsein und Verpflichtungsgefühl ernst nimmt und sich entsprechend sozial und konformistisch verhält.
Sapolsky sieht, dass uns das Gegensatzpaar Wir/Sie namenlose Qual verursacht. Allerdings können wir diese Dichotomie nicht heilen, wenn wir nicht die Amygdala genannte Hirnregion zerstören würden.[28] Zusammenfassend lässt sich aus der Multilevel-Selektions-Theorie und der Neurobiologie ableiten, dass wir Menschen die Mitglieder einer uns nahestehenden Gruppe eher fair behandeln. Gegenüber Mitgliedern einer ferneren oder außenstehenden Gruppe steigt die Tendenz zu unfairem Verhalten. Wie unfair wir uns dabei verhalten hängt auch davon ab, ob und wie ein durch unsere eigene Gruppe beobachtetes unfaires Verhalten beurteilt wird. Erhält man dafür Applaus, wie das offenbar in der eingangs erwähnten Investmentbank der Fall war, dann steigt unsere Neigung Außenstehende unfair zu behandeln. Sinkt dadurch unser Ansehen in der eigenen Gruppe, werden wir unfaires Verhalten tendenziell einschränken bzw. unterlassen. Daraus folgt, dass wir uns nicht zwingend unfair verhalten müssen.
* Diesen Beitrag widme ich den im Jahr 2018 verstorbenen Frank Neumann, den viele unter seinem Twitter-Pseudonym TeraEuro kennen. Mit ihm habe ich so manches Mal das Muppet-Phänomen diskutiert. Gern hätte ich seine Meinung zu der hier vorgestellten Lösung gehört.
[1] Diese Erklärung ist tautologisch, weil die persönliche Nutzenmaximierung der Wirtschaftssubjekte als eine der zentralen Annahmen ökonomischer Modelle gilt. Danach wird unterstellt, dass jede Handlung der Maximierung des Nutzen dient.
[2] Der ehemalige Goldman Sachs Mitarbeiter Greg Smitz hatte quasi sein Kündigungsschreiben auf der Meinungsseite der New York Times veröffentlicht. Er war der Bank moralischen Verfall vor. „Die Interessen der Kunden werden in der Art und Weise, wie die Gesellschaft wirtschaftet und über das Verdienen von Geld denkt, kontinuierlich zur Seite gestellt“, schrieb Greg Smith, der fast zwölf Jahre für Goldman arbeitete und zuletzt in London im Vertrieb von Derivaten tätig war. Leitende Angestellte hätten Kunden wiederholt als „Muppets“ tituliert, fasste die FAZ Passagen zusammen. Vgl. Norbert Kuhls, Manager wirft Goldman moralischen Verfall vor, FAZ Online am 14.3.12.
[3] Dabei denke ich vor allem an einen Skandal aus dem Medienbereich. Reporter der Nachrichtenagentur Bloomberg sollen ausgerechnet die Informationsterminals wichtige Händler einiger Wall Street Banken elektronisch beobachtet haben und dabei Informationen gewonnen haben, die sie für weitere Recherchen nutzen konnten. Vgl. Norbert Kuls in: Schnüffelaffäre um Datenanbieter Bloomberg, auf FAZ Online v. 12.5.13
[4] Beeindruckend dokumentiert in: Mark Moffett, „Was uns zusammenhält“, 2019.
[5] Robert Sapolsky: „Gewalt und Mitgefühl“, Regensburg 2017, S. 502.
[6] Siehe dazu ausführlich, Teil 12 dieser Reihe Das “Stammeshormon” Oxytocin und Bindung an Gruppen.
[7] Robert Sapolsky: „Gewalt und Mitgefühl“, Regensburg 2017, S. 503. Sapolsky vertieft den Ansatz auf den Seiten 503 ff.
[8] David Sloan Wilson, Why New Economics Needs a New Invisible Hand, veröffentlicht auf Evonomics.com am 8.2.2018. Siehe außerdem ausführlich Wilson, D. S., & Gowdy, J. (2015). Human Ultrasociality and the Invisible Hand: Foundational Developments in Evolutionary Science Alter a Foundational Concept in Economics. Journal of Bioeconomics 17(1), 37–52. Download über Research Gate und David Sloan Wilson, Reaching a New Plateau for the Acceptance of Multilevel Selection, veröffentlicht auf evolution-institute.org am 22.09.2017
[9] Siehe ausführlich dazu Jos Kramer u. Joël Meunier, Kin and multilevel selection in social evolution: a never-ending controversy? Working Paper, F1000Researchv. 28.4.2016 mit vielen weiteren Literaturhinweise. Siehe außerdem in dieser Beitragsreihe die Teile IV bis VIII.
