Vergangene Woche habe ich hier animiert durch diverse Tweets ein Schwarmexperiment gestartet, dessen Ergebnis mich selbst überrascht hat. Ich habe via Twitter alle Hinweise auf die Größe des 3-Jahrestenders der EZB eingesammelt und die Schätzung zu einer Schwarmschätzung zusammengefasst. Die Schätzung des Medians lag dabei bei 550 Mrd. Euro, das arithmetische Mittel bei 592,19.
Die Abweichung des tatsächlichen Ergebnisses 529,53 Mrd. Euro zum Median[1] der Crowdschätzung betrug nur –20,47 Euro. Das ist eine sehr gute Schätzung. Damit lagen die Twitterer besser als die Reuters Umfrage mit 500 Mrd. Euro oder die vom WSJ zitierten Analysten mit 450 Mrd. Euro. Die Qualität des Ergebnisses kann natürlich Zufall gewesen sein, und wahrscheinlich habe ich methodisch auch nicht konsequent sauber gearbeitet, dennoch beeindruckte mich das präzise Ergebnis.
Eine andere Form des Social Forecastings nutzen Vorhersagemärkte. Hier werden Vorhersagen auf bestimmte Ereignisse regelrecht gehandelt. Die Vorhersagen sind dabei in einer Art virtuellen Zertifikat verbrieft. Das ist so gestaltet, dass es bei Eintritt des Ereignisses bis zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Auszahlung für den Inhaber gibt. So wurden auf der Vorhersagebörse Intrade im Vorfeld der Oscarverleihung Zertifikate auf die Gewinner in sieben verschiedenen Kategorien gehandelt. Der Inhaber eines Zertifikats erhält 10 US$, wenn seine Vorhersage eintritt und nichts, wenn er falsch liegt. Durch diese Konstruktion kann man die Preise als Eintrittswahrscheinlichkeiten interpretieren. Bei der letzten Oscarverleihung stimmten sechs von sieben Vorhersagen.
Die Qualität war kein Zufall. In den Vorjahren waren die Ergebnisse ähnlich gut (siehe 2011, 2010, 2009). Die Oscars sind damit in den Top-Kategorien zu einer Veranstaltung ohne Überraschung geworden. Es gibt zig andere interessante Beispiele für funktionierende Vorhersagemärkte. So mussten sich bei der Prognose der letzten Bundestagswahl die zwei Prognosemärkte Politikmarkt und Wahlstreet nur den außer Konkurrenz laufenden 18:00 Prognosen von ARD und ZDF am Wahlabend geschlagen geben. Das Handelsblatt hat vor gutz wei Jahren mit wissenschaftlicher Unterstützung die leider nicht besonders gut vermarktete Prognosebörse EIX ins Leben gerufen. Auf der Seite vergangene Prognosen können die Vorhersagen mit den tatsächlichen Ergebnissen verglichen werden. Leider fehlt ein Vergleich mit den Prognosen der wissenschaftlichen Profis.
Beim Social Forecasting, schreibt ClaudiaThurner–Scheuerer auf PWM, wird das relevante Wissen nicht in Textform, sondern in Zahlen umgewandelt. Dieser Crowdsourcing-Ansatz wird u.a. bei Absatzprognosen und zur Schätzung des Potentials neuer Produktideen eingesetzt. So nutzen bereits einige Unternehmen Social Forecasting, um ihre verkauften Mengen besser vorherzusagen. Ebenso können strategische Trends quantitativ besser beurteilt werden, als mit traditionellen Orakelmethoden.
Social Forecasting kombiniert Crowdsourcing mit einem Anreizmechanismus. Die herrschende Meinung ist überzeugt, die Qualität der Prognosen hänge insbesondere von folgenden Faktoren ab:
- Die Marktteilnehmer müssen einen Vorteil erzielen können (das muss nicht immer echtes Geld sein). Nur wenn entsprechende soziale oder monetäre Belohnungen bestehen, haben die Marktteilnehmer einen echten Anreiz, “überlegene” Informationen auch wirklich zu nutzen.
- Idealerweise sollte die Höhe des Einsatzes nicht begrenzt sein. Preise in Vorhersagemärkten repräsentieren nicht nur den Durchschnitt von Meinungen, sondern haben noch eine zusätzliche Korrekturfunktion, wenn Mitspieler mit ihren Prognosen daneben liegen. Teilnehmer, die es besser wissen als andere, könnten bei entsprechend günstigen Quoten hohe Summen auf ihren Favoriten setzen und so dafür sorgen, dass sich der Kurs an die tatsächliche Sachlage besser anpasst. Dazu dürfen die Einsätze aber nicht begrenzt sein.
- Es muss eine ausreichende Anzahl von Marktteilnehmern zum Handel bereit sein. Sind zu wenig Marktteilnehmer bei einer Vorhersage aktiv und liegen die Angebotspreise weit von den Nachfragepreisen entfernt, dann kommt kein Handel zustande und man erhält keinen Preis für eine Vorhersage. Der Geschäftsführer und Gründer von Crowdworx, AleksandarIvanov, verriet in einem Telefongespräch, ab etwa 30 regelmäßig aktiven Teilnehmern können man mit gute Vorhersagen rechnen.