[10] M Pacheco, Jorge; C Santos, Francisco; A. C. C Chalub, Fabio (2013): Multilevel Selection Model for the Evolution of Norms. PLOS Computational Biology
[11] Vgl. David Sloan Wilson interview with Tim O’Reilly, Evolving the New Economy, veröffentlicht auf Evonomics.com am 25.8.2018. In seinem 1776 erschienenen Buch „Der Wohlstand der Nationen“1 behauptete Smith, es reiche für das Gemeinwohl vollkommen aus, wenn jedes Individuum nur in seinem Eigeninteresse handeln würde, weil gerade das Streben nach eigenem Vor-teil notwendigerweise dazu führe, dass das Allgemeinwohl befördert werde. Jeder einzelne werde „in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt“ habe.“ Rajnish Tiwari, Die unsichtbare Hand: Eine kritische Analyse des Ansatzes Adam Smiths zur Lösung Doppelter Kontingenz, Working Paper Universität Hamburg, 2003, S. 1.
[12] Lynn Stout, How the Dominant Business Paradigm Turns Nice People into Psychopaths, auf Evonomics.com am 14.7.2018.
[13] Friedrich Thießen, Die Evolution von Gut und Böse in Marktwirtschaften: Theorie und Praxis, 2014.
[14] Friedrich Thießen, Die Evolution von Gut und Böse in Marktwirtschaften: Theorie und Praxis, 2014, S. 11.
[15] Friedrich Thießen, Die Evolution von Gut und Böse in Marktwirtschaften: Theorie und Praxis, 2014, S. 11. Thießen differenziert noch zwischen innerer Gruppe und Verwandten. Dieser Darstellung folge ich hier nicht.
[16] Friedrich Thießen, Die Evolution von Gut und Böse in Marktwirtschaften: Theorie und Praxis, 2014, S. 11. Das war zu den Ursprungszeiten des Menschen nicht so. Vgl. Mark Moffett, „Was uns zusammenhält“, 2019, Kindle Edition, Pos. 2742 ff.
[17] Friedrich Thießen, Die Evolution von Gut und Böse in Marktwirtschaften: Theorie und Praxis, 2014, S. 11 f.
[18] Friedrich Thießen, Die Evolution von Gut und Böse in Marktwirtschaften: Theorie und Praxis, 2014, S. 12 f.
[19] Friedrich Thießen, Die Evolution von Gut und Böse in Marktwirtschaften: Theorie und Praxis, 2014, S. 12 f.
[20] Friedrich Thießen, Die Evolution von Gut und Böse in Marktwirtschaften: Theorie und Praxis, 2014, S. 12 f.
[21] Moffett definiert dabei übrigens Gesellschaft als eine Gruppe, die kooperativ vorgeht und nicht eine Gruppe mit einer sozialen Identität. Mark Moffett, „Was uns zusammenhält“, 2019, Kindle Edition, Pos. 205. Er schreibt: „Wir Menschen haben uns in der Evolution so entwickelt, dass Kooperation für unser Überleben unentbehrlich ist.
[22] Mark Moffett, „Was uns zusammenhält“, 2019, Kindle Edition, Pos. 205.
[23] Vgl. Friedrich Thießen, Die Evolution von Gut und Böse in Marktwirtschaften: Theorie und Praxis, 2014, S. 4 f.
[24] Vgl. Friedrich Thießen, Die Evolution von Gut und Böse in Marktwirtschaften: Theorie und Praxis, 2014, S. 4 f.
[25] Edward O. Wilson, “Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen”. Position 3748 ff. Siehe dazu auch Teil 15 dieser Reihe: „Ökonomie von Gut und Böse“
[26] Joachim Bauer, Schmerzgrenze: Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt, 2013, S. 39.
[27] Nassim Nicholas Taleb, Antifragilität, Position 3889. Taleb hält übrigens wenig vom Moralisieren. Das sei das letzte, was wir brauchen, weil er das für gefährlich hält. Intelligenter (und praktikabler) findet er es, “die Verhältnisse so zu gestalten, dass ihnen Habgier nichts anhaben kann, oder vielleicht sogar die Gesellschaft so umzuformen, dass sie von Habgier und anderen menschlichen Unvollkommenheiten profitieren kann.
[28] Robert Sapolsky: „Gewalt und Mitgefühl“, Regensburg 2017, S. 548.
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