Die Nähe von Vorhersagemärkten zu Glückspielen mag eine Ursache dafür sein, dass dieses Instrument in Deutschland noch nicht so verbreitet ist. Das ändert sich freilich für verschiedenste Prognoseanwendungen (dazu mehr im 2. Teil). Der Unterschied im Vergleich zu reinen Glückspielen liegt auf der Hand. Die Informationen über den Ausgang eines künftigen Ereignisses sind ungleich verteilt. Einige sind besser informiert (bzw. glauben besser informiert zu sein) und können ihren Informationsvorsprung an Vorhersagebörsen zu Geld oder andere Formen der Belohnung wandeln. Treten die gut Informierten mit Preisangeboten an den Markt, dann machen sie ihr bisher vertrauliches Wissen öffentlich. Daher werden die Preise an Vorhersagemärkten auch als guter Indikator für zukünftige Ereignisse angesehen. Genau genommen spiegeln sie aber nur das heutige Wissen bzw. Vermutungen über zukünftige Ereignisse wider. Der Preis, so die Theorie, bündelt die Informationen aller Marktteilnehmer. Er enthält damit sozusagen eine aggregierte Prognose.
Während die Vorhersagemärkte mit reinen Glückspielen wenig zu tun haben, ist die Nähe zu Wetten unbestritten. Auch hier versuchen die Wettenden überlegene Informationen zu Geld zu machen. Allerdings funktionieren die Vorhersagebörsen anders als klassische Wettbüros. Bei einem Wettbüro setzt der Anbieter eine Quote fest, nach der sich die Wettteilnehmer zu richten haben. Auf Vorhersagemärkten stellt der Anbieter nur die Plattform zur Verfügung und sorgt für die vereinbarungsgemäße Abwicklung und vor allem Abrechnung.
Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker sah in seinem Blog Vorhersagemärkte in der Nähe von Derivatebörsen angesiedelt. Wenn jemand einen Future auf den S&P 500 kauft, dann wettet er im Prinzip darauf, dass der durchschnittliche Aktienkurs steigt. Preisbewegungen in diesen Märkten bilden im Ergebnis auch nur die aggregierten Erwartungen der Marktteilnehmer ab.
Im zweiten Teil dieser Reihe schaue ich auf Anwendungen für die Wirtschaftspraxis, im dritten Teil gibt es ein paar Informationen zur Umsetzung und im vierten Abschnitt betrachte ich weitere Anwendungsgebiete auch im Finanzsektor.
Lesehinweise
In meinem Blog habe ich bereits zahlreiche Artikel veröffentlicht zur Prognosequalität von Fachleuten. Jeder Artikel enthält zahlreiche Beispiele und Literaturhinweise. Hier eine Auswahl. Außerdem gibt es im Blog ein Übersichtsseite VorhersageundAnalyse, auf der ich verschiedene Beiträge verlinkt habe. In Teil 2 wird es außerdem eine weitere ausführliche Literaturliste geben:
DieÖkonomiederdüsterenSchlagzeilen: WolltIhrdentotalenZusammenbruch? (9.12.12)
JerenommierterderFachmann, destoschlechterdiePrognoseoderimProphetengeschäftgibteskeineQualitätskontrolle (27.5.11):
Forbes: WhyMostPredictionsAreSoBad – Andwhatisactuallybeingdoneaboutit (17.3.11):
WhataOptimismus: DiePrognosenundAnekdotender “Experten” für 2011 (3.1.11)
DasComebackderPrognostikerundihrerKonjunkturprognosen (7.12.10)
WiedieProphetenderÖkonomiedanebenliegen (2.9.10)
RobertShillerüberdieSchwächenvonPrognosenundfünfenttäuschendeJahre (17.4.10)
Außerdem
RobertShiller: EineVerständniskrise: ÜbermangelhafteVorhersagenvonÖkonomen (12.3.10)
Ich erwähne übrigens Aleksandar Ivanov in dieser Beitragsserie häufiger, weil er in Deutschland zu den Fachleuten auf dem Gebiet des Social Forecastings gehört. Wir haben uns ausführlich zu praktischen Anwendungsmöglichkeiten unterhalten und er hat mich mit weiterem Material versorgt hat. Crowdworx ist freilich nicht der einzige Anbieter von Social Forecastingservices in Deutschland. Auch Kenforxist hier für den Unternehmenssektor aktiv und CrowdPark eher spielerisch. Und international gibt es neben dem im Blick Log häufiger zitierten Vorhersagemarkt Intradenoch diverse Akteure, wie z.B. Consensuspointoder Crowdcast (weitere Hinweise gern in den Kommentarfeldern).
[1] Da der Median Ausreißer untergewichtet, ist er der geeignetere Wert für solche Schätzungen.
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